Welt der Warenform XI

Halbes Hähnchen

Gestern sollte ich ein Hähnchen kaufen. Ein ganzes. Ich esse eigentlich kein Fleisch mehr, aber meine Tochter ist geil darauf ... Was soll's: Ich trinke auch keinen Alkohol mehr und sitze vor einem Pintglas voll Campari-Orange.

Es war der heißeste Tag des Jahres und das merkte man auch dem Hähnchenmann im Kaufhof an. Kurz vor Feierabend, wir sind unter uns - er, ich und die letzten 20 Hähnchen. Ich verlange ein Hähnchen, »ein ganzes«, gut gelaunt, weil ich dem Mann und der Konjunktur helfe. Als er es einpacken will, frage ich freundlich, ob er's mir durchschneiden könne. Ich meine, ich bin der einzige Kunde, seit Stunden. Er zeigt auf ein Schild hinter sich. 2,79 lese ich. »Halbe Hähnchen kosten 2,79«, sagt er. »Oh, geil, Schnäppchen«, denke ich matt - is' aber nich', kann ja nicht, weil ein ganzes Hähnchen kostet 4,99 und die habe ich ihm schon hingelegt. Also gucke ich ihn dämlich und freundlich fragend an. Er wiederholt, halbe Hähnchen kosten 2,79, und Durchschneiden ist Service. Ich lache später, dann aber richtig, nicht fröhlich, eher verzweifelt.

Es ist dieselbe Nummer wie die Taxifahrt vor vier Wochen in Potsdam. Mit einem alten Freund möchte ich ordentlich einen abbeißen gehen. Wir ordern ein Taxi - Potsdam ist riesig! Der Taxifahrer sieht aus wie ein Potsdamer Taxifahrer, eins zu eins. Wir setzen uns gut gelaut in den Wagen - froh, dem Mann Arbeit zu geben, und los geht's.

Mein alter Freund fragt freundlich, wo denn die Kurbel fürs Fenster sei ... »Brauchste nich, ick hab Klimaanlage!« - »Ach so, kannst trotzdem das Fenster runtermachen?« - »Ick sach doch, ick hab Klimaanlage, wenn icks Fenster runtermache, brauch ick die ja wohl nich!« - »Kannste trotzdem das Fenster runtermachen, ist nicht gerade die beste Luft hier drinnen.« - »Ick bin jetze seit acht Stunden unterwegs, aber sowat hat bis jetzt noch keener jesagt.« Ich sitze auf dem Rücksitz, lache lautlos und ungläubig in mich rein.

Und dann formuliert der Taxifahrer ohne Not: »Jetz kommt wohl ooch gleich noch der Satz 'Der Kunde is König', oda watt ...« - »Okay, halt an! Fahrt endet hier«, sagt mein Freund. Es sind noch einige Meter bis zur Bar, und leider wird der Abend nicht viel besser. Als ich im Pub Bier und Obstler bestelle, fixiert mich der tätowierte Fachoberschulenabbrecher hinterm Tresen solchermaßen, dass ich denke: »Wie komme ich hier wieder raus, und was habe ich getan?«

Anywaypopennyway - wer auch immer diesen Menschen ins Hirn geschissen hat, es interessiert mich nicht. Mir fällt nur auf, dass ich in keiner dieser Situationen die geringste Regung verspürte, mich mit ihnen zu streiten.

Ich frage mich, ob es anderen auch so geht, dass sie keinen Antrieb haben, Energie in hoffnungslose Manöver zu verblasen ... Oder bin ich der einzige, der das Gefühl hat, Begriffe wie »Service« und »Dienst« klängen hier und heute wie »Analverkehr»? Ich meine, wenn die Leute keine Lust zum Arbeiten haben, sollen sie's lassen. Es gibt doch genügend ... Arbeitskräfte ... z.B. ...

Früher dachte ich, vielen Leuten geht's schlecht, und weil sie's nicht besser wissen, wollen sie, dass es anderen ebenfalls schlecht geht. Heute denke ich, vielen Leuten geht's gut, und sie fühlen sich trotzdem beschissen. Warum sie wollen, dass es anderen Leuten ebenfalls beschissen geht, weiß ich nicht, und meine Lebenszeit ist zu knapp bemessen, um es herauszufinden.

Ich z.B. liebe meine Arbeit, und werde ich noch so schlecht bezahlt, gebe ich doch mein dunkelstes Herzblut. Weil es eben nicht nur um Geld und den Arbeitsplatz geht, sondern um Liebe, um Liebe und Anerkennung, Ruhm, Fun, Sex, Drogen und so viel mehr.

P.S.: Das Hähnchen wars Durchschneiden nicht wert, das Taxi stank nach Furz und das Tattoo des Tresenkerls würde ich keinem meiner schlimmsten Feinde auf den Arsch wünschen.