Einstellung als Einstellung

»Der Blick des Besatzers»: Propagandafotografie der Wehrmacht in Marseille 1942 bis 1944.

Zumindest in einem Punkt hat Guido Knopp Recht: Das ausgehende Jahrhundert ist (auch) das der Bilder. Die fotomechanische bzw. filmische Repräsentation von, ja, was: Wirklichkeit?!, hat den Siegeszug angetreten, und auch nach gut hundert Jahren ist der Authentizitätsbonus noch nicht gänzlich verspielt.

Vor einigen Wochen wurden »Die Bilder des Jahrhunderts« als biggest TV-documentary ever vorgestellt. Knopp lächelt raumgreifend in die Kamera. »Wenn wir im kommenden Jahrhundert mit uns ins Reine kommen wollen, bedeutet das auch Versöhnung.« Der ZDF-Historiker zumindest hat gelernt aus der Vergangenheit: »keine Kollektivschuld, aber Kollektivverantwortung«. Ein kleiner Preis, denn »niemand hat am Ende des Jahrhunderts so viel Grund zur Freude wie wir Deutschen«.

Der Historiker Guido Knopp ist mit seiner Art der Geschichtsvermittlung in eine Marktlücke gestoßen, denn anders als z.B. in Frankreich mangelt es in Deutschland »an seriösen Buchausgaben, die 'Europa unterm Hakenkreuz' im Bild darstellen würden«, schreibt Ahlrich Meyer, Professor für Politikwissenschaft an der Oldenburger Carl-von-Ossietzy-Universität, im Vorwort des von ihm herausgegebenen Fotobandes »Der Blick des Besatzers«. »Insbesondere zu den Themen Holocaust und NS-Gewaltverbrechen finden sich kaum kritisch edierte Monographien auf der Basis photographischer Quellen.«

Bildbeschreibung: eine große Straße. Zwischen den Häuserreihen, die im Hintergrund einem Fluchtpunkt zulaufen, fährt eine Straßenbahn. Man sieht Passanten, Fahrräder, Markisen und Reklametafeln von Geschäften und Hotels. Die Menschen auf dem Bürgersteig sind stehen geblieben, Fahrradfahrer haben angehalten. Auf der rechten Seite des Bildes, von einem Streifen Sonnenlicht beschienen, ein Panzer. Besatzungsalltag.

Das Bild datiert vom November 1942. Die Straße ist die Canabière, die alte Hafenstraße von Marseille. Daneben ein Bild, das französische Passanten zeigt, die den Einmarsch der deutschen Truppen verfolgen. Die Original-Bildlegende lautet: »Südfrankreich steht jetzt unter dem Schutze der deutschen Wehrmacht.« Werden die Fotografien in ihren Kontext gebettet, verliert sich der Eindruck einer fast friedlich anmutenden Normalität und verkehrt sich ins genaue Gegenteil.

Die Fotografien, die Meyer für den Band »Der Blick des Besatzers« zusammengestellt hat, stammen von den so genannten Propagandakompanien (PK), Einheiten, die neben der Waffe auch mit der Kamera kämpften. Sie sollten die deutsche Besetzung Europas zwischen 1939 und 1945 im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie dokumentieren.

»Die von der Militärzensur freigegebenen PK-Aufnahmen«, so Meyer, »rücken vor allem eine interessierte Menschenmenge ins Blickfeld, die wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen scheint, daß Südfrankreich jetzt 'im Schutze der deutschen Wehrmacht' steht. Ein Topos, der das deutsch-französische Verhältnis markiert: Die Franzosen bewundern uns, unsere Technik, Ordnung, Disziplin und unsere siegreiche Armee.«

Der Band folgt der Chronologie der Ereignisse: von der Besatzung Ende 1942 über die Massenrazzien im Januar 1943 bis zur Deportation der Jüdinnen und Juden aus Marseille und der Zerstörung der Altstadt am Hafen. Die Bilder, so Meyer, seien als Dokumente zu verstehen, die der gleichen sorgfältigen Quellenkritik und Kommentierung bedürfen, wie man es vom Umgang mit schriftlichen Quellen gewohnt ist. Ausdrücklich weist der Herausgeber darauf hin, dass es sich nicht um eine illustrierte historische Darstellung handelt, sondern um eine Quellensammlung, mithin um den Versuch, der Fotografie eine angemessene Rolle im wissenschaftlichen und vergangenheitspolitischen Diskurs zuzuweisen.

Meyer setzt so in der Gegenwart an, bei der Frage, welche Relevanz den Bildern heute zukommt und wie sie wissenschaftlich sinnvoll zu interpretieren sind. Damit wird die Arbeit in Beziehung zu jenen Debatten gesetzt, die den Normalisierungsdiskurs bestimmen. Einleitend beschäftigt sich Meyer mit der Rolle, die der Fotografie innerhalb der deutschen Vergangenheitsbewältigung zukam. Die »zweifelhafte Nostalgie«, die Bildbänden mit historischem Fotomaterial anhaftet, trifft »auf ein Grundvertrauen gegenüber der Photographie, das den Doppelcharakter des Lichtbilds als stillgestellte äußere Wirklichkeit und Inszenierung derselben im Blick des Photographen übersieht«.

Für diesen Blick des Fotografen hat die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch vor Jahren die Formulierung gefunden: »Die Einstellung ist die Einstellung.« Koch weist anhand der visuellen Konstruktionen des Judentums durch die Nationalsozialisten nach, dass das Bild, das für sich genommen nichts sage, weder von der Position des Produzierenden noch von der des Betrachtenden abstrahiert werden kann. Entscheidend ist die selbstreferenzielle Bewegung, mit der die Bilder das Objekt - den Ort, »den Juden« - der eigenen Einstellung anverwandeln, ganz gleich, ob zwei Soldaten zu sehen sind, die über die sonnenüberflutete Befestigungsanlage Ch‰teau d'If in Marseille schlendern oder ob es sich um Aufnahmen aus dem Getto in Lodz handelt.

»Die Nazis haben«, schreibt Koch, »innerhalb kürzester Zeit Juden nach ihrem Bild geschaffen; was sie selbst erst verursacht hatten, wurde nun propagandistisch als ontologischer Zustand 'jüdischer Natur' vorgeführt.« Die realen Bilder, also die Fotografien, korrespondieren mit den Bildern des Imaginären, mit Stereotypen und Klischees vom Juden. Die idyllischen Bilder der ersten Monate der Besetzung Südfrankreichs bilden, indem sie - bereits während des Krieges - auf den Topos der sauberen Wehrmacht rekurrieren, gleichsam die Kehrseite jener Selbstbestätigung, die die Dokumentation von der »Endlösung« im Osten ausmacht.

Allerdings sind die Fotografien aus Marseille nicht ausnahmslos dem »sauberen« Krieg gewidmet. Nach den Razzien im Januar wurde im Februar 1943 das alte Hafenviertel geräumt. Auch in der Inszenierung des »Säubernden« finden sich Bildelemente, die den Dualitäten »sauber/schmutzig« und »Ordnung/Unordnung« folgen. Eine Abbildung zeigt z.B. PK-Leute auf dem Pont Transbordeur, der Schwebebrücke am Hafen. Die Männer suchen, sich in Strategenmanier eine topografische Übersicht zu verschaffen. »Zu ihren Füßen«, schreibt Meyer, »liegt das Hafenviertel, doch die Szene wird durch das Geschehen im Vordergrund beherrscht: Männer beugen sich über einen Tisch, um eine Schlacht zu planen. In diesem Fall ist es eine 'Propagandaschlacht', denn hier geht es um Vorbereitungen zur fotografischen und filmischen Dokumentation des Hafenviertels vor seinem Untergang. Der Fotograf greift ein bekanntes Bildmuster auf, das wir in zahlreichen Aufnahmen der NS-Zeit wiederfinden. Ob Generäle oder Gauleiter, stets sind die Köpfe über Karten gebeugt, Zerstörung und Neuordnung werden zu einem Planspiel.«

Zugleich werden Vertreibung und Ermordung in die Ikonografie des normalen Krieges eingegliedert: Der Blick über die Schulter des Feldherrn, der dem Betrachter Teilhabe an dessen strategischer Planung suggeriert, ist ein fester Topos der Kriegsmalerei, der hier dazu dient, den militärischen und medialen Vernichtungskrieg als Normalität darzustellen.

Bedingung dieses Selbstbildes ist die Konstruktion des Anderen, auch mit Hilfe der fotografischen Darstellung. »Dennoch beschönigen die Filme«, schreibt Gertrud Koch über die Filmaufnahmen im Warschauer Getto, »die realen Zustände in einer unvorstellbaren Weise dadurch, daß sie die ins Getto Gezwungenen zu Mitspielern einer Farce degradieren, die so tut, als seien sie dort in ihrer eigenen Lebenswelt, ganz bei sich zu Hause.«

Eine vergleichbare Strategie des Einschlusses verfolgen die Aufnahmen des Marseiller Hafenviertels, die anlässlich eines Ortstermins einer PK-Gruppe entstanden sind und zunächst wie pittoreske Stadtbilder wirken. Der fotografische Gewaltakt der Aneignung erschließt sich erst über die Kontextualisierung des Bildes. Der »nach dem Elend und Dreck der Gassen, nach der Verwahrlosung der Menschen« suchende Blick des PK-Fotografen Vennemann nimmt, wie Meyer schreibt, die »Bereinigung« des Viertels bereits vorweg.

Noch deutlicher lassen die Aufnahmen

der Deportation der Marseiller Juden vom 23./24. Januar 1943 erkennen, welchem Auftrag die Propagandakompanien folgten: »Bestätigungen für das Stereotyp des 'Juden' und des 'Asozialen' im Bild festzuhalten. Solche Porträts dürften nicht ohne professionelle Qualifikation entstanden sein, jedenfalls verraten sie eine rassekundliche Sicht in der PK-Fotografie.«

Auch Daniel Goldhagen hat (allerdings meist private) Fotografien in seine Analyse miteinbezogen, ohne sie auf rein illustratives Material zu reduzieren. In seinem Sinne bleibt zu fragen, inwieweit sich die Fotografien »wie von selbst« in die antisemitische und rassistische Matrix einschrieben. Und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die es ermöglicht, diese Bilder auch heute noch als »objektive« Dokumente zu lesen.

Ahlrich Meyer verweist am Beispiel der deutschen Besatzung Frankreichs auf propagandistische Strategien der Darstellung, die den Schluss nahelegen, dass die Wehrmacht schon Anfang der vierziger Jahre darauf bedacht war, das Bild, das sich die Nachwelt von der Besatzungszeit machen würde, mitzuprägen. Eine Fotografie zeigt z.B. zwei vor einem Postkartenständer stehende Soldaten - eine Urlauber-Idylle: das seit Herbst 1942 vollständig besetzte Frankreich als Naherholungsgebiet für die kämpfende Truppe. Diese Vorstellung konnte - auch von französischer Seite - sehr lange aufrechterhalten werden. Nicht zuletzt durch die Erzählung der feinsinnig-frankophilen Kreise um den deutschen Militärbefehlhaber in Paris, Otto von Stülpnagel, sowie den aus dem Reichssicherheitshauptamt kommenden Chefstrategen der Neuordnungspolitik, Werner Best. Diesem Bild der Besatzungspolitik trat erst Serge Klarsfelds Buch »Vichy-Auschwitz« entgegen, das deutlich machte, dass Frankreich gleichsam wieder ans Schienennetz deutscher Deportationszüge angeschlossen war.

Im Unterschied zur Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung widmet sich der Band »Der Blick des Besatzers« dem, wie Meyer schreibt, »photographischen 'Überschuss'«, dem trivialen Alltagsbildmaterial, um sich »die Mentalität des deutschen Blicks auf das besetzte Europa« zu erschließen. Es ist zugleich ein Plädoyer, die Fotografie als historische Quelle in der Geschichtswissenschaft stärker zu berücksichtigen.

Im Kontext der jüngsten Debatte um die Hamburger Ausstellung wird einmal mehr deutlich, woher der Wind weht, wenn nach einer grundsätzlichen Revision des Interpretationsrahmens gerufen wird. Und: Der Herausgeber Ahlrich Meyer entgeht der Gefahr, in die sich das Hamburger Institut für Sozialforschung durch seine Aneignung des Totalitarismus-Paradigmas hineinmanövriert hat.