Der Künstler-Ingenieur

Weltruhm erlangte Alexander Rodtschenko mit seinem fotografischen Werk. Die Düsseldorfer Kunsthalle widmet ihm eine Retrospektive und zeigt den Avantgardisten als Maler, Designer und Bühnenbildner.

Unter den bildenden Künstlern Rußlands unterstützten nur die, die sich der Avantgarde zurechneten, die Oktoberrevolution. Sie, die gegen die etablierte Kunstauffassung rebellierten, fühlten sich jenen politischen Kräften verbunden, die das ganze Gesellschaftssystem als überkommen ansahen. Darüber hinaus einte Modernisten und Kommunisten ein fast eschatologischer Glaube an die Möglichkeiten von Technik und Wissenschaft, die menschlichen Verhältnisse grundlegend umzugestalten. Eine tiefergehende ideologische Übereinstimmung bestand vielfach nicht.

Trotzdem überdauerte das Bündnis zwischen Avantgarde und Revolution, getragen vom Enthusiasmus der Anfangstage, sowohl den Pragmatismus der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) als auch den Machtwechsel von Lenin zu Stalin sowie andere Fährnisse. Offiziell endete das Bündnis erst 1934, als die Partei den Sozialistischen Realismus zur verbindlichen Kunstdoktrin ausrief.

Wie die westeuropäischen Maler beschäftigten sich zu Anfang des Jahrhunderts auch die russischen Künstler zunehmend mit denen ihnen zur Verfügung stehenden Gestaltungsmitteln. Die Farbe, der Raumeindruck und die Fläche standen im Zentrum der Arbeit; die Repräsentation der sichtbaren Welt wurde hingegen als bloße Illusionsmalerei abgelehnt. Bei der "Letzten Futuristischen Ausstellung 0,10" schockierte Malewitsch Publikum und Kritik mit seinem "Schwarzen Quadrat".

Es war eine Absage an den dekorativen Gebrauchswert der Kunst und durch die Wahl der Nicht-Farbe Schwarz und der "objektiven", abstrakt-geometrischen Form des Vierecks auch eine Selbstdemontage des Künstlers als irdischer Schöpfergott. Forscher sollte der Maler statt dessen sein. Alexander Rodtschenko malte um 1918/19 eine Reihe von Schwarz in Schwarz gehaltenen Bildern, die die Oberflächenstruktur der Farbe, die Faktur, zum eigentlichen Thema hatten. Nur durch die unterschiedliche Beschaffenheit des Farbauftrags hoben sich die geometrischen Figuren voneinander ab. Technisch-schlicht "Komposition" betitelt und mit fortlaufenden Nummern versehen, gaben die Werke sich den Charakter einer Testreihe. Eine andere Grundstruktur der Gestaltung, die Linie, untersuchte Rodtschenko systematisch in mit Lineal und Zirkel angefertigten Zeichnungen.

Daß die Malerei mit der Erforschung ihrer Grundlagen in ein Endstadium eingetreten sei, gab den Künstlern allerdings erst die Revolution ein, indem sie ihnen eine neue Aufgabe stellte: Die Umgestaltung der Welt. Rodtschenko malte 1921 mit "Rot, Gelb, Blau", einer Bilderserie mit den plan aufgetragenen drei Grundfarben, einen endgültigen Abgesang auf die Staffelei-Kunst. Die Moderne hatte mit ihrem Reduktionismus die Grundstrukturen künstlerischen Gestaltens herausgearbeitet, jetzt galt es, aus diesen Elementen etwas Neues aufzubauen, die Malerei aus der Sphäre der spekulativen Tätigkeit in den Bereich der realen Tat zu überführen, wie Kusner es formulierte. Und Sergej Lutschischkin frohlockte: "Wenn es Koordinaten zur Vermessung der Fläche gibt, dann muß es auch Koordinaten ihres Kompositionsaufbaus und Koordinaten ihrer Massenkorrelation geben".

Davon beflügelt machte sich Rodtschenko an erste "Raumkonstruktionen". Die filigranen Objekte waren zumeist aus Industriematerialien mit standardisierten Abmessungen gefertigt und erprobten neuartige, systematische Tektoniken. Schritt für Schritt ging es von der Grundlagenforschung über die Entwicklung von Modellen zur Schöpfung des sozialistischen Gesamtkunstwerks. Kunst, das war nun die höchste Form der "Ingenieurisierung des ganzen Lebens", das Kunstwerk selber mutierte zum "Ding", dessen Schönheit in seiner Nützlichkeit und Verfügbarkeit bestehen sollte.

Der Künstler schließlich wurde "zum Erfinder neuer Systeme mit objektiver Bedeutung", so der Maler Igor Nikritin. Werkstätten, deren Aufgabe es war, dies alles in die Praxis umzusetzen, entstanden im ganzen Land, womit auch die Forderung der Avantgarde nach einer Dezentralisierung und Enthierarchisierung des kulturellen Lebens erfüllt wurde.

In Petrograd nahm die GINChUK, das staatliche Institut für künstlerische Kultur, den Betrieb auf, in Moskau die INChUK und die Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätte WChUTEMAS. Rodtschenko lehrte an diesen Institutionen ebenso wie auch Malewitsch, El Lissitzky, Tatlin oder Wassily Kandinsky. Der leitende Kulturpolitiker der Sowjetunion, der Theaterautor Anatolij Lunatscharskij, sah in diesen Akademien Laboratorien zur Entwicklung einer sozialistischen Ästhetik.

Ein wesentliches Moment stand allerdings schon fest: die Fusion von Kunst und Technik. Das sozialistische Zeitalter des Kunstwerks im Zeichen der technischen (Re-)Produzierbarkeit läutete für Film und Fotografie sowie die angewandten Künste Hochphasen ein. Rodtschenko entwarf Buchumschläge, Plakate, Kleidung, Möbel und Firmenlogos. Gemeinsam mit Majakowskij bildete er eine kleine Werbeagentur, der im Zuge der NEP die Aufgabe zufiel, die staatlich produzierten Waren gegenüber den privatwirtschaftlich hergestellten konkurrenzfähig zu halten.

Bei einer von ihnen gestalteten Bonbonpapier-Serie prangten auf den Papieren Abbildungen von Straßenbahnen, Traktoren oder anderem technischen Gerät, die von Losungen aus Dichterhand wie "Hier, mit eben diesem Generator kann man Dinge versetzen und unserer mißlichen Lage abhelfen" umgeben waren. Ob dies beim neuen Sowjetmenschen wirklich ankam, ist unklar. Einige Kritiker monierten das Seelenlose, Sterile, Kalte der konstruktivistischen Entwürfe, die, wenn sie nicht gerade dem Technikgott huldigten, immer noch aus dem abstrakt-geometrischen Formenreservoir der Moderne schöpften. Eher dem V-Effekt als der Verführung verpflichtet, eignete sich der Konstruktivismus auch auf anderen Gebieten als dem des Verpackungsdesigns nur wenig zur Ideologie-Produktion.

Mitte der zwanziger Jahre wandte sich Rodtschenko dem technischen Medium der Fotografie zu. An ihrem dokumentarischen Wert war ihm allerdings nicht gelegen, er experimentierte mit Perspektiven, Komposition und Bildausschnitt. Hochstürzende Linien, Makroaufnahmen von technischem Gerät und die Abkehr vom rein Deskriptiven bestimmen sein fotografisches Werk. Seine 1930 entstandene Bildserie von einem Pionierumzug gibt nie das Festgeschehen als Ganzes wieder. Am Anfang dieser Reihe von Momentaufnahmen und Detailbildern steht ein Foto, das noch vor dem eigentlichen Ereignis aufgenommen ist und aus der Distanz der Vogelperspektive den Moment festhält, wo sich die Gruppe formiert.

Bei "Pionier mit Horn" ist der Bildaufbau graphisch-abstrakt. Von unten fotografiert, wirkt das Gesicht des Musikers wuchtig, verzerrt. Hinter seinem Kopf ragt ein Mast diagonal in den Himmel und "stößt" mit dem U-förmig geschwungenen vorderen Teil des Musikinstruments "zusammen". Die Wahl der Perspektive und des Bildausschnittes erschweren dem Betrachter die Orientierung: Diese Ästhetik sollte die scheinbar natürliche Ordnung der Dinge aufheben und eine dynamisch-dialektische Sichtweise fördern.

Mit der Zeit hatte es der konstruktivistische Ansatz zunehmend schwerer, sich zu behaupten. Man warf Rodtschenko Formalismus, Technophilie und mangelnden Proletarierkult vor. "Warum", fragte ein Kritiker, "schaut die Pionierin nach oben? Die Pionierin hat keine Veranlassung, nach oben zu schauen, das hat keinen ideologischen Inhalt. Pionierinnen und Komsomolzinnen sollten nach vorn schauen." 1932 wurde Rodtschenko aus der Fotosektion der Künstlergruppe ausgeschlossen.

Den ambitionierten Versuch, Kunst, Alltag und Politik zu verbinden, unternahm Rodtschenko mit dem Enwurf eines "Arbeiterclubs". Erstmals wurde der Prototyp 1925 im Russischen Pavillon der Pariser Ausstellung für Kunst- und Industriedesign gezeigt. Als konkrete Utopie entwarf dieser Raum eine "revolutionäre Freizeitgestaltung", ein Gegenbild zur weltvergessenden Gemütlichkeit des bürgerlichen Wohnzimmers. Der neue Sowjetmensch sollte auch nach der alltäglichen sozialistischen Aufbauarbeit nicht "Endlich ich!" rufen und sich ins Private zurückziehen, sondern seine Mußestunden der Welt zugewandt, sinnvoll und gemeinsam mit anderen verbringen.

Ein Ort der Sammlung, nicht der Zerstreuung möchte Rodtschenkos "Arbeiterclub" sein. Eine lange Tischbank mit leicht gebauten, hoch aufragenden Stühlen nimmt den Mittelpunkt ein. Fußstützen und eine zum Auflegen von Büchern abklappbare Tischplatte machen dem "lesenden Arbeiter" das Studieren angenehm. Zeitungs- und Zeitschriftenauslagen halten immer die aktuellsten Informationen bereit; ein Regal mit drei drehbaren Walzen präsentiert das neueste Fotomaterial. Ein Holzgerüst dient gleichzeitig als Rednerpult und Projektionswand für Filme und Dias, ein ausziehbares Seitenteil kann zur Befestigung von Proklamationen oder Plakaten genutzt werden.

Die Hälfte der hinteren Wand ist dem Andenken des 1924 gestorbenen Lenin gewidmet. Allerdings hatte Rodtschenko dabei keinen ehrfurchterheischenden Schrein im Sinn; ihm waren die überall auftauchenden, kitschigen Lenin-Devotionalien ein Greuel. Fotos aus der "vita activa" des großen Revolutionärs sollten statt dessen für ein lebendiges, der Praxis verpflichtetes Erinnern sorgen. Darüber hinaus konnte man dem Verstorbenen spielend Reverenz erweisen: durch eine Partie Schach, Lenins Lieblingsbeschäftigung in freien Stunden.

Mönchische Stille gebietet dieser Raum, alles ist auf Konzentration, Ernst und Sinn ausgerichtet. Die Stühle lassen keine andere als eine kerzengerade Sitzhaltung zu. Das aus einem Stück gefertigte Schachspiel aus Brett, Tisch und zwei Stühlen sperrt die Spieler regelrecht vor der Spielfläche ein. Wollte einer der beiden aufstehen, so mußte erst die Schachtischplatte hochgeklappt werden. Fast unnötig zu erwähnen, daß die Farbgebung der Inneneinrichtung keine dekorative, sondern eine ordnende Funktion hatte. Im Arbeiterclub mußte man sich mit ganzem Herzen jeweils einer bestimmten Sache widmen. Diesen Bestimmungen suchte das Inventar in seiner Flexibilität möglichst paßgenau nachzukommen.

Die "Polyfunktionalität" gehörte zu den wesentlichen Bestandteilen der konstruktivistischen Ding-Philosophie. Der Gegenstand präjudizierte so nicht einen bestimmten Sinn; er war vielmehr für mehrere Verwendungszwecke offen, was die Autonomie des Benutzers gegenüber dem Möbelstück erhöhte. Gelegentlich führte dies aber auch zu leicht spleenigen Entwicklungen wie einem Bett, das gleichzeitig als Sessel und Arbeitstisch nutzbar war. Alles im Arbeiterclub war leicht, ausziehbar, zusammenlegbar, transportabel und - da standardisiert - leicht ergänzbar. Dem damaligen Stand der Technik gemäß versuchte er, ein Höchstmaß an Multimedialität und Vernetzung zu bieten. So sollte der Raum immer mit den dynamischen Entwicklungen in der Welt und vor der Tür Schritt halten können.

Wie Rodtschenko seiner Frau Warwara Stepanowa aus Paris schrieb, schlichen sich schon während der Aufbauarbeiten immer wieder Russen hinter die Absperrung, um die ausliegenden Zeitschriften zu lesen. Nach dem Ende der Ausstellung wurde das Arbeiterclub-Interieur der französischen KP vermacht. In Serie ging der Prototyp allerdings nie. Mit dem "Sozialismus in einem Land" nach dem Ausbleiben der Weltrevolution und dem Kapitalismus im Sozialismus durch die Neue Ökonomische Politik (NEP) begann der revolutionäre Elan in der Sowjetunion, zunehmend dem Pragmatismus zu weichen.

Die sich rasch bildende NEP-Bourgeoisie delektierte sich wieder an Tafelbildern, während die hochfahrenden Gesamtkunstwerk-Pläne der Konstruktivisten am niedrigen technischen Niveau der Produktivkräfte scheiterten. Es war allerdings nicht die Partei, die den Avantgarde-Künstlern das Leben schwer machte. Der Kulturkampf wurde vielmehr von unten eröffnet. Die Staffelei-Maler sahen in Zeiten des "erweiterten Kulturbegriffs" ihre Felle davonschwimmen und organisierten sich. Es gelang ihnen, einflußreiche Institutionen wie die Rote Armee durch die Ausrichtung von Ausstellungen, deren Exponate größtenteils dem "heroischen Realismus verpflichtet waren, an sich zu binden und den von ihnen vertretenen Künstlern so Aufträge zu verschaffen. Immer wieder forderte ihr Verband die Partei auf, das kreative Chaos zu beenden und administrativ zu bestimmen, was "proletarische Kultur" sei.

1925 verschloß die Partei sich diesem Begehr noch, aber kulturpolitisch begann ein Schlingerkurs, der schließlich mit der Gründung eines einheitlichen Künstlerverbandes und der verbindlichen Ästhetik des sozialistischen Realismus endete. 1928 erfolgte eine Reform der künstlerisch-technischen Werkstätten, die sie stärker an die Industrieproduktion anband. Die Akademien verloren auf diese Weise ihren experimentellen Charakter, und der Direktor der WChUTEMAS, Novickij, sah eine Zeit des trostlosen normierten Alltagsdesigns anbrechen. Rodtschenko hingegen begrüßte die Umstrukturierung, wohl weil er größere Chancen für seine Ideen erhoffte. 1929 trat der liberale Kulturkommissar Lunatscharskij ab; 1930 schließlich nahm sich Rodtschenkos enger Vertrauter Majakowskij das Leben, nicht zuletzt aus Enttäuschung über die politische Lage.

Durch Stalins Beschluß, die NEP zu beenden, und den Beginn der Vorbereitungen für den Fünf-Jahres-Plan setzte aber auch ein kurzweiliger zweiter Frühling der Avantgarde ein. Zurück zu den Wurzeln, hieß die Losung, und die großen Projekte der beschleunigten Industrialisierung und der Kollektivierung der Landwirtschaft sollten von einem grandiosen "Kulturfeldzug" begleitet werden. Und dafür waren die universalistischen Konstruktivisten weit besser geeignet als die still im Atelier vor sich hin pinselnden Leinwand-Artisten. Aber die Geschichte sollte sich abermals nur als Farce wiederholen.

Stalin tat alles, die alte Parole von der "Ingenieurisierung des ganzen Lebens" in die Wirklichkeit umzusetzen. Nur endete das ohne die entsprechende Ingenieurswissenschaft in einem brutalen, voluntaristischen Kraftakt. Reichte der Stand der Technik nicht aus, so mußte die widerspenstige Materie nach Stalins Vorstellungen eben durch Menschenopfer gebändigt werden. Über eines der gigantischen Projekte, den Bau des Weißmeerkanals, machte Rodtschenko eine Foto-Reportage. Noch immer setzte er bei einigen Aufnahmen das Markenzeichen konstruktivistischer Fotografie, die schräg-dynamischen Perspektiven ein, noch immer gelangen ihm, wie etwa bei der Aufnahme einer Blaskapelle, die zur musikalischen Untermalung der Arbeit aufspielte, anekdotische Schnappschüsse. Aber noch aus seinem realitätshaltigsten Bild, das eine Gruppe von Häftlingen beim Antritt vor ihren Aufsehern zeigt, geht nicht hervor, daß beim Bau des Kanals 200 000 zur Arbeit Verschleppte ihr Leben lassen mußten.

Die Bildlegende der schließlich veröffentlichten Reportage legt zynischerweise auch noch nahe, sich die Gefangenen als glückliche Menschen vorzustellen, die über die "Poesie der Arbeit" eine Läuterung erfahren hätten. Rodtschenko fügte sich dem Regime des sozialistischen Realismus bis zu seinem Tod im Jahr 1956, verdingte sich als Auftragskünstler für die Partei und begann sogar wieder zu malen, retardierte, eskapistische Zirkusbilder.

Düsseldorfer Kunsthalle, bis 24. Januar