Der Filmkritiker Helmut Färber

Die Maßgaben der Filmkritik

Helmut Färbers kinematografische Arbeiten handeln von den unterschlagenen Möglichkeiten des Films. Arbeiten an der Geschichte des Sehens.

Erstens: Anderes schreiben - und lesen - als nur Besprechungen neuester Filme. Zweitens: Anders schreiben - und lesen - als nur innerhalb der Form urteilender, möglichst abschließender Abhandlungen.« So bestimmte Helmut Färber 1967 die Maßgaben seiner Arbeit in der Zeitschrift Filmkritik. In scharfer Abgrenzung zum Rezensionsfeuilleton forderten die Autoren der 1957 gegründeten Zeitschrift von der Kritik die Beschäftigung mit strukturellen Problemen des Films und rückten das methodische Problem des Schreibens über den Film - die Transformation von Bildern in Worte - ins Zentrum ihrer Arbeiten.

Färber kam in den sechziger Jahren zur Filmkritik, 25jährig, ein Film-Club-Bewohner bis dahin, mit einer Liebe zur Kinematografie, die er später durch seine Arbeit beweisen würde. Er ist den eigenen Forderungen treu geblieben, z.B.: »Selbst wenn es soweit ist, daß man sich Filme überall wie jetzt Bücher ausleihen kann«, seien Filmbeschreibungen nicht überflüssig geworden. Filmtexte-, beschreibungen,-notierungen seien Hilfsmittel, kein Ersatz für das Bild, das Kino. So sah Färber selbst die Arbeit , die er sich vorgenommen hatte: Landkarten wollte er anfertigen.

In Manfred Blanks Dokumentarfilm »Die Beharrlichkeit des Blicks« (über Jean-Marie Straub und Danièle Huillet) sagt er, wenn es so etwas wie die Seele des Kinos gebe, dann sei das nicht die Filmkunst, sondern die Kinematografie. Straub/ Huillet seien auf diese Kinematografie - im Sinne Lumières -, die etwas (aktiv) bewahren, nicht nur zeigen will, zurückgegangen. Dies sei wichtig in einer Gesellschaft, in der sich alles Wahrnehmbare in Zeichen oder Signale verwandle.

1986 erschien Helmut Färbers Buch zu dem Film »Das Leben der Frau Oharu« von Kenji Mizoguchi (1952). Die literarische Vorlage des Films ist eine 1686 erschienene Erzählung von Saikaku Ihara, die die Geschichte einer Frau und ihres gesellschaftlichen Abstiegs, ihrer Vertreibung, ihrer Ortlosigkeit nachzeichnet. Die Tochter eines Samurais steht zunächst im Dienst des kaiserlichen Hofs und muss schließlich als Bettelnonne von Tür zu Tür gehen. Aber weder ist ihr Weg nach unten linear, noch erzählt ihn der Film auf diese Weise, er beginnt mit einer Episode ihres Lebens als Prostituierte.

Frieda Grafe schreibt über die Arbeiten dieses - neben Kurosawa und Ozu - wohl bedeutendsten japanischen Regisseurs: »Von Mizoguchis Frauenfilmen erscheint immer gerade der, den man sieht, der bitterste, bis dann der nächste kommt.« Auf keinen anderen Film trifft das so sehr zu wie auf »Oharu«.

Jean-Marie Straub nannte Mizoguchi »den größten marxistischen Filmkünstler«, was sich auch ohne dessen Selbstdeklaration in der Unversöhnlichkeit seiner Filme zeigt, ihrem ansteckenden Zorn über gesellschaftliches Unrecht und den Gewaltzusammenhang. Gilles Deleuze sieht Mizoguchi in seinem Filmbuch »Das Bewegungs-Bild« als Regisseur eines weiblichen Universums. Die soziologische Vorstellung Mizoguchis sei die, dass alles durch die Frauen vermittelt wird, alles von ihnen ausgeht, und dennoch zwingt das gesellschaftliche System die Frauen in einen Unterdrückungszustand, der die Form sichtbarer oder verborgener Prostitution hat. Deleuze fragt: »Wie könnten sie unter solch prekären Bedingungen überleben, sich selbst treu bleiben oder sich gar aus diesem Zustand befreien?« Diese Frage beantwortet »Das Leben der Frau Oharu« mit einem vielfachen »Überhaupt nicht!«

Helmut Färber nähert sich Mizoguchis filmischer Interpretation des Schicksals der unglücklichen Oharu, mit einer detaillierten Filmbeschreibung und der Nachschrift des Dialogs. In dem zweiten Band zu »Oharu«, für den Färber Einstellungen des Films abfotografiert hat, wird die Art des Regisseurs, mit dem Raum umzugehen, sichtbar, die Komposition der Bilder lässt sich so in Ruhe studieren - soweit dies außerhalb des Filmlaufs möglich ist. Da es sich nicht um Standfotos handelt, sondern eine Unmenge von Einzelbildern die Bewegung übermittelt, ist es manchmal so, als sähe oder spürte man ein Nachzittern des Films. Auch die großartige Lichtdramaturgie des Films wird anhand dieser Übertragung kenntlich gemacht.

Der Textband enthält den vollständigen filmischen Dialog und die Bildbeschreibung, so entsteht eine Art Protokoll, allerdings in einer Sprache, die sanft und seltsam das Geflecht von Hör- und Sichtbarkeiten webt. Im Vorwort erklärt Färber, dass es seine Absicht war, in der Dialog-Übersetzung (von Sonam Kim) etwas von der fremden Sprache zu behalten, es ging nicht um ein flüssig zu lesendes Deutsch, es sollte vielmehr das Äquivalent einer Untertitelung entstehen. Zwar ist es anstrengend, Filme mit Untertiteln zu sehen, doch lohnend, wir erliegen nie der Täuschung, wir wären in unserer Welt. So auch hier.

Färber lotet mit der Sprache, die uns die Bilder beschreibt, den Raum genau aus, er sagt nicht, wie etwas aussieht, sondern von wo etwas gesehen wird. Gerade durch die größte Genauigkeit wird klar, woran Sprache trotz allen Bemühens nicht heranreichen kann - was eben nicht heißt, dass es die Mühe nicht wert wäre, einen Versuch zu wagen, der bis an die Grenzen der Möglichkeiten von Sprache geht. Im Anhang des Textbandes findet sich die Rubrik: »Wovon die Beschreibung nichts mitteilt.« Färber weiß, was er getan und was er nicht getan oder überprüft hat. Davon zeugen in allen seinen Büchern die Fußnoten, die gleichzeitig auch einen eigenständigen, manchmal widerständigen Text bilden.

Worüber handelt der Autor, wenn er über den Film schreibt? »Der Gegenstand beim Schreiben über Filme - für Filme, durch sie - ist nicht der Film selbst«, formuliert Färber 1969, »sondern die Filmerinnerung. Ihre Beschaffenheit bestimmt die Intensität des Schreibens, Lesens, insgesamt der Verbindung mit einem Film.« So lässt sich vielleicht die große Nähe zwischen seiner Beschreibung von Bildern und dem beschriebenen Bild verstehen als ein Sich-Verbinden mit dem Werk - ohne auf Einfühlung zu setzen, auf Offenbarung zu warten.

Die Erinnerung bedeute allerdings immer eine Veränderung, schreibt Färber, wie zur Warnung für sich selbst (und auch für die, die nicht über Filme schreiben, sondern sie nur sehen und vielleicht nacherzählen). Deshalb trifft der Autor seine Vorkehrungen. Er lässt den Film nicht los, lässt ihn keine Sekunde aus den Augen. Denn: »Es ist nicht nur eine Frage der Er-innerung, sondern schon eine des Wahrnehmens.« Es geht also darum, eine Methodik zu entwickeln, die hilft, die Lücken (und Fehler), die beim Ansehen von Bildern entstehen, zu schließen, ansonsten entstehen halluzinierte Bilder, jene ganz normalen Fälschungen, Ergänzungen aus dem eigenen Bestand, Wunschbilder und Projektionen, die zwar auch einen interessanten Film ergeben können, aber nicht den gezeigten. Und wenn dieser ein Meisterwerk ist - und nicht ein schlechter oder unfertiger Film, aus dem die eigenen Gedanken und Bildabirrungen noch etwas Besseres machen können -, lohnt sich die Disziplinierung der Wahrnehmung.

Die Arbeit von Helmut Färber ist um Bewahrung bemüht. In einem Beitrag für die französische Filmzeitschrift Trafic, »Architecture, décoration, destruction«, schreibt Färber 1994, dass der Untertitel von Siegfried Kracauers »Theorie des Films« - »Die Errettung der äußeren Wirklichkeit« - heute durch Zerstörung von Landschaften, Ausrottung von Arten, aber auch durch die Entwertung von Lebensweisen noch einen ganz anderen Sinn ergibt. Damit erhält der Film eine ganz andere Verantwortung.

Der Aufsatz setzt Überlegungen fort, die Färber bereits 1977 in »Baukunst und Film« angestellt hatte, seinem erstem Buch, mit dem Untertitel »Aus der Geschichte des Sehens«. Darin versucht er, eine Gefühlslandschaft zu vermessen und zu beschreiben, die zwar erst im 20. Jahrhundert vom Kino beherrscht wurde, aber schon zuvor existierte. Was Färber an Quellen zu Baukunst, Gartenbau, Landschaftsmalerei, Panorama usw. zusammenstellt, ermöglicht einen Einblick in frühe Formen ästhetischer Freizeitgestaltung.

Oft scheint es so, als sei vom Film die Rede, lange bevor der Film erfunden wurde; als sei es schon vor der Zeit des Kinos um eine Überbietung der Wirklichkeit in Gestalt ihres eigenen Abbildes gegangen. Allerdings hat der Film gegenüber seinen künstlerischen Vorläufern - wie der Baukunst - den Vorzug, dass er den Bereich menschlichen Verhaltens und Handelns auf direkte Art und Weise miteinbezieht. »Was aber bei dieser Komplettierung unwahrnehmbar zu werden droht, ist die Wirklichkeit, die hinter den Bildern zurückbleibt, indem sie nur da ist, nichts verspricht«. Deshalb schätzt Färber gerade jene Filme besonders, die sich dieser Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung verpflichtet fühlen. Kinematografie wäre dann jene Strömung der Filmgeschichte, die sich dagegen wehrt, die Realität durch vielversprechende Abbilder zu ersetzen.

Auch Literatur und Buchkunst betrachtet Färber im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen und ästhetischen Funktionen, die sie in Zeiten vor der Einführung des Kinos erfüllt haben. Der Film liefert gewissermaßen einen Ersatz für den Gefühls-Service, den der Roman bot, in verbesserter, umfassender Form, die inneren Bilder, die jeder anhand der anleitenden Sätze selbst verfertigte, wurden nun nach außen gestellt. Der zitierte »Hymnus auf die Druckkunst« von Victor Hugo (1831) weist noch weiter zurück. Bis ins 15. Jahrhundert sei die Baukunst das große Buch der Menschheit, die führende, die universale Schrift gewesen, bis zu Gutenberg. Durch die Erfindung des Buchdrucks sei die Baukunst als Leitmedium abgelöst und durch das gedruckte Buch ersetzt worden, weil dies billiger und dauerhafter sei.

In den Abbildungsteil von »Baukunst und Film« sind hauptsächlich Architekturen aufgenommen, die aus der Zeit nach Gutenberg stammen, nur die erste Abbildung zeigt einen Stich der Kirche Santa Croce - Grundsteinlegung 1295 - sozusagen als Beispiel für einen Gedanken in Stein, vor der Entmachtung. Die übrigen Ansichten von Architektur könnten so als Trugbilder gelesen werden, die Gebäude werden mit der Zeit theatralischer oder filmischer, die Neo-Stile wirken wie Einspielungen aus einem Traum, oder sie sind Teil der Werbung. Die Abbildungen im Buch, die aus jüngerer Zeit stammen, zeigen Reklamezeichnungen, Werbeschilder.

Die wohl konsequenteste Fortführung jener kritischen Arbeit, wie sie Färber und andere in der Filmkritik begonnen haben, leistet sein Buch über David Wark Griffith. Es stellt uns Griffith sozusagen als einen bisher unbekannten linken Regisseur vor, der wenig Ähnlichkeit mit dem Rassisten von »Birth of a Nation« hat. Griffith gelang mit »A Corner in Wheat« (»Eine Spekulation mit Weizen«) eine filmische Anklage der Machenschaften der Weizenbörse, wobei er nicht nur über einen einzelnen Spekulanten, den so genannten Weizenkönig, handelt, sondern das ökonomische System selbst angreifbar macht. Griffith ist zur Zeit der Entstehung des Films, 1909, noch nicht der Regisseur von »Intolerance«, er hat für seine Produktionsfirma Biograph zwei, drei Streifen pro Woche zu drehen. Färber zeigt, dass »A Corner in Wheat« sich in der Herstellung nicht so sehr von den andern dieser Zeit unterscheidet und doch »unter ihnen kein Findling, sondern ein äußerster Punkt« sei.

Der Film erscheine noch heute so modern, weil kein Regisseur genau in dieser Richtung weiter gearbeitet hat, nicht einmal Griffith selbst, der später einen anderen Weg eingeschlagen hat. Doch dies war nicht einfach eine künstlerische Entscheidung. Die Filmindustrie, die Griffith erfunden habe, habe ihn auch zerstört. Färber will das Zerstörungswerk nicht nur feststellen oder gar fortsetzen, sondern »den ganzen Griffith« freilegen. Es geht darum, »eine Übereinstimmung zwischen dem Bewußten des Films und seinem Unbewußten« offenzulegen. Färber liest in diesem Film wie in einem Buch, das man beim ersten Mal verschlungen hat und in dem man nun nachsieht, wie es geschrieben ist, wobei der Autor nicht immer wusste, was er richtig machte, oder auch Fehler (z.B. Anschlussfehler) machte, die besser sagen/zeigen, was formuliert werden sollte.

Aus dieser Darstellung ergibt sich ein gegen die Illusion gerichtetes Erzählen, auch gegen die Illusion, die Wirklichkeit des Films sei nicht eine hergestellte Wirklichkeit. Griffith bedient sich zwar auch melodramatischer Elemente, doch sind diese Gefühlsbewegungen auf Erkenntnis hin zugespitzt. Färber arbeitet die Eigenart von Griffith heraus, sowohl wie sie sich zur Konvention verhält, die sich 1909 in der Filmsprache ja noch nicht wirklich ausgebildet hatte, als auch im Vergleich zur heutigen Erzählkonvention. Erzählen sei das Zeigen von Lebensverhältnissen zwischen Menschen, doch in diesem Sinne gibt es keine Entsprechungen zwischen den Bauern, den Spekulanten und den Hungernden. Also zeigt Griffith das Unverständliche, Unmenschliche als Zusammenhang der Ausbeutung - wie in einer Abhandlung.

Der Eindruck der Kühnheit, den »A Corner in Wheat« heute noch macht, spricht gegen die Filmgeschichte, gegen die Praxis, die sich mit dem Tonfilm durchsetzte, als so viele kinematografische Möglichkeiten ausgeschlossen wurden. Die Filmindustrien definieren seitdem, was Film und was nicht Film ist. »Es ist, als hätte damit der Film, den bürgerlich-ästhetischen Bedürfnissen des 19. Jahrhunderts sich liierend, seine Bestimmung verfehlt, ganz zu der Kunst des 20. Jahrhunderts zu werden, wie er es hätte werden sollen.« Die Kinematografie im Sinne Färbers handelt indes immer von diesen unterschlagenen Möglichkeiten des Films.

Helmut Färber: Baukunst und Film. 1977, 63 S., DM 50

ders.: Mizoguchi: Saikaku Ichidai Onna (Oharu),1986, Textband (136 S.,) und Bildband 112 S.), zusammen DM 98

ders.: A Corner in Wheat/D.W. Griffith. 1992, 136 S., DM 42

Alle Bücher sind im Selbstverlag des Autoren erschienen