Die Ziehung der tragenden Jobs

Wer kein Glück im Lotto hat, muß zu den Heinzelmännchen. Seit 50 Jahren werden in Berlin-Dahlem die Studenten-Jobs verlost.

"Schon wieder so eine Schweinenummer." Bei der Tombola hat Axel die 73 erwischt. Er könnte trotzdem hingehen, wenn nachher die Stellenangebote ausgerufen werden, denn vielleicht hat er ja Glück, und es gibt mehr Jobs, als die 72 anderen Studenten mit den besseren Nummern brauchen. Man weiß ja nie. Wahrscheinlicher aber ist, daß er bei der vierten und letzten Ausrufung um vier Uhr nachmittags feststellen muß, daß er im Warteraum wieder einmal nur ein paar Stunden älter geworden ist. Wie bei den Versuchen in der letzten Woche. Arbeiten wollen viele.

Jobs dagegen sind rar, und so entscheidet bei der studentischen Arbeitsvermittlung Heinzelmännchen der Zufall über die Erwerbschancen. Jeden Morgen um acht Uhr landen die Ausweise der Studenten in einer Lostrommel. Die Ziehung wird über einen kleinen Lautsprecher live in den Warteraum übertragen. Spannung ist garantiert. Denn während das Angebot immer dünner wird, müssen mehr und mehr Studenten arbeiten. Erhielt 1991 ein Drittel der Hochschüler Bafög, waren es im letzten Jahr nur noch 18 Prozent. Zwei von drei Studierenden arbeiten mittlerweile.

"Wir hoffen, daß sich die Auftragseingänge wieder stabilisieren. Das erste Quartal war zwar wieder schwächer, aber dieses fing ganz gut an", sagt Fred Hamann, Leiter der Heinzelmännchen. Er und seine 23 Mitarbeiter vermitteln prinzipiell alles, was nach Tarif bezahlt wird. Wer anruft, weil er einen Türsteher für seine Party braucht, bekommt den ebenso wie jemanden, der beim Umzug hilft oder Opernkarten abholt; wenn es sein muß, noch am gleichen Tag. Weil die Einrichtung des Studentenwerks nur Aushilfstätigkeiten für maximal sieben Tage anbietet, ist eine schlechte Konjunktur besonders deutlich zu spüren, glaubt Hamann: "Aushilfskräfte werden dann gesucht, wenn die Auftragslage anzieht."

Doch nicht nur deshalb ist die Zahl der vermittelten Jobs in den letzten drei Jahren um etwa 40 Prozent auf knapp 40 000 gesunken. Mit der Einführung der Rentenversicherungspflicht wurden studentische Arbeitskräfte nicht nur zehn Prozent teurer, sondern auch verwaltungsintensiver. "Viele Unternehmen wenden sich jetzt lieber an Zeitarbeitsfirmen. Das ist zwar teurer, bedeutet aber sehr viel weniger Aufwand", sagt Hamann. Er hofft nun auf eine Wende durch das neue 630-Mark-Gesetz: "Jetzt sind alle anderen teurer geworden. Wir versuchen deshalb zur Zeit, Arbeitgeber zurückzugewinnen, die in den letzten Jahren nicht mehr bei uns bestellt haben."

Bis das gelingt, brauchen die Gelegenheitsarbeiter vor allem gute Nerven. Axel hat das Spiel schon zu oft mitgemacht, um sich davon aus der Fassung bringen zu lassen. Seit Oktober läßt er sich jede Woche zwei Jobs als Umzugs- oder Bauhelfer vermitteln, weil er sonst mit 400 Mark Bafög und 300 Mark von den Eltern über die Runden kommen müßte. Seine derzeitige Pechsträhne kommentiert der Politologiestudent nur mit einem Schulterzucken und dem Hinweis, daß er ja auch oft etwas bekomme. "Und dann kann man mit wenig Arbeitseinsatz eine Menge Geld verdienen. Bei einem Umzug gibt es für drei Stunden eine Pauschale von siebzig Mark." Das sind mehr als 23 Mark in der Stunde, und wenn man so cool bleiben will wie Axel, rechnet man an diesem Punkt besser nicht weiter. Denn die gut bezahlten Jobs wollen erst einmal ergattert sein - sieben bis acht Stunden kostet Axel das jede Woche. Bezieht man die Wartezeit mit in die Rechnung ein, sieht der Stundenlohn mit etwa zehn Mark nicht mehr so üppig aus.

Insbesondere ausländische Studenten sind häufig auf die Heinzelmännchen angewiesen. "Guck dich doch mal um. Was glaubst du, warum hier so viele Ausländer sitzen?" fragt Bülent. "Viele von denen wären doch gar nicht hier, wenn die woanders etwas finden würden." Vor zwei Jahren geriet die Vermittlung ins Visier des Asta, als Diskriminierungen bei Stellenangeboten bekannt wurden. So hieß es bei einer Stelle als Bauhelfer: "Leider nur Deutsche". Außerdem, klagte die Studentenvertretung, sei perfektes Deutsch häufig auch für Jobs wie Tellerwäscher oder Abbruchhelfer Voraussetzung. "Das ist ziemlich aufgebauscht worden", findet Fred Hamann. "Wenn ein Arbeitgeber sehr gute Deutschkenntnisse verlangt, fragen wir grundsätzlich nach." Gäbe es keine sachlichen Gründe, werde der Auftrag abgelehnt. "Aber das merkt dann natürlich keiner."

Eine Auswertung der 60 000 Vermittlungen habe ergeben, daß sich unter den etwa 100 Fällen, in denen Deutschkenntnisse verlangt wurden, nur zwei fanden, bei denen dies nicht gerechtfertigt gewesen sei. "Es gibt da natürlich immer eine Grauzone, und bei der Zahl der Vermittlungen ist nicht auszuschließen, daß es zu dummen Einzelfällen kommt." Der Konflikt scheint die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter jedenfalls geschärft zu haben. "Die Situation ist seitdem besser geworden, wir hatten keine Auseinandersetzungen mehr", sagt Majid Roshn vom Asta.

"Hier im Warteraum ist immer eine unheimlich angespannte Atmosphäre", sagt Frank, der heute auch leer ausgeht. "Die dicke Luft kommt natürlich daher, daß die Leute dringend Kohle brauchen und darauf angewiesen sind, irgend etwas zu kriegen. Es gibt hier viele, die sonst überhaupt keine Einkünfte haben." Wenn man beispielsweise Sven zuhört, wie er sich ereifert, erscheint die Job-Lotterie als reine Terrormaßnahme. "Warum sitzen da so wenig Leute am Schalter, daß man so lange warten muß? Das Schlimmste ist, daß man hier schikaniert wird, vor drei, vier Jahren hat das begonnen. Du mußt jetzt eine Meldebescheinigung haben, die Sozialversicherungsnummer angeben, sagen, ob du ein Urlaubssemester hast usw. Da wird vorsätzlich Streß aufgebaut. Die verzögern zum Beispiel oft den Ausruf um eine halbe Stunde und dann gucken sie in den Computer, ob du alle deine Unterlagen da hast. Wenn irgendwo ein Stempel fehlt oder du noch eine Mark Schulden bei der Vermittlungsgebühr hast, sperren sie dich."

Er ist nicht zu stoppen. Seit fast zehn Jahren kennt er die Heinzelmännchen. Damals, als er sein universelles Langzeitstudium begann, erlebte Berlin durch den Mauerfall einen einzigartigen Boom, der den Studenten jede Menge Jobs mit guter Bezahlung bescherte. Aber die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sitzen nicht im Büro, und da spielt es keine große Rolle, daß auch die Tusma, die für die Vermittlung an den anderen großen Berliner Hochschulen zuständig ist, von dem Rückgang betroffen ist: "Früher gab es ein anderes Management, die haben Aufträge besorgt und sich dafür eingesetzt, daß vernünftige Löhne gezahlt werden."

Die Vorwürfe sind so alt wie die Heinzelmännchen, die dieser Tage ihr fünfzigjähriges Bestehen feierten. "Als das angelaufen war, kamen immer öfter Beschwerden: Die Aufträge werden nicht gerecht verteilt, die Provision ist zu hoch, die Geschäftsführung ist schlecht. Wir haben daher einen Vertrauensausschuß eingeführt, der jedes Semester von allen Heinzelmännchen gewählt wurde und unsere Arbeit kontrollierte", sagt Ulrich Heckert. Auf die Idee, die Agentur zu gründen, kam Heckert, als er selbst Arbeit suchte und beim Sozialreferat der Freien Universität nach einer Jobvermittlung für Studenten fragte: "Der Referent sagte mir nur, daß es so etwas in Berlin nicht gebe. Wenn ich Interesse hätte, solle ich das doch selbst organisieren."

Der damals 23jährige ließ sich daraufhin eine Gewerbegenehmigung für die "Vermittlung von Aufträgen für Arbeiten aller Art ausschließlich an Studenten der Freien Universität" ausstellen. "Dann bin ich durch die Institute gezogen und habe sämtliche Professoren, Sekretärinnen und Assistenten gefragt: 'Habt ihr irgend etwas zu tun, ich vermittle das.'" In den ersten Wochen wurden die Aufträge in der Mensa weitergegeben. Schnell sprach sich herum, daß Studenten für eine Mark in der Stunde sämtliche Arbeiten übernahmen, egal, ob es sich um Teppichklopfen, Babysitting oder Holzhacken handelte.

"Wir haben gleich im ersten Jahr den Weihnachtsmann-Service eingeführt. Das war eine interessante Tätigkeit, weil es pro Auftrag fünf Mark gab und man an einem Abend 35 Mark verdienen konnte." Die Beliebtheit scheint ungebrochen zu sein. Im letzten Jahr zogen 260 Studenten mit falschen Bärten und roter Kluft los und klapperten 4 000 Familien ab. "Das war eindeutig der beste Job, den ich bisher bei den Heinzelmännchen gemacht habe", findet Christoph. Nach einer Schulung, bei der ihm die Grundregeln des Weihnachtsmanngewerbes - keine Jeans, keine Turnschuhe, kein Alkohol - beigebracht worden waren, klingelte der getarnte Geographiestudent bei dreizehn Familien und ging mit fünfhundert Mark nach Hause. "Das hat ziemlichen Spaß gemacht mit den Kindern; die haben totalen Respekt vor einem." Wenn nicht gerade Weihnachten ist und er keine längerfristige Arbeit hat, läßt er sich als Bauhelfer vermitteln, "da gibt es die meisten Angebote".

In der ersten Zeit entwickelte sich das neue Dienstleistungsangebot rasend schnell. "Nach ein paar Wochen konnte ich einen kleinen Raum in der Ihnestraße an Land ziehen." Werbung machte vor allem die Lokalpresse. "Es wurde alles dankbar aufgenommen, was an Aktivitäten aus der Freien Universität kam, das Thema war in. Heute kann man mit der FU keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken, aber damals kamen laufend Fotografen und Reporter", erzählt Friedrich-Wilhelm Auffermann, der den Namen "Heinzelmännchen" vorschlug. Der Rias sendete kostenlos Sprüche und Lieder wie "Kleine Kisten, große Tönnchen, tragen alles Heinzelmännchen" oder "Auf deinen Auftrag warten wir, wähl 7-6-1-2-3-4".

Einen Großteil der PR erledigte der damalige Arbeitssenator. "Der feindete uns an, weil die Arbeitsämter das Monopol für die Arbeitsvermittlung hatten und unsere Gewerbegenehmigung deshalb nicht ganz schußecht war. Der Konflikt wurde in der Presse ausgetragen. Die Zeitungen waren auf unserer Seite, und so war das zu unserem Besten", glaubt Heckert. Nicht zum Besten der Firma waren allerdings die beiden Beamten, die im Juni 1951 im Büro standen, um Aktenschränke und Karteikästen zu durchsuchen. Heckert schloß daraufhin den Betrieb, dessen Dienste mittlerweile jeder fünfte Student der FU in Anspruch nahm; 1 800 Mitglieder zählten die Heinzelmännchen. "Das gab natürlich einen Aufstand unter den Studenten. Dem Studentenwerk habe ich gesagt: 'Wenn Sie den ganzen Ärger wollen, dann übernehmen Sie doch den Laden.'"

Für 1 000 Mark kaufte das Studentenwerk zwar den Laden, nicht aber den Ärger - nach der Übernahme wurde die bis heute gültige Erlaubnis für die Vermittlung von Tätigkeiten bis zu sieben Tagen erteilt. Für längerfristige Arbeitsverhältnisse ist nach wie vor das Arbeitsamt zuständig, das seit zwanzig Jahren eine Außenstelle im Büro der Heinzelmännchen unterhält.

In den Warteräumen hocken nicht nur Arbeitssuchende. Julia beispielsweise hat sich ihren Job als Nachtwache auf einer Pflegestation selbst gesucht. Um sich den Aufwand der Lohnabrechnung zu sparen, läßt das ihr Arbeitgeber für 2,5 Prozent der Lohnsumme vom Abrechnungszentrum der Heinzelmännchen erledigen. Damit gehört die Sonderpädagogik-Studentin, wie die Hälfte der 15 000 registrierten Mitglieder, zur Kaste der "Selbstabholer". Einmal im Monat muß sie herkommen, um das entsprechende Formular abzugeben. Und das reicht ihr völlig. "Ich kann nicht verstehen, wie Leute ihr Studium über die Heinzelmännchen finanzieren können. Es gibt immer nur etwas für einen, manchmal auch drei Tage, und für Frauen wird so gut wie nie etwas angeboten. Das meiste sind ja so Sachen wie Bau- oder Umzugshelfer oder irgendwelche anderen Tragejobs."

Mißmutig schaut sie auf die Uhr. "Seit es dieses System mit den Wartenummern gibt, habe ich das Gefühl, daß alles viel länger dauert." Auf ihrem Zettel steht die 267, die Anzeigentafel bleibt beharrlich bei 259 stehen. "Mir wäre das viel zur streßig, jeden Morgen anzureisen und mich hier dann den ganzen Tag zu vergnügen", sagt sie und blickt wieder auf die Uhr, auf die 259 an der Wand und auf die 267 auf dem Papierschnipsel. Der muß schließlich dran glauben: Bevor sie unverrichteter Dinge geht, weil sie eine Verabredung hat, zerreißt sie ihn in kleine Fetzen. Aus diesem Holz werden keine Heinzelmännchen geschnitzt.