Sollen die Arbeiterlieder singen?

Die Rap-Szene der französischen Vorstädte zwischen Integrationsforderungen und Identitätspolitik.

Assa, Karim und Moussa leben im 18. Pariser Arrondissement, direkt an der nördlichen Peripherie. Man sagt, wer in diesem Viertel an der Metro-Endstation wohnt, geht mit minimalen Chancen ins Leben, denn mit dieser Adresse findet einer nur schwer einen Job, und ohne einen Job nur schwer eine andere Adresse.

Im örtlichen Jugendzentrum des Viertels Clingancourt ist es ruhig. Nur auf dem Flachdach arbeiten schwitzend einige WorkcamperInnen aus dem Ausland, die ihre Ferien auf diese Art verbringen. Eigentlich wollten sie hier die berühmt-berüchtigte französische Vorstadtjugend kennenlernen, doch die zeigt keinerlei Interesse daran, mit den Gästen das Haus zu renovieren.

Vielleicht hätten sie es mal mit Rap probieren sollen, denn die "Spezialerzieherin" Laurence hat gute Erfahrungen gemacht mit einem einjährigen Rap-Atelier für "schwierige" Jugendliche, zu denen auch Assa, Karim und Moussa gehörten. "Rap ist nicht umsonst nur in den USA noch populärer als hier", sagt sie. "Probleme in der Schule, mit den Eltern, Arbeitslosigkeit, Drogen, Gangs - es ist viel, was diese Kinder durchmachen. Um an sie ranzukommen, war der Rap die einfachste Lösung, der gehört hier zum Alltag."

Ein aus Algerien stammender Kollege von Laurence hält Rap hingegen für ein Grundübel. Rap trägt für ihn dazu bei, daß sich die Marginalisierten weiter ausschließen. Er nennt es den "Teufelskreis der Marginalisierung", der den Blick auf grundsätzlichere Probleme verdecke. "Guck dir doch nur Algerien an. Sie erheischen deine Aufmerksamkeit. Dann bist du in einem Ritus gefangen, den sie mehr und mehr ideologisch füllen, und dann steht da am Ende so was wie die Islamisierung. Oder Farrakhan in den USA. Ist das etwa gut?"

Allerdings ist der französische Rap von Farrakhan ungefähr soweit entfernt wie vom Klu-Klux-Klan. Zwar orientierten sich die ersten französischen Rap-Bands zunächst am US-Vorbild, doch diese erste Welle verebbte Mitte der achtziger Jahre. Als der Rap 1990 zurückkehrte, hatte er nichts mehr mit der Geschichte einer "Rasse" oder eines "Volkes" zu tun und war nicht länger die Musik der schwarzen Ghettos, sondern geprägt durch die Heterogenität der Banlieues. Der Name der Band Alliance Ethnik ist Programm.

Bei ihrem Rap-Projekt habe sie, wie Laurence zugibt, im Rap zunächst nur ein Mittel zum pädagogischen Zweck gesehen, sich mittlerweile aber umorientiert. In der Tat findet der Rap einen direkteren Zugang zu den alltäglichen Problemen in den Vierteln als der in den letzten Jahren in Mode geratene roman-beur oder der film-banlieue. Dabei stützt sich der Rap auf eine breite subkulturelle Basis aus eigener Sprache, Symbolik, Kleidung und Haltung der Jugendlichen.

Einer von ihnen ist Maka, 23, ein Rapper aus dem Viertel. "To rap" heißt zwar eigentlich "schwatzen" oder "quasseln", doch Maka ist eher wortkarg, was sich auch in seinem Urteil über IAM, die seit Jahren angesagteste Formation aus Marseille niederschlägt: "Die sind zu abgehoben. Die reden zuviel." Sein Urteil trifft den mythisch-prosaischen Stil von IAM, selbst wenn sie sich, wie sie sagen, "als Reflex einer härter gewordenen Wirklichkeit", dem Alltagsleben wieder angenähert haben. Von der Realität würde Maka nur zu gerne etwas Abstand gewinnen, vor allem von seinen "kleinen Scheißjobs" und dieser ganzen "Galeere".

Ein Bekannter von ihm hat ein Studio, und da will er seinen großen Wurf landen. "Ich bringe alles auf einmal raus", erzählt er. "Nicht mehr hier ein Lied singen, da ein Lied singen. Alles auf einmal. Anders funktioniert es nicht."

Maka ist nicht unzufrieden, sondern wütend und ungeduldig und deshalb ein Fan von NTM. Das Kürzel steht für "Nique ta mère", was dem angelsächsischen "Fuck your mother" entspricht. Die Gruppe aus der nahen Banlieue-Stadt Saint-Denis ist die Referenz für französischen Hardcore-Rap. "Die sind gut. Die sind von hier. Paris. Saint-Denis. Die kenne ich. Das ist nicht so künstlich, so kompliziert wie IAM. Die sagen einfach die Wahrheit."

Ihr Titel "La police", in dem heißt "Gib mir die Kugeln für die Stadtpolizei / gib mir 'ne Knarre / Fick die Polizei", brachte NTM sowohl den Platz eins auf der Feindesliste extrem rechter Zeitungen als auch Ärger mit der Justiz in der vom Front National regierten Stadt Toulon ein. Die Anklage: "Aufruf zum Polizistenmord ohne Folgen", begangen während eines Konzerts 1995. Das Urteil: drei Monate Haft und sechs Monate Auftrittsverbot für die beiden Sänger.

Ungestraft dagegen kam die Oi-Band Fraction Hexagon davon, die in einem Lied fordert: "Eine Kugel für die Zionisten, eine Kugel für die Kosmopoliten, eine Kugel für die Yankees, eine Kugel für die Abgeordneten, eine Kugel für die P" (P für Polizei).

Nachdem die Justiz einmal auf den Rap aufmerksam geworden war, folgten weitere Urteile gegen Bands. "Die Leute hören nicht unsere Texte und treten in Aktion", verteidigte sich NTM. "Die Aktion findet vorher statt, sonst gäbe es keine Texte." Außerdem versprachen sie, frei nach Martin Luther Kings "I have a dream": "Wer uns ins Gefängnis stecken will, der sollte schon mal größere Zellen bauen, denn nach uns kommen viele andere."

Einer von ihnen könnte Maka sein. Und weil er es gerne deutlich mag, fällt sein Urteil über MC Solaar, den häufig sogar als "Dichter" bezeichneten Wortvirtuosen unter den französischen Rappern, eher zwiespältig aus: "MC Solaar betrügt. Der ist zu intelligent für einen Rapper. Das Leben ist keine Poesie." Befragt nach Kamara, einem Rapper aus dem Viertel, sagt er nur, daß er "den" "ganz bestimmt nicht sehen" will. Warum? "Ach, das ist eine andere Generation." Der 17jährige Kamara liefert am nächsten Tag eine andere Erklärung: "Wenn ich es nicht schaffe, dann sollst du es auch nicht schaffen. So ist das." Nicht nur hier. Viele bekannte Gruppen pflegen untereinander ihre Feindschaften.

Kamara und der zwei Jahre ältere Didier, beide kommen von den Antillen, sind die Sänger von 18ème Coup de feu. Kamara meint, er finde sich in allen Rap-Gruppen "ein bißchen wieder", NTM ist ihm aber "zu gewalttätig". "Die sollten lieber singen: 'Kümmert euch um die Kinder' als: 'Fick die Polizei', auch wenn das kaum zu trennen ist", meint Didier, und Kamara ergänzt: "Wir denken selbst, bevor wir irgendwas kaputthauen." Ähnlich diplomatisch äußern sich auch die Mitglieder prominenter Gruppen, sie beschreiben sich in der Regel als Chronisten, Lehrer oder "Lautsprecher" der Banlieues, aber nicht als Anführer.

Die oft beklagte Kommerzialisierung der HipHop-Kultur stört Kamara und Didier wenig: "Wir haben die Mode gemacht. Solange wir was machen, ist es Mode. Unsere Mode. Geld ist überall. Da ist nichts zu machen. Aber es ist eine nützliche Mode, und so bleibt die Sache am Leben und kann sich entwickeln." US-Rap halten sie für "gut tanzbar", aber ansonsten "versteht man da ja nichts, das ist nicht so interessant, das bringt nichts."

Wenn einige Gruppen Themen wie Algerien und Bosnien aufgreifen, so ist das zwar in Ordnung, stößt aber nur auf geringes Interesse: "Wenn ich meine eigenen Probleme habe, dann brauche ich das nicht auch noch. Das ist alles zu weit weg", meint Kamara. So finden er und Didier, wie die meisten Rapper, ihre Themen buchstäblich auf der Straße. Letztlich geht es "um die Probleme bei uns im Viertel, um unsere Probleme. Alles auf einmal ändert sich sowieso nicht, auch wenn es die einzige Möglichkeit wäre."

Die Hoffnung auf Änderung scheinen wenige zu haben. "Geschäfte und Geld. Das zählt", so Kamara. "Die Jungen sagen sich, lieber schnell ins Geschäft kommen und Kohle machen als zu studieren und dann arbeitslos zu sein. Das erzählen dir schon zehnjährige." Deutschen Rap kennen sie nicht. Kamara fällt nur ein: "In Deutschland gibt's doch viele Türken. Rappen die nicht?"

Saint-Denis, nördlich von Paris, ist das Zentrum der französischen HipHop-Kultur. Von den hiesigen 160 Rap-Formationen sind nur fünf Frauencombos. So antirassistisch der französische Rap ist, so machistisch ist er häufig.

In einer Bar treffe ich Kader, einen nach eigenen Worten "Multifunktionär" in Sachen Jugendkultur, und Florence von der Ortsgruppe des antifaschistischen Netzwerks Ras l'front (Schnauze voll vom Front National). Kaders letztes Projekt hat zwanzig Sprayer aus aller Welt zusammengebracht, die im naheliegenden Stadion "Nelson Mandela" 200 Meter Mauer zugesprüht haben. Stolz berichtet er von seinem Kampf gegen die Behörden: "Die wollten erst gar nicht, und dann wollten sie die Motive vorschreiben. Als ob man von Picasso verlangt hätte: Das machst du so und so. Dann ist man kein Künstler, das ist nicht mehr authentisch."

1990 waren für Kader noch alle "authentisch", die DJs, die Sprayer, die Rapper und die Breakdancer. Die Prognosen waren hingegen ziemlich negativ: "Alle haben gesagt, das wird nicht laufen. Zwei Jahre, fünf Jahre, maximal. Und jetzt wird es immer mehr, immer vielfältiger." Tatsächlich ist die HipHop-Kultur keineswegs so homogen, wie sie häufig dargestellt wird, aber es gibt inhaltliche Gemeinsamkeiten. Ihre Stücke unterscheiden sich eher in Sprache und Stil. "Alle Banlieues ähneln sich, sie sind irgendwie gleich", begründet Kader. "Marseille, Nantes, Paris oder Lille, da gibt es keinen Unterschied. Das sind die gleichen Sachen, sie haben den gleichen Werdegang, die gleichen Erfahrungen, die gleichen Probleme, die gleichen Themen, die gleichen Forderungen. Manche sind nur etwas fortgeschrittener in der Wahrnehmung der Sachen. Sie fordern mehr von sich, und deswegen auch mehr von anderen."

Die gesellschaftliche Themen wie Rassismus, Arbeitslosigkeit oder Gewalt werden in erster Linie anhand von konkreten Alltagserlebnissen behandelt, und die Stücke gehen häufig nicht über die Darstellung des Problems hinaus. Wie beherrschend diese Methode ist, zeigt sich nicht zuletzt an den wenigen ausdrücklich als politisch deklarierten Platten. Dazu gehören vor allem der kürzlich erschienen Sampler "Le cercle rouge" (Der rote Zirkel) der Produktionsfirma gleichen Namens sowie deren von zwanzig französischen Rappern zu Weihnachten 1997 eingespielte CD zur (finanziellen) Unterstützung des Mouvement de l'immigration et des banlieues (MIB - Bewegung der Einwanderer und der Banlieues, Jungle World, Nr. 34/98). Der Titel der CD "11'30''contre les lois racistes" (11 Minuten 30 gegen die rassistischen Gesetze) bezog sich auf die Ausländergesetzte der Innenminister Joxe, Debré und Pasqua.

HipHop-Kultur hat keinen geschlossenen Gegenentwurf zu bieten, wie ihn der "politische Chanson" der fünfziger und sechziger Jahre mit seinen kommunistischen Vertretern im Hintergrund kannte, und er unterscheidet sich ebenfalls maßgeblich von den "chansons immigrées" aus den sechziger Jahren, die von nostalgischen Anwandlungen und dem Motiv einer möglichen Rückkehr in das Herkunftsland geprägt waren.

Für die in Frankreich geborenen oder aufgewachsenen Einwanderergenerationen gibt es kein Zurück mehr. Ohne den Glauben, die Politik irgendwie ändern zu können, beschränken sich die Bands darauf, die Jugendlichen aufzurütteln.

Damit sind die Grenzen des HipHop markiert. "Sie bezeichnen reale Probleme, und sie versuchen kleine Lösungen aufzuzeigen", meint Kader. "Das bringt nicht wirklich weiter, und es bleibt in erster Linie Denunziation. Aber was sollen sie sonst machen? Arbeiterlieder singen?"

Vom Standpunkt der Aktivistin sieht Florence das anders: "Wirklich engagierte Gruppen im politischen Sinn gibt es nicht. Sie kümmern sich zwar mal um Probleme in Algerien oder den FN. Manche sind ein bißchen politischer als die anderen, wie Assassin, ein bißchen radikaler. Aber ich glaube, es ist trotzdem nur Denunziation. Das sind keine Leute, die du in den Kämpfen wiederfindest." Obzwar einige lokale Bands auf Ras l'front-Festen auftreten, sieht sie im HipHop eher eine "Bewegung von Individuen" als eine "kollektive Bewegung".

Eine Kritik, die Kader gelten läßt: "Im Moment gibt es eben mehr Klagen als Taten. Es gibt wirkliche Probleme, aber selbst die Leute, die sie haben, bewegen sich nicht, weil sie das Bild von sich übernehmen, das die Journalisten von ihnen produzieren." Außerdem fragt sich Kader, ob die Jugendlichen nicht auch "kulturell beherrscht" würden, wenn sie sich die für sie unbezahlbaren Sportschuhe in den Schaufenstern "einfach nehmen". Eine zerschlagene Glasscheibe sei da als Zeichen doch gar nicht mehr so weit von Graffiti entfernt. Über Graffiti hat Kader ohnehin seine eigenen Ideen: "Du denkst, das ist modern. Quatsch. Das ist die älteste aller Künste. Was meinst du, wie die Höhlenzeichnungen entstanden sind? Mit Pinseln? Die haben Farbpigmente in den Mund genommen und dann geblasen, geprustet. Menschen zeigen, daß es sie gibt. Sie hinterlassen öffentliche Zeichen."

Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird der Tanz. Im Haus der Jugend von Saint-Denis probt bei 37 Grad im Schatten die seit 1984 existierende Formation Force Aktuel. Acht Stunden täglich, fünf Tage die Woche. Im Raum herrscht diese Art sportlich-schweißgebadeter Atmosphäre, in der keine Zigarette mehr schmeckt. Kein Wunder, daß sie seit drei Jahren erfolgreiche Profis sind und mittlerweile in Japan, den USA und Deutschland Auftritte haben. Daß sie immer noch im kleinen Raum in Saint-Denis trainieren wie ehedem, erklärt Gabin damit, daß man nicht "nicht den Kontakt verlieren" dürfe.

Gabin, der 32jährige Cheftänzer, gilt als HipHop-Urgestein. Tatsächlich scheint es ihm eher ums Grundsätzliche zu gehen. Man spreche immer davon, "daß der Geist gefangen ist", so Gabin. Natürlich gebe es immer Konditionierung, aber die Emotionen seien wichtiger. "Es geht darum, mit ihnen die Konditionierung zu überwinden, aufzuwachen", meint Gabin. "Das macht die HipHop-Kultur zum grenzangreifenden Faktor."

So geht es der französischen HipHop-Bewegung darum, dem prinzipiellen Integrationswunsch der jüngeren Einwanderer Rechnung zu tragen und gleichzeitig ein gewisses Anderssein, eine praktizierbare Identität irgendwo zwischen "französisch" und "fremd" zu kultivieren. Deshalb klingt es plausibel, wenn Gabin erklärt: "Diese Art zu denken war wie gemacht für die Leute hier, um sich überhaupt in irgendwas wiederzuerkennen und so erstmal mit dem Denken anzufangen. Denn es ist das gleiche im Leben wie in der Kunst. Es ist besser, vorher zu denken und nicht einfach 'Scheiße' zu sagen und irgendwas zu machen. Wenn die HipHop-Kultur dazu was beträgt, dann ist das schon viel. Oder?"