Siegen im Losen

Wie Paul McCartney dem Landkreis Siegen-Wittgenstein hilft, seinen kulturellen Minderwertigkeitskomplex zu überwinden. Über ein Kompensationsgeschäft

Paul McCartneys Bilder in Siegen? Wenn man mit dem Zug das bewaldete Mittelgebirge des Siegerlandes durchfährt und einige Kilometer hinter der talfüllenden Krombacher Brauerei die ersten Stahlwerksruinen und Stadtautobahn-Stelzen in der tendenziell eher agrarischen Landschaft auftauchen, fragt man sich unwillkürlich (so wie sich das schon Tausende vor einem gefragt haben), was denn Paul McCartney dazu bewogen haben mag, seine Bilder erstmals in der südwestfälischen Provinz auszustellen, statt in London oder New York.

Kultur nämlich ist in dieser Gegend, in der ein eigenbrötlerischer, zutiefst puritanischer Menschenschlag dem kargen Boden jahrhundertelang Kartoffeln und Eisenerz abgerungen hat, nicht gerade zu Hause. Da man in diesem Landstrich bislang sogar richtig stolz auf sein Banausentum war und sein Geld lieber in scheußliche Zweckbauten und fahrbare Untersätze steckte, kannte außerhalb Siegens kaum jemand diese Stadt. Das änderte sich erst, als vor einigen Jahren das SZ-Magazin ein Porträt der Stadt brachte und Siegen mit der leicht zu beantwortenden Scherzfrage "Was ist schlimmer als Verlieren?" bundesweit bekannt machte.

Im Heimatmuseum hängen zwar ein paar Bilder des zufällig auf der Durchreise in Siegen geborenen Peter Paul Rubens, aber von den Zumutungen des zeitgenössischen Kulturbetriebs, von Theatern, Kunstmuseen, Musikbühnen und der Kneipenszene, sind die etwa 100 000 Einwohner des mit einer Gesamthochschul-Neugründung zur Universitätsstadt geadelten Oberzentrums weitgehend verschont geblieben. Sie bräuchten sowas aber meistenteils auch nicht. Mit Einkäufen in der neuen "City Galerie", Autofahren und einem Bowlingcenter ist der Bedarf bestens gedeckt. Warum also ausgerechnet hier die "Weltpremiere" der "Paul McCartney paintings"?

Die Legende will es, daß dem Kreiskulturreferenten Wolfgang Suttner vor fünf Jahren zu Ohren kam, McCartney trage sich mit dem Gedanken, eine Auswahl seiner etwa 500 seit Mitte der achtziger Jahre entstandenen Öl- und Acrylbilder auszustellen. Suttner habe sich brieflich an den Ex-Beatle gewandt und ein echtes Interesse an den Bildern entwickelt. Siegens Kulturreferent habe die Arbeiten McCartneys sogar - anders als alle anderen Interessenten - kritisch begutachten wollen, bevor er sich dazu entschloß, sie nach Siegen zu holen.

Das wiederum habe den leidenschaftlichen Amateurmaler davon überzeugt, daß er in Siegen als Künstler wirklich ernst genommen wird, da er natürlich für seine Bilder und nicht wegen seines Namens geliebt werden will. Aus Bescheidenheit war ohnehin für sein Debüt in der Kunstwelt eine kleinere Galerie vorgesehen - und so habe McCartney der unbekannten, aber heftig um ihn buhlenden Mittelstadt in Deutschland den Zuschlag erteilt.

Natürlich stimmt diese Legende nicht, kann nicht stimmen. Wenn man die siebzig Bilder selber einmal gesehen hat, versteht man auch, warum: McCartney muß seine bildende Kunst irgendwann einmal recht realistisch eingeschätzt haben. Er wollte deshalb unbedingt außer Konkurrenz starten, an einem Ort mithin, wo man ihn nicht mit den Großen mißt. Gleichzeitig wird er aber die Chance gesehen haben, als Paradiesvogel in unscheinbarer Umgebung aufzutrumpfen: Siegen ist nämlich wie Liverpool, leidet unter wirtschaftlichem Strukturwandel und einem durchaus begründeten kulturellen Minderwertigkeitskomplex. Jenes Gefühl aber, trotz aller vermeintlichen Anstrengung nicht für voll genommen zu werden, teilt die Region wiederum mit dem Künstler McCartney, der sich zur Ausstellungseröffnung am 30. April entsprechend defensiv-aggressiv gab: "Ich behaupte nicht, der größte Maler der Welt zu sein, aber ich glaube, ich bin nicht schlecht." Und so kam man zusammen, um es dem Rest der Welt heimzuzahlen.

An der abgasgrauen Koblenzer Straße steht das Kreishaus von Siegen-Wittgenstein. In einer kleinen Straße dahinter, neben einer weitläufigen Industriebrache, verbirgt sich das Kulturforum LØz, früher ein Mädchengymnasium, jetzt eine Kleinkunstbühne. Hier veranstaltet eine peppig "Kultur!Büro" benannte Agentur die McCartney-Ausstellung, offenbar erfolgreich. "Großstadtstimmung herrscht rund um das Gebäude des LØz", freut sich das Stadtmagazin Sitty: "Die Bistro-Terrasse ist gut gefüllt. Nicht nur aus dem Kreisgebiet und den umliegenden Regionen, sondern aus ganz Deutschland und dem europäischen Ausland kommen Besucher nach Siegen."

Daß sich jemand freiwillig dieser Stadt nähert, ist man dort nicht gewohnt. Am Eingang des Kulturforums hängt deshalb als Ausweis des Triumphes der internationale Pressespiegel. Jetzt hat man schwarz auf weiß, was Kurator Suttner zur Halbzeit der Ausstellungsdauer bereits verkündete: "Die Werbewirkung für die Region ist unglaublich." Zwar hatte bis Mitte Juni die für ein Weltkulturereignis doch eher bescheidene Zahl von 17 000 Besuchern den Weg in die Stadt gefunden, da man jedoch in Siegener Maßstäben denkt, fiel das niemandem auf, zumal die Siegener Zeitung versicherte: "Hochtourig läuft auch die Refinanzierung des 1,2-Mill.-DM-Projekts."

Die ausstehende Summe, die aus allerlei Fördertöpfen dazugeschossen werden muß, mache sich "angesichts des weltweiten Werbeeffekts für Siegen und die Region bezahlt". Denn, so das konservative Heimatblatt mit gar nicht so stiller Genugtuung: "Allein in deutschen Printmedien sind rund 1 500 Artikel in einer Auflage von 45 Mill. erschienen. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung, das einst Siegen als die Betonhochburg Deutschlands geißelte, widmete 'McCartney paintings' sieben Seiten." Man sieht: Dieser Stachel sitzt tief.

Auch Paul McCartney hat mit einem übermächtigen Image zu kämpfen. Im Foyer, in dem auch das Merchandising untergebracht ist, hängen Fotoarbeiten der 1998 verstorbenen Linda McCartney. Sie sind ein Appell an den Betrachter, den linkshändigen Bassisten beim folgenden Rundgang doch bitte als rechtschaffenen Maler anzusehen: Paul mit Pinsel im Atelier, in beklecksten Bermuda-Shorts vor seinen Bildern, mit "seinem Freund" Willem de Kooning im Gespräch. Die großzügigen Säle des LØz schließen auf drei Geschoßebenen daran an. Sie wurden für die Dauer der Ausstellung mit Einbauteilen verkleidet, um "dem Besucher das Gefühl zu vermitteln, sich in einer 'echten' Galerie zu befinden" (Siegener Zeitung).

Hier gibt es dann endlich auch die bunte Mixtur des Meisters zu sehen, dessen Werke nach eigener Aussage gleichzeitig von Magrittes Phantastischem Realismus und vom Abstrakten Expressionismus de Koonings beinflußt sein sollen. Wer diese beiden eigentlich eher für Antipoden hielt, hat nicht kapiert, wie Nachmoderne heutzutage geht, und auch nicht, daß "die Freude am Malen und die Offenheit dem Farbmaterial gegenüber immer wieder ein Antrieb der Malerei McCartneys sind", wie der Ausstellungstext diplomatisch formuliert.

Jedenfalls sieht man äußerst bunte Bilder voller Farbspritzer, in die immer, wenn es zu abstrakt zu werden droht, das Gegenständliche einbricht - etwa dergestalt, daß Andeutungen eines Auges, einer Nase oder eines Mundes schnell noch ein "Gesichtsbild" komplettieren. Was immer der Mann auch schabt, kratzt und lasiert - eine Gesichtsform ist laut Begleittext fast immer "die Entschuldigung, Farbe aufzutragen (Zitat McCartney)". Manches sieht dann sehr nach Comic aus (Pop Art! Yeah!), und in den Bildern der englischen Königin ("The Queen after her first cigarette", "The Queen getting a joke", "A greener Queen", alle von 1991) zeigt sich sogar sowas wie feiner Humor.

Aber wie das Flaggschiff "Bowie spewing", das als Gratispostkarte in einer Auflage von 270 000 Exemplaren bundesweit für die Ausstellung wirbt, belegen die meisten Exponate, daß McCartney mit seiner Farb- und Formgebung nicht immer ein glückliches Händchen hat. Nicht nur in seiner Musik ist Paul in den Eighties steckengeblieben: Neon- und Pastelltöne in immer neuen Nuancen liegen auf vielen Bildern, die, wie wir Musiker sagen würden, deshalb ein wenig "überproduziert" wirken. Wo mehr als ein Motiv die Leinwand bevölkert, steht das Unverbundene sehr unverbunden nebeneinander; das wird dann wahrscheinlich der Einfluß Magrittes sein, dessen Staffelei zu benutzen McCartney sich rühmt.

Unentschieden kommen schließlich auch die anderen Werkgruppen daher, seien dies nun Strand- und Landschaftsbilder oder aber "keltisch inspirierte" archaische Figuren. Schließlich verläßt man die Ausstellung durch einen abgedunkelten Gang mit der Videoinstallation "Feedback", wo sechs unterschiedliche Tapes den Elektrogitarristen McCartney parallel beim Rückkoppeln zeigen. Das soll, sagt der Begleittext, Roheit und Spontaneität als Quell der Kreativität symbolisieren, und weil die Bandschlaufen unterschiedlich lang sind, kommen somit unwiederholbare, einzigartige Klangstrukturen zustande - sag das mal jemand einem zeitgenössischen DJ!

Es hat freilich keinen Sinn, McCartney seinen Dilettantismus nachzutragen. In seinen Bildern regiert ein etwas verschrobener Amateurehrgeiz; er weiß das vermutlich alles selber. Einzelne Arbeiten, vielleicht sieben oder acht, könnte man öffentlich als ganz gelungen, wenn auch als belanglos bezeichnen, wüßte man nicht, daß Siegen und sein Künstler nach solcher Anerkennung gieren und die Ausstellung sogleich rund um die Welt schicken würden.

Viel lustiger ist ohnehin, welche Blüten die unverhoffte Gunst des Schallplattenmilliardärs in der gastgebenden Stadt treibt. Das Magazin Sitty, das praktischerweise von der Gesellschaft für Stadtmarketing Siegen e.V. mit Postadresse im Rathaus herausgegeben wird, sieht die Ausstellung in hellem Wahnsinn bereits als Beispiel "für die wachsende kulturelle Vielfalt in der Region und ein anspruchsvolles künstlerisches Niveau, das seinesgleichen sucht". Da man entdeckt zu haben meint, wie Kultur als Motor der Wirtschaft funktioniert, denkt man sich sogleich an die Spitze des Fortschritts und trumpft dort dicke auf: "Mag man woanders angesichts leerer Kassen darüber grübeln, wie man Fremdenverkehr und Handel ankurbelt - für den Kreis Siegen-Wittgenstein erweist sich die Ausstellung der Bilder eines Ex-Beatles als eine Investition in die Zukunft."

Die Siegener Zeitung schließlich zieht ihre eigenen lokalpatriotischen Schlüsse aus den Leserbriefen, die auswärtige Siegerländer angeblich zuhauf nach Hause schickten: "Der Tenor der Zuschriften: Wir sind stolz auf Siegen! Das sollte auch das Selbstwertgefühl der Siegerländer und Wittgensteiner stärken. Denn die Region hat neben der schönen Landschaft auch kulturell mehr zu bieten, als viele Miesepeter wahr haben wollen." Siegen ist, wie gesagt, mit Sicherheit Liverpool und schließt seinen großen Sohn fest in beide Arme.