Einmal Kurde, immer Kurde

Newroz in Gaziantep: Justus Wertmüller hat eine Berliner Delegation in den Südosten der Türkei begleitet.

Delegationen sind äußerst zweifelhafte Unternehmungen. Sie bereisen arme Länder mit dem politisch-humanitären Anspruch, dort Informationen über Menschenrechtsverletzungen zu sammeln und durch ihr bloßes Erscheinen das jeweilige Regime an die Einhaltung dieser Rechte zu mahnen. Sie treten also, ob sie wollen oder nicht, halbstaatlich auf - auch dann, wenn keine Abgeordneten oder Verbandsfunktionäre dabei sind wie bei der Berliner Reisegruppe, die Mitte März 1999 in die kurdischen Gebiete der Türkei reiste.

Delegationen in den Südosten der Türkei gibt es seit der Eskalation des Konflikts zwischen kurdischer Nationalbewegung und dem Staat Anfang der neunziger Jahre regelmäßig. Traditionell ist der 21. März, das kurdische Newroz-Fest, Anlaß zu einem Lokaltermin. Während bisher solche Gruppen - in der Regel unter Schikanen - wenigstens einen Teil ihrer Ziele erreichten, kam zu Newroz 1999 keine Gruppe auch nur in der kurdischen Hochburg Diyarbakir an.

Wer sich mit dem Flugzeug auf den Weg gemacht hatte, war bereits wenige Stunden später wieder auf dem Rückflug, ohne auch nur den Flughafen verlassen zu haben. Andere, die wie die Berliner Gruppe ihr Glück mit dem Linienbus versucht hatten, kamen nicht weiter als in die Außenbezirke, wo sie aus dem Bus geholt, durchsucht und auf der anderen Straßenseite von Zivilbeamten der türkischen Polizei in den nächsten Bus zurück gesetzt wurden.

Teilnehmer an Kurdistan-Delegationen sind meist ein eigenartiger Menschenschlag. Auf der mitternächtlichen Fahrt zurück von Diyarbakir nach Sanliurfa konnten die Berliner bemerkenswerte Exemplare dieser Spezies aus Wien bewundern. Auch sie waren in den Bus zurück gesetzt worden. Die Mischung aus der größenwahnsinnigen Behauptung ihrer Unverzichtbarkeit ("Jetzt ist kein Beobachter in der Stadt, jetzt gibt es ein Blutbad"), der lärmenden Selbstsicherheit im Umgang mit Sicherheitsbeamten, von denen sie wußten, daß sie einem nichts wirklich anhaben können ("Schauts euch die an, das sind ja ganz kleine Würstel"), und der engen Verbandelung mit der österreichischen Botschaft und dem Außenministerium, bestätigte aufs lästigste, was türkische Behörden an dergleichen Aktivitäten auszusetzen haben: Einmischung in türkische Angelegenheiten durch ausländische Nationen.

Die Berliner müssen den Wienern gleichwohl dankbar sein. Ihrer staatlichen Protektion vermeintlich sicher, stiegen die, trotz ausdrücklichen Verbots der Sicherheitskräfte, in Urfa aus dem Bus, um wenige Stunden später einkassiert zu werden. Den Behörden scheint Festnahme und Ausweisung der starken Truppe aus Wien genügt zu haben. Das Wissen um eine zweite Gruppe scheint ihnen damit abhanden gekommen zu sein. Einzigartiger Zufall, der dazu führte, daß wenigstens am Rande des südosttürkischen Ausnahmezustandsgebiets eine Delegation sich fast unbehelligt einnisten konnte, in Gaziantep.

Gaziantep ist eine graue Stadt. Die meisten Häuser sind kaum älter als 20 Jahre und aus Betonquadern zusammengefügt, die nie einen Anstrich bekommen haben. Die Mehrheit der über 700 000 Einwohner wohnt in ärmlichen bis bitterarmen Vierteln, die sich um das Zentrum herum die Hügel hinaufziehen. Je weiter oben, desto neuer, desto ärmer. Für Bäume oder Parkanlagen hat es nicht gereicht, einige armselige Bemühungen in der Innenstadt ausgenommen.

Wenn es regnet, verschlammen die Außenbezirke und eine bräunliche Brühe fließt die Straßen hinunter. In der Innenstadt verkraftet die Kanalisation das meiste, die Außenbezirke haben nur ausnahmsweise Kanalisation und keinen Asphalt. In Gaziantep gibt es noch etwas Industrie - vor allem Textilfabriken, aber auch metallverarbeitende Betriebe. In den letzten Jahren hat es Massenentlassungen gegeben. Teilweise rechtswidrige, denn viele Firmen bezogen staatliche Kredite, die an die Bedingung, niemanden zu entlassen, geknüpft sind.

Aber daran hält sich schon lange keiner mehr. Massenentlassungen noch größeren Ausmaßes stehen bevor. Wenn auch sehr zögerlich, kommt auch die Türkei, eine der letzten keynesianistischen Ökonomien, dem Weltmarktzwang nach: Der riesige staatliche und halbstaatliche Sektor, der ganze Industriezweige dominiert, wird schrittweise privatisiert. Die Armut ist konzentriert auf die Außenbezirke. Bezirke wie Düztepe, in denen die Bevölkerung 100 Prozent kurdisch sei, wie den Berliner Gästen versichert wird. Dort, wo auch auf der Straße in der Regel kurdisch gesprochen wird, wo die Repression die schlimmste und der Widerstand der zäheste ist, herrschen zugleich das Elend des Analphabetismus (gerade unter den Frauen) und der Moralkodex des Islam.

Kurdische und andere Linke

Wie nimmt man Kontakt auf zu linken und kurdischen Politikern und Organisationen? Mit genau zwei Telefonnummern. Die eine vom Menschenrechtsverein, die zweite von einem Aktivisten des Linksbündnisses ÖDP. Der ÖDP-Mann ist aus Ankara vorab informiert und bittet die Gruppe in seinen Laden im Basarviertel und führt sie weiter ins Büro des Menschenrechtsvereins IHD. Von dort geht es ein paar Straßen weiter zum Hadep-Büro, und wieder eine Straßenecke weiter sitzt die Lehrergewerkschaft KESK, deren südöstlicher Flügel sich ausdrücklich für die Lösung der kurdischen Frage einsetzt.

In allen drei Büros trifft man auf hilfsbereite junge Leute, Aktivisten der linksradikalen Wochenzeitung Atilim, die in Gaziantep ein Büro unterhält. Die Menschenrechtler, Hadepler, Gewerkschaftler und Atilim-Journalisten organiseren von Anfang an alles. Sie kümmern sich um die Führung durch Problemviertel, stellen Kontakte mit Betroffenen und ganz normalen Familien her, geben jede Information über Repression und Folter und freuen sich, als die Berliner Gruppe sich als linksradikal erklärt.

In den genannten Büros herrscht strenge Hierarchie. Zwischen Vorsitzendem, Vizevorsitzendem, ehemaligem Vorsitzendem und einfachen Mitgliedern wird genau unterschieden. Die Einrichtung mag noch so kärglich und wackelig sein, es gibt immer einen Raum, auf dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift "Müdürlük" (Direktorat) oder "Baskan" (Vorsitzender) prangt, und dahinter steht an der Stirnseite ein Repräsentationsschreibtisch.

An der Wand hinter dem Schreibtisch ist ein holzeingefaßter, abgesteppter quadratischer Lederbezug angebracht. Direkt davor thront der Vorsitzende, der eine offizielle Miene aufsetzt, wenn er fotografiert wird. Das gleiche Interieur - etwas weniger abgewetzt - findet sich im Arbeitszimmer des Jendarmachefs, des Postvorstehers oder Schuldirektors wieder. Es ist das Erbe des untergehenden kemalistischen Modernisierungsstaats, dessen Stütze eine Unzahl von Bürokratien waren. Das Lederquadrat hinter seinem Stuhl ist Insignie von Würde und Autorität des leitenden Beamten, unausrottbares Zeichen der türkischen Entwicklungsdiktatur, naiv übernommen von deren linken Kritikern, die auch erziehen wollen, wenn auch anders.

Was ist ein Kurde?

In Antep wohnen angeblich über 50 Prozent Kurden. Angeblich - denn wer will definieren, was ein Kurde ist? Mit der Sprache kommt man nicht allzu weit. Kurdisch ist die Sprache der Kindheit, die zu Hause gesprochen wird und die sich mit der Einschulung zu verlieren beginnt - dann wird Türkisch Pflicht. Je länger die Schulausbildung ist, je erfolgreicher das Berufsleben wird, desto weiter entrückt das Kurdische in die Kindheitserinnerung, desto dominanter wird Türkisch.

Die meisten höheren Funktionäre von PKK oder Hadep können kaum Kurdisch, sie schreiben und diskutieren nur auf türkisch. Kurdisch verbleibt in der Familie und ist Idiom derer, die von vorneherein keine Chance haben, der Frauen. Ist Kurde-Sein dann eine Frage des Herkunftsorts? In gewisser Hinsicht ja. Wer in seinem Ausweis eine der Ausnahmezustandsprovinzen oder auch der angrenzenden Problemregionen als Geburtsort eingetragen hat, steht unter Generalverdacht seitens der Behörden.

Ein Mathematiklehrer, dessen Familie aus Kahramanmaras stammt, der aber in Ankara studiert hat, berichtet: "Auch wenn du Hochtürkisch sprichst, also nicht am regionalen Akzent erkennbar bist, sie wissen, woher du kommst und machen dich automatisch für alles, was passiert, verantwortlich. Wenn es zu irgendwelchen Vorfällen kommt, zuerst kommen sie zu dir nach Hause, befragen dich, drohen dir und nehmen dich zum Verhör mit. Wer aus den kurdischen Gebieten stammt und eine Hochschulausbildung hat, ist automatisch der Rädelsführerschaft verdächtig."

So geht es auch dem Dolmetscher der Berliner Gruppe. Er hat den deutschen Paß und zur Irritation der Polizeibeamten ist als Geburtsort Berlin eingetragen. Das darf nicht sein. "Wer sind deine Eltern?" wird er befragt. "Auch Deutsche." "Schon gut, aber woher stammen sie?" Und hier hilft kein Lügen - denn türkische Polizeicomputer haben ein langes Gedächtnis. Die Eltern des Dolmetschers stammen aus Mus, und die Welt der Behörden ist in Ordnung. Einmal Türke, immer Türke, und mit Eltern aus Mus eben ein verdächtiger, ein kurdischer Türke.

So wie die Behörden nach dem Herkunftsort Zuordnungen machen, macht es die kurdische Nationalbewegung. Einmal Kurde, immer Kurde. Wenn du die Sprache nicht kannst und die Region nicht kennst, weil du von Kind auf anderswo aufgewachsen bist, kannst du das nachholen, die Stimme des Blutes, die Stimme der Identität ist stärker. Mit Stolz wird auf PKK-Kämpfer hingewiesen, die in die Heimat zurückgekehrt sind und erst bei der Guerilla "ihre" Sprache erlernt haben.

Für die türkische Mehrheitsbevölkerung sind Kurden ein wenig zurückgeblieben und schlecht alphabetisiert - ein Fall für nachholende Erziehung gewissermaßen. Den Erziehungsbedarf übernehmen die Behörden auf ihre Weise. Lerne erst einmal richtig Türkisch, heißt es, und bei der nationalen Erziehungsanstalt Nummer eins, der Armee, geht es dann auch richtig zur Sache.

Der Lehrer hat gerade seinen Wehrdienst hinter sich, den er als Bewohner der Südosttürkei natürlich weit weg vom Bürgerkriegsgebiet, im Westen des Landes, abgeleistet hat. "Wenn es eine richtige Dreckarbeit gibt, dann müssen wir sie machen, denn wir kommen aus dem Südosten."

Derselbe Lehrer, der die Berliner Gruppe durch das ärmste Viertel der Stadt, Düztepe, führt, sieht allerdings seinerseits Erziehungsbedarf. Befragt nach den Bildungschancen der Mädchen, wird er zunächst verlegen, sicheres Zeichen dafür, daß etwas Unangenehmes gesagt werden muß, und dann legt er los. Ja, die Leute hier seien in dieser Hinsicht sehr zurückgeblieben. Ihre Töchter würden sie nur so lange auf die Schule schicken, wie das Gesetz es ihnen vorschreibt. Die Leute fänden es falsch, wenn Mädchen in eine Klasse mit Jungen gehen müßten, und gerade dann, wenn sie älter würden, würden sie allesamt von der Schule und überhaupt aus der Öffentlichkeit entfernt werden. Der Islam mache aus einem Mädchen mit Einsetzen der ersten Regel eine heiratsfähige Frau, die dann entsprechend weggesperrt werden muß, und Kurden, gerade die aus den ärmsten Provinzen, seien eben rechtgläubig.

Der Lehrer weist nicht ohne Stolz auf einen Unterschied hin. Zwar sei auch er Kurde, aber eben alevitischer Kurde. Unter Aleviten sei es keine Ausnahme, daß Mädchen aufs Gymnasium und selbst auf die Universität gingen. Überhaupt die Religion. Gewiß, die sunnitische Mehrheit und die alevitische Minderheit lebe friedlich und in der Regel solidarisch zusammen, solange man der gleichen Unterdrückung ausgesetzt ist. Alevitische Kurden seien aber in den letzten Jahren einer besonderen Behandlung ausgesetzt: Bekanntlich wollen Aleviten keine Moscheen, sie akzeptieren keine Gebetsrufe und ähnlichen Schwindel. In ihren Gemeindehäusern beten sie nicht, sondern besprechen die Dinge des Alltags - nicht nur für einen gewöhnlichen Sunniten ein teuflisches Tun, das immer wieder zu Pogromen führt; Sivas 1993 dürfte als letztes noch in Erinnerung sein. Aleviten, und kurdische Aleviten zumal, sind auch ins Visier der Staatsmacht geraten. Wer diskutiert, statt zu beten, könnte auf falsche Gedanken kommen. Wer seinen Töchtern ermöglicht, selbstbewußte Frauen zu werden, führt im Kern Staatsfeindliches im Schilde.

Im alevitischen Dorf in Maras, aus dem der Lehrer kommt, hat man vor fünf Jahren zwangsweise eine Moschee gebaut. Als das Gebäude fertig war, hat man die Bevölkerung mehrfach zum Gottesdienst hineingeprügelt. Der Plan ist eindeutig: Es geht um religiöse Umerziehung. In seinem Dorf sei das nicht gelungen. Die Moschee stehe leer. Es seien aber auch nicht mehr viel junge Leute da. Die Mehrheit sei, ihrer besseren Ausbildung gemäß, in die Städte gegangen, von zweien wisse er, daß sie in die Berge gegangen sind.

Newroz - Ausnahmezustand

Am 22. März 1999 meldet die türkische Presse Erfolg: Der Newroz-Tag sei in den Provinzen des Ostens und Südostens weitgehend ruhig verlaufen. Am 24. März 1999 meldet die sozialdemokratische Tageszeitung Cumhuriyet 3 800 Festnahmen in den kurdischen Gebieten, von den Festgenommenen seien 90 Prozent wieder auf freiem Fuß. Die Informationen des IHD Gaziantep sehen anders aus. Er weiß von mehreren Tausend Festnahmen allein in Diyarbakir, und im sonst so ruhigen Gaziantep sind es am 20. und 21. März 1999 allein 500. Das ist das Zehnfache der Jahre zuvor. Insgesamt schätzt der IHD die Zahl der Festnahmen in der Ost- und Südosttürkei auf 8 000.

Tatsächlich ist es den Sicherheitskräften gelungen, öffentliche Newroz-Kundgebungen weitgehend zu verhindern. In Antep wurde die über die ganze Stadt eine Art Ausnahmezustand verhängt. In den Problembezirken waren die wenigen Freiflächen, die für öffentliche Kundgebungen geeignet sind, abgeriegelt und von Polizeipanzern besetzt. Jeder Versuch, sich zu versammeln, wurde mit Schlagstöcken und Polizeipanzern, die mit großer Geschwindigkeit in die Gruppen hineinfuhren, unterbunden. Eine junge Frau wurde angefahren und liegt mit gebrochenem Bein im Krankenhaus.

Die Minibusse, die in den Problembezirken verkehren, wurden umgeleitet, auf verdächtige Personen hin untersucht, und wer nicht in das Raster paßte, wurde vorbeugend festgenommen. Eine große Sporthalle war vorsorglich beschlagnahmt und in eine Massenpolizeiwache verwandelt worden. In der Nacht auf den 20. März wurde die Hadep-Zentrale überfallen und alle anwesenden Funktionäre und Mitglieder wurden festgenommen. Andere Hadep-Mitglieder wurden nachts aus ihren Häusern geholt. Am selben Abend gab es einen Überfall auf das Hadep-Büro in Düztepe und ein Café daneben.

Auch hier Festnahmen, vor allem aber Schläge auf alle angetroffenen Leute. Danach die wilde Hatz durch das Viertel. Wer auf der Straße ist, wird unterschiedslos geschlagen, besonders Frauen, die die Newroz-Tracht tragen. Der 21. März verläuft entsprechend ruhiger. Die Nacht davor hat bewiesen, daß nichts geht. Nur vereinzelt konnte ein kleines Newroz-Feuer angezündet werden, um nach wenigen Minuten von der Polizei erstickt zu werden.

Zu den Spezialitäten der Repressionen gehört die regelmäßige Beteiligung von Mitgliedern der faschistischen MHP. Was der Polizei zu mühsam ist, übernehmen sie. Hinter den Polizeipanzern und Kampftruppen laufen Dutzende schlagstockbewehrter Zivilisten, zerstören Fensterscheiben, prügeln und bedrohen. MHP-Mitglieder sind unangreifbar. Soweit sie nicht selber bei den Sicherheitskräften beschäftigt sind, sind sie im staatlichen oder halbstaatlichen Sektor untergebracht und verfechten die türkische Sache unter Polizeischutz. Sie bedrohen Hadep-Kandidaten mit dem Tod, damit sie ihre Wahlkampfaktivitäten einstellen, sie schüchtern aber auch ganz normale Leute ein, indem sie ihnen für den Fall eines Hadep-Sieges in den kurdischen Vierteln Vergeltung androhen.

Kurdischer Nationalismus und Islam

Am Nachmittag des 21. März 1999 besucht die Berliner Gruppe ein zweites Problemviertel Gazianteps, Karsiyaka. Kundig vorbeigelotst an Straßensperren, Polizeiwachen und Polizeipanzern, kommt man ins Hadep-Büro, das einer Garage gleicht, weil es keine Fenster hat, dafür aber zur Straße hin völlig offen ist. Zunächst sind nur fünf Leute anwesend. Die Berliner nehmen auf den wenigen Stühlen Platz, und binnen kurzem füllt sich der Raum mit fast 100 Leuten, die nun eine Art spontane Volksversammlung abhalten.

Erregt wird von der Repression der letzten 24 Stunden berichtet, Verletzte werden vorgeführt und die Gäste in die Pflicht genommen. Das müsse in Deutschland bekannt gemacht werden, dem deutschen Volk müsse die Botschaft des kurdischen überbracht werden, damit Freundschaft zwischen beiden Völkern aufkomme. Wie könne das deutsche Volk es dulden, daß der Generalsekretär der PKK einfach verschleppt und dadurch dem kurdischen Volk eine solche Demütigung angetan wurde? Jetzt stehe auch noch die Schließung von Med-TV bevor, das die Stimme und das Ohr des kurdischen Volkes sei. Warum gehe Europa gegen die Unterdrükkung des albanischen Volkes im Kosovo militärisch vor und lasse das kurdische so sehr im Stich?

Die Höflichkeit, die knappe Zeit und die ungeheure Erregtheit verbieten die Diskussion. Man geht mit dem schlechten Gefühl, daß hier alles falsch war, außer der Wut darüber, so allein gelassen zu werden. Auf der Rückfahrt ins Stadtzentrum meint die marxistisch-leninistische Genossin von Atilim, daß die Gefahr bestehe, die allgemeine soziale Frage könnte hinter der nationalen verschwinden. Ziel müsse die bewaffnete Errichtung der Diktatur des Proletariats in der ganzen Türkei sein. Wenn die nationale kurdische Sache allein Erfolg haben würde, befürchte sie ein islamistisches Terrorregime unter kurdischer Fahne.

Man ist geneigt, ihr recht zu geben. In Antep ist 1995 bei der Kommunalwahl (zu der die Hadep wegen Wahlbehinderung nicht antrat) eine fundamentalistische Stadtverwaltung gewählt worden. Kein Wahlboykott, sondern eine "Protestwahl", wie die Hadep-Genossen das peinliche Ergebnis interpretieren. Am Abend im Hotel faßt das Fernsehen die Hauptanklagepunkte gegen den Vorsitzenden der inzwischen verbotenen und unter anderem Namen wiedergegründeten fundamentalistischen Wohlfahrtspartei, Necmettin Erbakan, zusammen. 1994 hatte der eine Wahlkampftour durch die kurdischen Gebiete unternommen und Freundschaft zwischen dem türkischen und kurdischen Volk verkündet. "Auch ich bin Kurde", rief er der jubelnden Bevölkerung von Siirt zu und ergänzte: "Unter dem Dach des Islam sind wir alle Brüder."