Bis zur letzten Kopeke

Der Kollaps als Normalzustand: Rußland kann seine Schulden nicht begleichen und steht vor einem Hungerwinter

Gebannt werden russische Politiker und Finanzexperten in der vergangenen Woche auf Nachricht aus Wien gewartet haben. Dort trafen sich die Abordnungen der Organisation erdölexportierender Länder (Opec), um über ihre Förderquoten zu beraten. Das Ergebnis der Beratungen war dazu angetan, den Russen das Herz noch weiter sinken zu lassen: Es wird weiter soviel Öl verkauft wie bisher, lautete das Ergebnis aus der österreichischen Hauptstadt.

Was das für Rußland bedeutet, läßt sich leicht ausmalen, wenn man sich die Finanzen des Landes ansieht: Etwa ein Fünftel des Bruttosozialprodukts wird in der Ölindustrie erwirtschaftet und versorgt so den Staat mit einem Viertel seiner Einnahmen. Sinkt der Ölpreis, trifft das die ohnehin nah am Zusammenbruch balancierende Wirtschaft ins Mark. Bekamen die russischen Exporteure im Oktober 1997 noch 35 Mark pro Barrel (Faß) Rohöl, ist der Preis jetzt auf etwa die Hälfte gesunken. Weil nun in Wien das Angebot nicht eingeschränkt wurde, aber vor allem durch die Krise in Asien die Nachfrage nachläßt, prognostizieren Marktbeobachter bereits einen Barrelpreis von zwölf Mark. Für Rußland ein Horrorszenario, denn der gerade ins Parlament eingebrachte Haushalt für 1999 kalkuliert mit etwa 18 Mark je Faß und entsprechenden Steuereinnahmen.

Doch das ist nur einer der Verhandlungsorte, von denen russische Politiker Depeschen mit schlechten Nachrichten ereilen. Ohnehin wird Politik für Rußland im Moment überall gemacht, nur nicht in Rußland selbst. Seit Wochen sitzen nun schon russische Delegationen in London und Paris mit Abordnungen privater Banken und staatlicher Geldgeber zusammen, um über eine Lösung der Schuldenkrise zu verhandeln. Den Banken, die sich im sogenannten Londoner Klub zusammengetan haben, schuldet die Russische Föderation insgesamt etwa 31 Milliarden Mark. Etwa 1,2 Milliarden Mark werden eigentlich in dieser Woche fällig, nachdem am 17. November das Moratorium ausgelaufen ist, mit dem die russische Regierung im August kurzerhand die Bedienung aller Auslandsschulden ausgesetzt hatte. Aber auch jetzt ist das Land immer noch zahlungsunfähig.

Zwar haben die privaten Kreditgeber unter Vorsitz der Deutschen Bank die Daumenschrauben mit der Drohung angezogen, alle Guthaben russischer Banken im Ausland gerichtlich zu beschlagnahmen, wenn die Schulden nicht bedient werden. Doch sitzt die Delegation aus Moskau beim Katz-und-Maus-Spiel um den Londoner Verhandlungstisch im Moment noch am längeren Hebel, denn das Land könnte sich einfach ein weiteres Mal für zahlungsunfähig erklären. Rücksicht auf einen Vertrauensverlust im Ausland braucht schließlich niemand mehr zu nehmen. Daher akzeptierte der Club of London zähneknirschend nun das Angebot, die Außenstände ein weiteres Mal in neue Staatsanleihen umzuschulden.

Doch ist den russischen Marathon-Unterhändlern keine Pause gegönnt. Der gerade von der Regierung Primakow vorgelegte Haushalt für 1999 macht deutlich, daß kein Geld in der Kasse sein wird, um die anderen Londoner Klub-Raten in Höhe von knapp 30 Milliarden Mark zu bezahlen, die im kommenden Jahr fällig werden. Ob es den Finanz-Jongleuren bei dieser Summe gelingen wird, alle Bälle in der Luft zu halten, wird sich zeigen.

Überhaupt könnten die ausländischen Banken von Glück reden, daß ihnen an den Verhandlungstischen überhaupt jemand gegenübersitze, bemerkte dazu die nicht gerade staatsfreundliche Moscow Times. Schließlich sei es keine Selbstverständlichkeit für Rußland gewesen, die Schulden der untergegangenen UdSSR zu übernehmen. Bei der alten Regierung habe es sich doch nicht um eine demokratische gewählte und somit bei den Schulden auch nicht um "Schulden des Volkes" gehandelt. Den Präzedenzfall dafür hätten die Vereinigten Staaten geschaffen, als sie sich nach der Eroberung Kubas im Spanisch-Amerikanischen Krieg weigerten, die Außenstände des Landes zu begleichen. Daß sich Präsident Boris Jelzin eine vergleichbare Argumentation nie zu eigen gemacht habe, sei das Glück der westlichen Kreditgeber, denen es deshalb bei Umschuldungen der UdSSR-Kredite durchaus gut zu Gesicht stünde, klein beizugeben.

Von derartigen Diskussionen bleiben die Bürgerinnen und Bürger des Landes eher unberührt. Bankgeschäfte abzuwickeln bedeutet für diejenigen, die vor der Rubelabwertung Geld auf einem Konto hatten, sich jeden Tag in die Schlange vor dem Kassenschalter einzureihen, um sich die 1 000 Rubel, etwa 85 Mark, auszahlen zu lassen, die sie täglich abheben dürfen. Bei einer Inflationsrate von 30 Prozent können sie den Wert ihres Geldes täglich schwinden sehen. Und die Kunden, die Devisen zur Bank gebracht hatten, statt sie im Kopfkissen einzunähen, bekommen nun Rubel ausgezahlt, die gegenüber Dollar und Deutscher Mark nur noch rund ein Drittel wert sind.

Dabei können sie sich noch glücklich schätzen gegenüber denen, die sich eine der Banken ausgesucht hatten, die demnächst ihren Bankrott erklären müssen. Diese Sparer werden von ihren Guthaben wahrscheinlich keine Kopeke wiedersehen. Etwa 720 Kreditinstitute gehören zu dieser Gruppe, die auf der Liste des Finanzministeriums in der Spalte "fallenlassen" aufgeführt sind. Daneben gibt es noch diejenigen, die keine oder nur wenig finanzielle Hilfe benötigen, und die, die zu groß sind, um pleite gehen zu dürfen.

Achtzehn Namen sollen auf dieser Liste stehen, doch bisher hat sich der stellvertretende Zentralbankchef Andreij Koslow nicht hinreißen lassen, sie auch zu nennen. Hinter den Kulissen soll heftig um einen Platz im staatlichen Rettungsboot gerangelt werden, denn jetzt geht es ums Ganze. Im Gegensatz zu früheren Krisen fallen die Kreditinstitute, die sich heillos mit dem Geld ihrer Anleger auf den Aktien- und Anleihenmärkten verspekuliert hatten und nun nicht aufgefangen werden, dieses Mal tatsächlich ins Bodenlose, und auch die Zugehörigkeit zur Gruppe der Größten ist keine Garantie für staatliche Hilfe. Erstes Beispiel war die Inkombank, unter den ersten zwanzig der russischen Kreditinstitute. Sie hat Konkurs erklärt, nicht ohne daß ihr Chef Wladimir Winogradow erbost staatliche Stellen beschimpfte: Seine Firma müsse nur über die Klinge springen, weil sie nicht - wie viele seiner Konkurrenten - über ein Medienimperium verfüge, mit dem sie Druck auf die Regierung ausüben könne.

Pech für seine Kunden: Sie wird es nun noch härter treffen, daß sich die Preise für Lebensmittel - mehr als die Hälfte werden importiert - seit dem Sommer verdoppelt haben und in vielen Krankenhäusern die Medikamente ausgehen, weil auch sie aus dem Ausland kommen. Besonders arm sind wie immer die Rentner; ihre ohnehin dürftigen Pensionszahlungen sind statistisch gesehen um 42 Tage im Rückstand.

Dabei geht es den Menschen in den großen Städten wie Moskau und Sankt Petersburg noch vergleichsweise gut, in kleinen Provinzgemeinden des Riesenlandes kommen häufig weder staatliches Geld noch Güter in ausreichender Menge an. Schon wird ein erneuter Hungerwinter befürchtet, unter anderem deshalb, weil die Getreideernte so schlecht ausgefallen sei wie lange nicht mehr. Exportiert wurde dennoch. Wohin das Geld aus diesen Exporten geflossen ist, bleibt ein Geheimnis.

Profitieren können davon europäische Bauern. Vergangene Woche genehmigte die EU etwa 800 Millionen Mark für Lebensmittel-Hilfslieferungen. Mit dem Geld, das die Landwirtschaftsminister genehmigt haben und von dem ausschließlich EU-Erzeugnisse gekauft und nach Rußland geschickt werden, könne "ein Teil der durch die Rußlandkrise verursachten Absatzeinbußen wettgemacht werden", wie deutsche Zeitungen berichteten.

Die deutschen Exporte nach Rußland, die keine zwei Prozent des Gesamtexports ausmachen, sanken in diesem Jahr um rund 17 Prozent. Gut, daß einiges davon jetzt ausgeglichen wird, sonst hätte in Deutschland in diesem Winter wohl noch jemand gefroren.