How did you do it, Sascha?

Der Prenzlauer Berg und seine Historiker. Über eine Kritik, die nur im Verhältnis zu sich selbst auftritt.

Vor wenigen Wochen ließ sich anhand rekonstruierter Stasi-Akten endgültig beweisen, was auf dem Höhepunkt des moralischen Großreinemachens unmittelbar nach Mauerfall Jürgen Fuchs und vor allem Wolf Biermann in seiner Büchner-Preisrede 1991 behauptet hatten: Sascha Anderson, Promoter der Kunst- und Literaturszene in Prenzlauer Berg, war ein »Arschloch«, weil er seit 1971 in der DDR und auch nach seiner Übersiedlung 1986 nach West-Berlin als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) unter dem Decknamen David Menzer für die Stasi gearbeitet hatte.

Na und? Wer interessiert sich überhaupt noch für die Gartenzwerge in irgendwelchen Kunst-Schrebergärten im Osten? Wurde die Ost-Szene, ob mit oder ohne Stasi-Verschaltung, nicht längst parzelliert in Bürgerrechtler (Jürgen Fuchs), Biografie-Verwerter (Lutz Rathenow) und Underground-Barden (Bert Papenfuß-Gorek)? Lediglich die vierte Kategorie, jene der politisch unbelasteten Ästheten, zu der der Büchner-Preisträger und FAZ-Liebling Durs Grünbein gezählt wird, hat im westlichen Kulturbetrieb einen Logenplatz gefunden. Die meisten der DDR-Kulturschaffenden waren und sind darauf fixiert, das böse kommunistische DDR-Regime und die Sache mit der Stasi biografisch aufzuarbeiten, auch wenn es eigentlich im Westen keinen mehr interessiert, seit sie vorauseilend den Zweck erfüllt haben, die Säuberung des Öffentlichen Dienstes von IMs moralisch zu flankieren. Von Nostalgie über Neurosen bis zum Flagellantentum reichen die psychologischen Beschädigungen.

Doch jetzt, seit die Feuilletons von Süddeutsche Zeitung, FAZ, Berliner Zeitung und Tagesspiegel dem Fund der Anderson-Akte große Artikel widmeten und der SFB ein langes Feature dazu brachte, rückte das eigentlich abgehakte Thema wieder auf die Tagesordnung. Warum setzte die Debatte ausgerechnet jetzt wieder ein, nach der Ende der Neunziger für überwunden geglaubten Stasi-Hysterie? Und wem nützt sie? Oder ging es schlicht darum, der so genannten Wahrheit, die durch die aufgetauchten Akten klar und unumstößlich erscheint, Genüge zu tun?

Sollte das der Fall sein, und einiges spricht dafür, dann hätten wir es mit einer verspäteten moralischen Aufrechnung zu tun, und die ist bekanntlich auf eine instrumentelle Historizität aus, deshalb aber nicht weniger stinklangweilig. Denn je länger das moralisch zu evaluierende Ereignis zurückliegt, desto glaubwürdiger erscheint das Urteil in der Jetztzeit. Doch so viel sei schon vorab gesagt: Das Knochengerippe der deutsch-deutschen Moral im »Wiedervereinigungsprozess« wird man dereinst eingemauert im Fundament zweier Bungalows in Wandlitz und Oggersheim finden, und nicht in Sascha Andersons Weinkeller.

Ein kurzer Abriss der Anderson-Karriere: Seit Erscheinen des Bild-Text-Samplers »Jeder Satellit hat einen Killersatelliten« 1982 im West-Berliner Verlag Rotbuch wurde Anderson über Nacht auch im Westen bekannt und als Promoter und Manager der unabhängigen Literatur- und Kunstszene der DDR akzeptiert und hofiert; seit 1971, ergaben die jetzt von der Gauckbehörde zusammengeschnipselten 1 350 Seiten der Andersonschen Berichte, arbeitete er für die Stasi für ein Monatsfixum von 500 Ostmark zuzüglich Spesen sowie ein Stasi-Geschenk zum Geburtstag; 1986 folgte er seiner mittlerweile exilierten Ost-Boheme-Szene nach West-Berlin und war vermutlich bis zum Mauerfall für die Stasi tätig (»gerade durch meine übersiedlung ergeben sich neue wichtige bereiche (...). für mich ist die inoffizielle zusammenarbeit mit der staatssicherheit eine möglichkeit, politisch tätig zu sein, ohne politiker zu werden«, machte er der Stasi seine Ausreise schmackhaft); 1991 flog Andersons Doppelleben auf; nach der Wende war Anderson Mitbegründer des Verlags Galrev.

Weil er bereits 1996 vom Berliner Kammergericht wegen geheimdienstlicher Tätigkeit zu einer Geldstrafe von 3 000 Mark verurteilt worden ist (»ein messbarer Schaden für die Bundesrepublik bzw. Einzelner war nicht feststellbar«, so die Begründung des Gerichts für die milde Strafe), also die jetzigen Funde keineswegs etwas Neues zu Tage fördern und strafrechtlich irrelevant sein dürften, scheint die Frage nach dem »Warum gerade jetzt« das eigentlich Spannende an der ganzen Aufregung zu sein.

Gönnen wir uns den hermeneutischen Spaß, die Rekonstruktion des Informanten als »Kulturminister des Underground« (Tagesspiegel) der Kunstszene Prenzlauer Berg näher zu betrachten. »Er war nicht einfach ein Spitzel«, heißt es da, »die rekonstruierten IM-Akten belegen, wie sich der Dichter die Stasi zunutze machte.« Um Konkurrenten auszustechen und die Szene zu Gunsten der eigenen Karriere kontrollieren zu können, sei Anderson zu einem »IM neuen Typs« aufgebaut worden, der die Szene entpolitisieren, die westdeutschen Medien beeinflussen und schließlich die kritischen Stimmen in der eigenen Szene marginalisieren soll. So viel operative Genialität trauen nur die nachgeborenen Geschichtsschreiber der Stasi zu. Autor Klaus Michael resümiert: »Der Fall Anderson erzählt von einem fehlgeleiteten Karrierebewusstsein. Und er wird als Lehrstück über Macht und Moral, Verrat und Engagement und über die Verantwortung des Intellektuellen in die Geschichtsbücher eingehen.«

Da haben wir das Grundmotiv der neu entfachten Debatte, das Interesse an der instrumentellen Historizität des westdeutschen Standpunkts, selbst wenn er von Ost-Autoren vertreten wird, dass Abweichungen vom manichäistischen Strickmuster des Intellektuellen passgenau abgeschliffen werden, bis sie wahlweise in die Kategorien Gut oder Böse hineinpassen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es kann nicht darum gehen, Andersons Aktivitäten aus dem sozialen Kontext herauszulösen, sie politisch zu entzerren. Genauso wenig sinnvoll wäre es, sie als Modellfall ästhetischer Praxis im Sinne einer Kunst-Leben-Collage zu betrachten, was durch die historischen Vorläufer im Dadaismus oder in der Spaßguerilla durchaus möglich wäre und sogar eine mittelprächtige Dissertation abgeben würde. Es kann in der Debatte nur darum gehen, die Dualismen von Macht und Moral, Verrat und Engagement abzuwehren und stattdessen die moralisch intendierte Kritik an den Stasi-Verwicklungen der Ossis als eine sozialgeschichtlich instrumentelle zu begreifen.

Michel Foucault misstraute einer Kritik, die »nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst« auftritt. Kritik, so Foucault weiter, »ist Instrument zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann. All das macht, dass sie eine Funktion ist, die dem untergeordnet ist, was die Philosophie, die Wissenschaft, die Politik, die Moral, das Recht, die Literatur usw. positiv darstellen.«

So betrachtet, beziehen sich die gegen sozial Gefallene vorgebrachten Anschuldigungen, Vorwürfe und Kritiken auf ein spekulatives Wahrheitsmodell; eine mit Urteilssprechung verbundene Kritik macht sich am Ende zur Gehilfin eines Dogmas, das fälschlicherweise mit der so genannten Wahrheit gleichgesetzt wird.

In seiner Skizze »Ästhetik der Existenz« beschrieb Foucault das »Verhältnis zwischen Subjekt, Wahrheit und Konstitution der Erfahrung« als Problem-Dreieck der menschlichen Existenz überhaupt, das er in seinen Büchern auf den Gebieten des Wahnsinns, der Sexualität und der Delinquenz immer wieder untersucht hat. Man kann durchaus einwenden, Anderson sei ein zu kleines Licht, um das dunkle Stasi-Mittelalter zu beleuchten. Interessant wird es, wenn man über die persönliche Ebene der direkt Betroffenen hinaus die Ost-West-Konfliktlinien, die auch Andersons mediale Rezeption bestimmen, herausfiltert.

Neben der Währungsunion, die über die ökonomischen auch die sozialen Beziehungen zwischen den Alt- und Neudeutschen nach westlichen Kriterien neu zu regeln versuchte, war es vor allem ein kulturelles Deutungsmuster der DDR als ein von der Moderne ausgeschlossener Irrweg, das zur heutigen Schieflage in der Betrachtung von DDR-Kunst und ihrer halböffentlichen Distributionswege führte. Die politische und kulturelle Abgeschlossenheit der DDR nach Westen und Osten lenkte die Künstler auf einen »nationalen Diskurs«, zumal diese Tradition 1938 unterbrochen worden war; auf Grund der staatlichen Kontrolle übernahm insbesondere die Malerei kommunikative Ersatzfunktionen; so hatte die 8. Kunstausstellung der DDR 1978 über eine Million Besucher, die hier mit Alltagsproblemen wie Altersversorgung, Gesundheitswesen, Ökologie und Städtebau sich auseinandersetzende, allegorisch verkleidete »Problembilder« vorfanden; schließlich bildete sich ein privater bzw. halböffentlicher Verteilungs- und Diskussionsbereich heraus, in dem zwielichtige Figuren wie Anderson agierten. Dass neben Prenzlauer Berg vitale Zirkel in Leipzig oder Berlin-Biesdorf existierten, interessiert die westdeutsche Öffentlichkeit weniger, taugen sie doch nicht zu einer saftigen Stasi-Story.

Die westliche Karikatur sieht die DDR-Künstler als Schein-Subjekte der Geschichte oder als Opfer der Stasi, die in einem politischen und kulturellen Neandertal lebten und arbeiteten. Angeblich, so will es die Legende, blühte hinter der Mauer - die für Joseph Beuys ein soziales Kunstwerk war, das er wegen der missratenen Proportion sogar um elf Zentimeter erhöhen wollte -, in Prenzlauer Berg, die Underground-Romantik. Künstlerische Autonomie soll hier keine ästhetische Kategorie, sondern eine Variable des real existierenden Sozialismus gewesen sein. Auch soll das Regime die Ausstellungen, Performances, Lesungen und Partys in Privatwohnungen erlaubt haben, um die Szene besser kontrollieren zu können. Während die westdeutschen Feuilletons Prenzlauer Berg vor Mauerfall zum Mythos hochjubelten, beschimpften Biermann, Fuchs und Rathenow - der seine staatspolitische Reife mit Artikeln in der rechten Jungen Freiheit ablegte - nach der Wende den Künstler-Kiez als Gartenkolonie der Stasi. Mag ja alles stimmen. Nur: Selbst wenn die Szene mit Stasi-Spitzeln noch so durchsetzt war, sie kümmerte sich nicht groß darum. Es dominierte seit Mitte der achtziger Jahre ein Leckt-mich-am-Arsch-Lebensgefühl, wie sich der Foto-Künstler Thomas Florschuetz, 1988 nach West-Berlin übergesiedelt, erinnert: »Mir war seit 1982 klar, dass das politische System subversiv gegen sich selbst war. Es wartete geradezu auf einen Protestsong, denn es brauchte einen sichtbaren Gegner. Wir haben uns um einen Dialog gar nicht mehr bemüht.«

Der Prenzlauer Berg bedient vielfältige politische, soziale und künstlerische Ressentiments. Er speist den Futterneid von West-Künstlern, weil sie den Dissidenten-Bonus ihrer Ost-Kollegen künstlerisch nicht gutschreiben wollten. Die DDR-Bürgerrechtsbewegung entsolidarisierte sich und lieferte die DDR-Subkulturen ans Messer. Ihr bleibendes historisches Verdienst, so das höhnische Urteil der bürgerlichen Presse, die jetzt, wie schon zu Beginn der Neunziger, in Sascha Anderson das stellvertretende Übel einer moralisch maroden Kunstszene sieht.

Die Neugierde der DDR-Bürger unmittelbar nach Mauerfall galt insbesondere jenen Produkten, die der Sozialismus entweder nicht zu bieten oder für dekadent erklärt hatte: Heimwerkermärkte, Aldi-Filialen und Telefonsex. Die Ersatzkommunikation über »Problembilder«, die allegorische Lesefähigkeit der Lebenswirklichkeit schien ausgedient zu haben. Was sich nach der Währungsunion so gut angelassen hatte, steht heute wieder zur Disposition. Da prallen nicht Sozialneid und Leistungsbereitschaft aufeinander, sondern zwei verschiedenartige Konstitutionen von Erfahrung. Zwar wurden eine Menge Denkmäler abgerissen, aber da war auch viel Scheiß darunter. Wo der Wessi von Lebensstil spricht, meint der Ossi die Konstruktion von »Identität«.

Matthias Flügge, langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift neue bildende kunst und derzeit Vize-Präsident der Akademie der Künste, bilanziert die kulturelle Schieflage: »Die Anerkenntnis der DDR-Kunst als einen aufschlußreichen Sonderweg jüngster europäischer Geschichte würde auch eine Neudefinition der sogenannten 'Westkunst' bedeuten. Die Bereitschaft dazu ist in Deutschland gering. Einfacher ist es, sie in die Abteilung Totalitarismus der historischen Museen zu ordnen: als ungeliebte Erinnerung, ferne Geschichte und verdrängte Identität.«

How did you do it, Sascha? Zweifellos haben Andersons ehemaligen und von ihm bespitzelten und politisch gelenkten Weggefährten wie Ralf Kerbach, Helge Leiberg, A.R. Penck und insbesondere Cornelia Schleime das Vorrecht, ihn ein »Arschloch« zu nennen. Dass er ein Lügner war, wissen wir spätestens seit dem Anderson-Filmporträt »Verrat«, das im Herbst 1999 in Deutschland ausgestrahlt worden ist. Die schwedische Filmdokumentation zerpflückt einige der Anderson-Mythen. So saß er 1980 zwar im Knast, aber nicht, wie er streuen ließ, weil er gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung protestiert hatte, sondern wegen ordinären Scheckbetrugs. 1991 schrie Anderson nach einer Veranstaltung in der Berliner Volksbühne Wolf Biermann an: »Wegen Ihnen habe ich im Knast gesessen und eine Niere verloren, und Sie erzählen so einen Scheiß.« Der überrumpelte Biermann war sprachlos. Die Lüge ist die Waffe des Kleinbürgers, sie zielt aufs Emotive. Nach diesem Film, der in der bewegenden Begegnung zwischen dem selbstgefälligen Anderson und der von ihm jahrelang ausgehorchten Künstlerin Cornelia Schleime gipfelt, bleibt dem »Arschloch« nicht einmal mehr die Legende vom Kleinkriminellen ˆ la Jean Genet übrig.

1982 baten Ralf Kerbach und Cornelia Schleime, die in den Westen gingen, Anderson um Aufbewahrung des Schlüssels zu ihrem Atelier in Dresden. Dieser übergab laut Tonbandabschrift die Schlüssel an die Stasi. Die Malerin Schleime verlor über 100 Bilder, praktisch ihr gesamtes Îuvre. Heute tauchen Bilder aus diesem Bestand auf dem Kunstmarkt auf. Jeder Satellit hat eben einen Killersatelliten.

Vertrauensbruch, Spitzelei, Geruchsproben, kontrollierte Dissidenz: Coole Ossis wie Gerd Harry »Judy« Lybke, Exponent der Szene in Leipzig und nach Mauerfall Pionier des Galerienviertels Mitte, erfuhr vor kurzem, dass die Stasi Geruchsproben von ihm in Einmachgläsern angelegt hatte. Sein Kommentar: »Die Geruchstücher würden ihnen aber gar nichts mehr nützen, da ich meine Ernährung umgestellt habe und jetzt ganz anders rieche.«

Das ostdeutsche Matthias-Domaschk-Archiv veröffentlichte ein Anderson-Dossier in der Zeitschrift Horch und Guck, Heft 28 (1999/4), Ruschestraße 103, Haus 1, 10365 Berlin, Tel.: 030- 553 05 51