Welt der Warenformen IX

Anna Karenina

Selten ist die Frau mit den unfrisierten Haaren zu sehen. Sie öffnet ihren Friseursalon nur dienstags und donnerstags. Umso erfreuter war ich, eines Tages vor dem Regen in ihr Geschäft flüchten zu können. Es bimmelte und roch nach Tod.

Der Duft des Vergänglichen entströmte Kisten, in denen Kinderschuhe und Opamäntel lagen. Und Plastikkassettenboxen mit den besten Schlagern aus »Ohne Hemd und Höschen«, der Schlagershow, die zwei Sennerinnen aus der Holzwanne moderierten. Wahrscheinlich haben sie die ehemaligen Besitzer der Opamäntel auf dem Gewissen. Wer über 40 verträgt das schon: die aufgedunsene Hackfresse von Karel Gott sehen und sich dann die Schlafanzughose versauen.

Jetzt bimmelte es nicht mehr, sondern es war totenstill. Das mit dem Höschen konnte man zumindest dem Coverfoto nicht entnehmen. Die Frage quälte mich, warum Plattencover heute nicht mehr braun bedruckt werden. »Ich habe noch etwas zu erledigen«, zischte es hinter mir. Ich fuhr herum und glaubte, Gunda Röstel zu sehen. Doch es war nur die unfrisierte Friseuse. Sie lachte, schüttelte die Mähne, die den Duft von AntióAtomkraftóDemos und lila Latzhosen verströmte, und war dann ó verschwunden: »Bestellen.«

Unter dem HöschenóCover lag Tolstoi mit »Anna Karenina« und darunter ein ausgeblichener Reiseführer Sowjetunion von 1979. »Die spezifischen Kulturen der verschiedenen Nationen und Völkerschaften der Sowjetunion durchdringen einander jedoch auch gegenseitig, und so prägt sich immer stärker ein ganz neuer Volkscharakter der Bewohner des Landes aus«, stand da. Ein Hinweiszettel »sterilized« entfiel dem Büchlein. So roch es aber nicht. Wie kann das sein?

Gunda Röstel öffnet zweimal die Woche für acht Stunden einen Friseursalon, verkauft an niemanden Scheiße in Kisten, ohne den Preis zu kennen? »Ich muss mal nachdenken«, meinte sie zum Reiseführer. Dann brüllte sie wieder ins Telefon: »Ja, 5 000 Stück will ich.« Dann brüllte sie zu mir, als sei ich genauso weit weg wie der Mensch am Telefon: »Ich habe das aus Auflösungen.«

Hmmm, ja, ja, die Sowjetunion ist heute Russland. Da war bestimmt auch das andere Ende der Telefonleitung. Die Friseuse bestellte Zigaretten bei der Russenmafia. Es ergab einen Sinn. Sie hat Geld genug für einen Riesensalon ohne Kunden. Und falls sich doch jemand hierher verirrt, geht er bald wieder. Und kommt nicht mehr. Gunda Röstel holte aus der Kiste unterm Tisch mit diversen Schlingpflanzen die Scheren und begann an mir herumzuschneiden. Sie riss die Haare samt Wurzeln aus, so stumpf waren die Scheren. Es sollte mir eine Lehre sein, nie wieder eine ExóAgentin und MafiaóMitarbeiterin zu behelligen. Sie schnitt und lachte. Ich schlug »Anna Karenina« auf. Ein Kärtchen entfiel dem Büchlein: »Bedaure nie, was gestern war, das Leben ist heute in Dir, und du bestimmst Dein Morgen.« L. Ron Hubbard. Tatsächlich. Die Sowjetunion ist tot, aber das System lebt. Die Friseuse lachte.

Nach zehn Minuten schritt ich blutenden Hauptes von dannen, zahlte 35 Mark, und verstand womit sie wirklich ihr Geld machte Haareschneiden. Aber »Anna Karenina« durfte ich mitnehmen. »Ohne Hemd und Höschen« wäre wohl die bessere Wahl gewesen.