»Andere Zeiten brauchen andere Begriffe«

Jochen Baumann im Gespräch mit Moishe Postone über die Aktualität der Kritischen Theorie

Was verstehen Sie unter traditionellem Marxismus, und was hat dieser mit der Kritischen Theorie zu tun, die sich doch bereits in ihrer Entstehungsphase Mitte der dreißiger Jahre von ihm absetzt?

Der traditionelle Marxismus hat ein Verständnis von Produktionsverhältnissen, die im wesentlichen als Markt- und Eigentumsverhältnisse verstanden werden. Produktivkraft in diesem Verständnis der Produktionsverhältnisse ist die Arbeit, die normalerweise überhistorisch verstanden worden ist. Das schließt sehr viele verschiedene Richtungen des Marxismus ein.

Mein Begriff von traditionellem Marxismus ist nicht mit orthodoxem Marxismus gleichzusetzen, weil meiner Meinung nach jemand wie Horkheimer in "Traditionelle und kritische Theorie" auch innerhalb des traditionell marxistischen Rahmens denkt. Vier Jahre später, also noch in den dreißiger Jahren, versucht er, aus diesem Verständnis herauszukommen, was ihm aber nur eingeschränkt gelingt.

Schon vor der "Dialektik der Aufklärung" kommt Horkheimer in "Autoritärer Staat" und "Die Juden und Europa" zu einer Position, die sich sehr stark anlehnt an die Aufsätze von Friedrich Pollock zum Staatskapitalismus und zur Frage, ob der Nationalsozialismus eine neue Gesellschaftsordnung darstellt, die mit dem überkommenen Kapitalismus in wichtigen Bereichen breche. Horkheimer wie Pollock argumentieren, daß Markt und Privateigentum aufgehoben sind und nicht mehr als Wesensmerkmale des damaligen Kapitalismus gelten. Sie nennen es weiterhin Kapitalismus, aber sie haben keine Begrifflichkeit, mit denen sie diesen Terminus begründen können.

Aber wenn Markt und Privateigentum aufgehoben worden sind, dann gibt es keinen Widerspruch mehr, der die gesellschaftliche Entwicklung weitertreiben könnte. Entweder muß man sagen, daß die Gesellschaft weiterhin widersprüchlich strukturiert bleibt - Markt und Privateigentum also nicht wesentliche Bestimmungen des Kapitalismus sind -, oder man sagt, sie sind aufgehoben, und es gibt somit keine immanenten Widersprüche mehr, die Kritik und oppositionelles Handeln gesellschaftlich begründen könnten.

Daraus entstehen schließlich die Begrifflichkeiten von eindimensionaler Gesellschaft und verwalteter Welt, die für die spätere Kritische Theorie zentral sind. Wenn man die Position ablehnt, daß Markt und Privateigentum aufgehoben worden sind - das war Franz Neumanns Position, die er in "Behemoth" ausgeführt hat -, hat das ebenfalls entscheidende Konsequenzen für die Gesamtstruktur einer Kritischen Theorie. Neumanns Position, daß es auch im totalen Staat, dem Behemoth des Nationalsozialismus, noch traditionell verstandene Widersprüche gäbe, finde ich theoretisch nicht so befriedigend.

Warum denn nicht? Entweder stimmen Neumanns Analysen des Nationalsozialismus empirisch, dann ist auch anzunehmen, daß von seinen theoretischen Annahmen zumindest einiges stimmen muß, oder er liegt daneben. Zu sagen, daß er zwar die richtige Analyse des Nationalsozialismus liefere, Pollock und Horkheimer dagegen eine irreführende, und dennoch eher an ihre Theorie anzuknüpfen, erscheint doch widersprüchlich.

An Neumann müßten Sie doch mit ihrem eigenen Anspruch, eine zeitlich genauer bestimmte Analyse des Verhältnisses von Kapital und Arbeit zu betreiben, eher anschließen können als an die sehr spekulativen Annahmen der "Dialektik der Aufklärung", die mit vollkommen überhistorischen Begriffen operiert.

Nein. Man kann Pollocks These als hypothetische These verstehen. Nehmen wir einmal an, der Markt und das Privateigentum wären tatsächlich abgeschafft worden im Staatskapitalismus. Wäre das eine ausreichende Grundlage für den Aufbau des Sozialismus? Neumann geht auf diese wichtige Frage überhaupt nicht ein. Gerade deshalb finde ich, daß Pollock für theoretische Fragen, die auf die Geschichte gerichtet sind, weitaus interessanter ist als Neumann, der zweifellos die genauere Beschreibung des Nationalsozialismus geliefert hat. Pollocks Staatskapitalismustheorie beinhaltet, daß der traditionelle Marxismus seine historischen Grenzen erreicht hat. Deshalb stellen sich ihm und in seiner Folge Horkheimer und Theodor W. Adorno neue Fragen und Probleme.

Aber Horkheimer und Adorno haben doch gerade in dieser Phase der Entwicklung der Kritischen Theorie keine anschlußfähigen neuen Analysen und Kategorien herausgearbeitet, die für eine kritische Analyse der Gesellschaft brauchbar wären. Nicht umsonst haben sich beide in der Nachkriegszeit von dem Paradigma der "Dialektik der Aufklärung" teilweise verabschiedet.

Richtig, das haben sie, aber sie haben auch gesehen, daß man mit den alten Begrifflichkeiten die Welt nicht mehr erklären kann. Das Problem, das sich Horkheimer und Adorno Ende der dreißiger Jahre stellt, ist folgendes: Sie sehen, daß sie mit den alten Begrifflichkeiten des Marxismus, z.B. Markt und Privateigentum, den Kapitalismus nicht mehr adäquat begreifen können, sie haben aber noch keine neuen gefunden.

Für Horkheimer beispielsweise hat das wichtige theoretische Folgen für die Kategorie der Arbeit. Er hält an der für den traditionellen Marxismus zentralen Annahme fest, daß die Kategorie der Arbeit eine überhistorische Kategorie der Vergesellschaftung sei. 1936 ist sie für ihn noch eine Quelle emanzipatorischer Vernunft, 1940 meint er dagegen, daß die gesellschaftliche Arbeit der Grund für die instrumentelle Vernunft sei.

Diese grundlegende Umwertung gesellschaftlicher Arbeit beruht auf Pollocks These, daß die Abschaffung von Markt und Privateigentum im Staatskapitalismus bedeutet, daß der Hauptwiderspruch des Kapitalismus aufgehoben worden ist. Die Arbeit hat sich verwirklicht. Die daraus entstandene Gesellschaft verkörpert jedoch eine neue technokratische Herrschaftsform. Innerhalb dieses theoretischen Rahmens muß Arbeit Grundlage dieser neuen Herrschaftsform sein. Das ist der Kerngedanke, der zum Konzept der instrumentellen Vernunft führt.

Hier setzt Habermas dann später an. Habermas kehrt der Kritischen Theorie nicht einfach den Rücken, wenn er später behauptet, daß man neben die Arbeit die Interaktion setzen müsse, um die historische Möglichkeit gesellschaftlichen Kritik und Opposition zu erklären. Die Umdeutung des Begriffes der Arbeit zur instrumentellen Vernunft, die Horkheimer und Adorno in den vierziger Jahren vorgenommen haben, ist genau Habermas' Ausgangspunkt.

Abgesehen von der Trennung von System und Lebenswelt, die mit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive nicht vereinbart werden kann, vergißt Habermas doch regelmäßig das System, wenn er Gesellschaftstheorie betreibt, sonst käme er ja nicht zu seiner Kolonialisierungsthese, daß das System der Arbeit und Produktion, das er kaum analysiert, immer wieder in die Lebenswelt hinein regiere und diese Sphäre zunehmend domestiziere. Ist nicht heute diese Theorie endgültig obsolet, angesichts der Globalisierung des Kapitalismus, was ja nichts anderes bedeutet, als daß das Kapitalverhältnis auch noch den letzten Winkel der Welt erfaßt?

Ich mag die Habermassche Trennung nicht. Ich mag nicht die Kategorie des Systems, aber auch die Kategorie der Lebenswelt behagt mir nicht. Eine andere theoretische Möglichkeit wäre, den Arbeitsbegriff neu zu fassen, so daß er beide Sphären zu umfassen in der Lage ist - eben als Arbeit, die auch eine historisch spezifische Form der gesellschaftlichen Vermittlung konstituiert. Damit ist dann aber klar, daß dieser Arbeitsbegriff nichts Überhistorisches ist, der immer schon Geltung besitzt, sondern er ist ein historisch spezifischer, der erst mit der weltweiten Durchsetzung des Kapitalverhältnisses Geltung und Erklärungskraft besitzt. Das bedeutet aber, daß er heute aktueller ist denn je.

Wenden Sie Ihre Kritik des traditionellen Marxismus auch auf die "Negative Dialektik" von Adorno an, oder meinen Sie, daß dort die theoretischen Probleme, die Sie ausgemacht haben, gelöst sind? Gerade Adorno hat sich doch mit Fragen und Problemen der politischen Ökonomie nach 1945 nur noch am Rande befaßt.

Nein, Adorno hat diese Probleme nicht gelöst. Aber bei Adorno gestaltet sich das komplizierter. Adorno argumentiert viel differenzierter. Sicherlich unterschätzt er die Bedeutung des Kapitalverhältnisses und die Geschichte seiner Durchsetzung. Man kann die Warenform eben nicht als Universalschlüssel zur Menschheitsgeschichte benutzen, sondern nur zur Erklärung des Kapitalismus und seiner Dynamik. Adorno hat auch theoretisch-biographische Grenzen gehabt, etwa in der Einschätzung von Möglichkeiten positiver Gesellschaftsveränderung nach Auschwitz, beispielsweise durch den Feminismus oder durch andere soziale Bewegungen. Für mich ist das nicht nur ein praktisches, sondern vielmehr ein historisch- theoretisches Problem: Wie geht man mit emanzipatorischen Bewegungen nach Auschwitz um - eine Frage, der Adorno bewußt ausgewichen ist. Für ihn war es unmöglich und unerträglich, sich auch nur mit der Frage danach zu beschäftigen. Weniger aus theoretischen, sondern vielmehr aus biographischen Gründen hätte er das sicher als Verrat an der Geschichte und an der Bedeutung von Auschwitz verstanden.

Aber mir scheint, daß Adorno in der "Negativen Dialektik" oder in seinem Spätwerk genau diesen Versuch nicht mehr gemacht hat, überhaupt eine ausgeführte Ökonomiekritik zu formulieren, und statt dessen versucht hat, eine Gesellschaftskritik nach Auschwitz zu formulieren.

Kann man diesen Standpunkt von Adorno so personalisieren? Muß man nicht auch berücksichtigen, daß sich zwar das Kapital und der Kapitalismus als System nicht grundlegend verändert haben, aber natürlich die deutsche Gesellschaft wie auch die bürgerliche Gesellschaft generell? Schließlich leben wir nicht mehr im Nationalsozialismus, also stellt sich doch auch die Frage, ob sich nicht auch in der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus bzw. der bürgerlichen Gesellschaft selbst emanzipatorische Elemente befinden. Was hätte das für Konsequenzen für die Kritische Theorie?

Das kann ich auch nicht genau beantworten. Ich denke aber, daß Adorno diese Perspektive abgelehnt hätte. Aber man muß heute auch sagen, daß, obwohl die "Negative Dialektik" 1967 erschien, sie eigentlich ein Buch der späten fünfziger Jahre ist. Genauso sind die Konzepte von Jürgen Habermas Konzepte, die aus dem Kontext der späten sechziger Jahre entstanden sind, auf der Phase der Bürokratisierung, der Ausweitung der Staatstätigkeit und des Sozialstaats beruhen. Seitdem kommt Habermas von diesen Annahmen der Genese seiner eigenen Theorie nicht mehr los, obwohl sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändert haben.

In den fünfziger Jahren gibt es viele gute Gründe anzunehmen, daß es wohl keine systemimmanenten Widersprüche mehr gibt, die auf die Möglichkeit einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus verweisen. Adorno findet immer wieder Punkte, an denen er trotzdem Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung benennt, aber dies sind nicht mehr die Widersprüche, wie sie in der Marxschen Theorie gemeint waren - Widersprüche, die auf eine Umwälzung der ganzen Gesellschaft verweisen. Immerhin gibt Adorno im Gegensatz zu Horkheimer diesen Weg Kritischer Theorie nicht auf - auf die Schlechtigkeit des Ganzen zu verweisen, obwohl sich kein Weg zur Veränderung zeigen läßt.

Sie beziehen sich jetzt sehr positiv auf Adorno, aber in Ihrem Buch "Time, Labour and Social Domination" kommt Adorno so gut wie nicht vor. Adorno begründete aber in der "Negativen Dialektik", weshalb er kein System, keine abgeschlossene Gesellschaftstheorie liefern könne und wolle, weshalb es keine Kritische Theorie mehr sein könne, wenn man die Vergesellschaftung aus einem zentralen Punkt oder Widerspruch, etwa aus der Wertvergesellschaftung heraus, allein erklären wolle.

Hier gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen Adornos und Ihrer Herangehensweise. Adorno sagt genau wie Sie, daß Dialektik keine überhistorische Methode sein könne, sondern an den konkreten Gegenstand gebunden ist, den man untersucht. Es gibt keine transhistorische Methode, wir können nicht mit unserem Denken diese Gesellschaft verlassen, es gibt keine reine Erkenntnis.Warum ist dann die erkenntnistheoretische Position Adornos im Vergleich zu ihrer so unterschiedlich ? Was denken Sie über Adornos erkenntnistheoretisches Konzept der Nichtidentität, auf das in Ihrem Buch nicht eingegangen wird?

Mich interessieren gesellschaftstheoretische Konzepte stärker als die eher rein philosophischen. Was mich interessiert, ist, die Spannweite zwischen dem, was der Kapitalismus gleichzeitig an Entwicklung und Dynamik gesellschaftlicher Veränderung eröffnet und welche er gleichzeitig versperrt. Beide, mein eigenes und Adornos Konzept, beginnen mit der Analyse der Warenstruktur oder der Wertform. Aber ich glaube, daß ich besser als Adorno die interne Entwicklungsdynamik des Kapitalismus analysieren kann, mich interessieren eben die Momente der Veränderung, der gesellschaftlichen Dynamik, mindestens ebenso sehr wie die statischen Elemente, das Gleichbleibende.

Das liegt sicher auch daran, daß ich nicht in den fünfziger und sechziger Jahren gearbeitet habe, sondern eben heute. Andere Zeiten brauchen andere Begriffe. In "Time, Labour and Social Domination" wollte ich keine Geschichte der Frankfurter Schule schreiben. Ich wollte schlicht die Grenzen des traditionellen Marxismus bei der Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung aufzeigen. Dabei habe ich Adorno, der etwas, aber nicht ganz, aus diesem Rahmen fällt, eben elegant umgangen.

Also wieder mehr Marx? In Ihrem Vortrag "Critical Theory and the Problematic of Twentieth Century History" haben sie genau das gefordert, da der Kapitalismus im Zuge der Globalisierung immer noch von immanenten Widersprüchen gekennzeichnet sei. Wie sieht es dann mit der Kritik, erst recht der praktischen Kritik, dieser Entwicklung aus, die ja erst formuliert werden muß?

Zu sagen, daß der Kapitalismus eine dynamische Gesellschaftsformation ist, ist weder eine optimistische noch eine pessimistische Aussage. Es ist einfach die Richtung, in der Kritische Theorie heute weiterentwickelt werden muß. Dazu muß der fundamentale Pessimismus Horkheimers zurückgewiesen werden. Ich bin aber auch kein Optimist, es geht allein um eine historische Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung im emanzipatorischen Sinn. Auf der Ebene der Wahrscheinlichkeit einer solchen Emanzipation bin ich sehr wohl pessimistisch.

Es kommt auch darauf an, wie stark die Linke ist und wie gut sie ihre Interessen formulieren kann. Und in den USA und auch in Europa hat die Linke im Moment keine Stimme, sie hat den Leuten sehr wenig zu sagen. Das hat unter anderem dazu geführt, daß die vom gesellschaftlichen Abstieg bedrohte Mittelschicht in den USA ihre Interessen momentan fundamentalistisch-christlich formuliert.

Obwohl die Situation der Linken in den USA desolater ist als hier, wurde in den USA Ihr Buch sehr viel stärker rezipiert als in Deutschland. In den USA gibt es noch eine radikale marxistische bzw. von der Kritischen Theorie oder auch vom Poststrukturalismus beeinflußte gesellschaftskritische Diskussion. Hier dagegen kann man ein Wort wie "Kapitalismus" kaum noch in den Mund nehmen. Woran liegt das?

Die Struktur der Öffentlichkeit in den USA ist eine andere als in Europa. Es wird sehr kontrovers und auch kritisch diskutiert, aber in einem hermetischen akademischen Rahmen. Es gibt in den USA viel weniger Vermittlungen zwischen dem akademischen Diskurs und, sagen wir, der allgemeinen öffentlichen Diskussion als in Europa. Das ist ein turning in on itself. Das läßt sich schon an der Sprache des akademischen Diskurses erkennen, der zunehmend hermetischer und für Außenstehende unverständlicher wird. Der akademische Diskurs verweist zunehmend nur noch auf sich selbst.

Historisch bedeutsam wird er erst, wenn er der Bevölkerung die Möglichkeit bietet, sich ihre eigene Situation und die eigenen Lebenserfahrungen zu erklären. Gerade in den Cultural Studies findet man eine Mischung von populistischer Oberfläche und elitärem Jargon. Das bedeutet nicht, eine komplexe Analyse zu unterlassen, aber es sollte möglich sein, Ergebnisse des Forschungsprozesses, wenn sie denn einmal gewonnen worden sind, einfacher darzustellen, so daß sie für andere verständlich sein können.

Ihr Aufsatz über "Nationalsozialismus und Antisemitismus" hat in den letzten zehn Jahren für die antinationale Linke in Deutschland große Bedeutung gehabt. Arbeiten Sie an dem Thema noch weiter?

In meinem Hinterkopf. Wirklich daran weitergearbeitet habe ich aber nicht. Das ist auch ein Problem der Öffentlichkeit, auch an der Universität: Man muß immer wieder zum Ausgangspunkt der Forschung und seiner eigenen Thesen zurückkehren, weil viele Leute einen sonst nicht verstehen. Da die meisten Studenten von Marx keine Ahnung oder geradezu eine Aversion gegen ihn haben, muß ich immer wieder die Basics erklären, die die Voraussetzung darstellen, um weitere Dinge verständlich machen zu können.

Dennoch haben Sie festgestellt, daß Marx - wie radikale und kritische Theorie - generell in den USA viel weniger tabuisiert ist als in Deutschland. Woran liegt das? Wie schätzen Sie die Rezeption in den Cultural Studies und in den Literaturwissenschaften ein, beispielsweise von Frederic Jameson? Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in den USA die erfreuliche Situation, daß die Marxsche Theorie nicht mit dem Poststrukturalismus ausgetrieben wird, sondern daß sich beide ergänzen und zusammengeführt werden.

Seltsamerweise ist das wirklich so. Marx ist in den siebziger Jahren in den USA nie so in Mode gewesen und ist später nicht so aus der Mode gekommen. Vielleicht liegt das einfach daran, daß es unmöglich ist, einfach zu glauben, daß man in einer Gesellschaft lebt, die nur als "modern" zu bezeichnen ist, wenn man von Reagan oder Thatcher regiert wird. Das ist denkbar in einem Land wie Deutschland, das noch zu einem bedeutenden Teil durch fordistische gesellschaftliche und politische Zustände und Konflikte gekennzeichnet ist. Das ändert sich aber in Deutschland jetzt rapide.

Und unter der neuen sozialdemokratisch-grünen Regierung wird dieser Prozeß noch schneller voranschreiten. Sie werden ihren Job erledigen und die Änderungen durchsetzen, die in den anderen Ländern die Rechten durchgesetzt haben. In der amerikanischen Soziologie gibt es nur eine Handvoll Kritische Theoretiker. In den Kultur- und Literaturwissenschaften sieht das ganz anders aus. In Amerika wurden sie zu den Zentren der Kritischen-Theorie-Rezeption. Manchmal hat diese eigentlich positive Entwicklung aber auch große Nachteile, wenn nämlich Literaturkritiker meinen, selber Gesellschaftstheoretiker zu sein. Aber immerhin, ohne diese Entwicklung hätte es diese neue Rezeptionswelle von kritischen Denkern wie Marx, Foucault, Derrida nicht gegeben.

Erstaunlicherweise gelten Marx, Foucault, Benjamin, Adorno, Marcuse, Derrida, Butler u.a. in den USA unterschiedslos als Critical Theory. Ist das nicht eine produktive Entwicklung, wenn die Kritik der politischen Ökonomie eines Marx neben und als Ergänzung zur Kritik der politischen Anatomie, des politischen Körpers, rezipiert wird, anstatt das eine mit dem anderen auszutreiben?

Ja, das alles wird als Kritische Theorie betrachtet. Ich denke, daß es in Deutschland gar nicht diese gigantische Foucault-Welle wie in den USA gegeben hat. Jahrelang redete in den USA jeder Student nur Foucault-Speech. Darauf mußte man sich einstellen, wenn man die Studenten noch erreichen wollte.

Welche weiteren Projekte haben Sie für die nächste Zukunft?

Ich möchte die Marxsche Theorie etwas weiterentwickeln. Dazu müssen die historischen Entwicklungen seit Mitte der siebziger Jahre aufgenommen und berücksichtigt werden. Das soll aber keine Monographie werden, das wäre wohl ein zu gewagter Wurf, den niemand im Moment zu leisten imstande ist. Aber als theoretische Intervention in laufende Debatten, Diskurse und Theorieentwicklungen sollte dies möglich sein. Zweitens arbeite ich an einer Theoriegeschichte der Kritischen Theorie. Das soll aber keine auf Vollständigkeit angelegte Geschichte, sondern eben eine Skizze der theoretischen Konzepte der Kritischen Theorie werden.

Also kein Gegen-Wiggershaus?

Genau. Die theoretische Auseinandersetzung soll im Zentrum stehen. Bisher gab es keinen Versuch, die Kritische Theorie von ihrem Kapitalbegriff und ihrer Kapitalismuskritik aus darzustellen. Und genau das werde ich versuchen. Die Kategorie der gesellschaftlichen Totalität wird dabei wichtig sein, und diese Arbeit wird sich sicherlich stärker an Adorno orientieren als die vorherige. Im Schnittpunkt wird dabei der Versuch stehen, den Kern einer Kritischen Theorie auf der Höhe der Zeit zu formulieren.