100. Geburtstag von Karel Teige

Das Dogma der Funktion

Architektur begriff Karel Teige als Intervention und als Kritik an Eigentumsverhältnissen und Geschlechterbeziehungen. Vor hundert Jahren wurde der tschechische Avantgardekünstler geboren.

Der tschechische Avantgardist Karel Teige hat auf vielen Gebieten der Kunst gearbeitet, als Typograf, Designer und Essayist; er malte, entwarf Buchumschläge, schrieb Filmskripts und montierte Fotocollagen. Entscheidend jedoch war sein Einfluss auf die Architekturkritik. Die Architektur galt Teige als Paradigma einer zukünftigen Kunst. Diese Kunst werde - wie er, Gustave Flaubert zitierend, erklärte - »unpersönlich und wissenschaftlich« und damit keine Kunst mehr im herkömmlichen Sinn sein. Ihre Grundlagen seien nicht ästhetische Prinzipien, sondern praktische Aufgaben, die mit allen verfügbaren wissenschaftlich-technologischen Mitteln zu lösen sind, und daher entstehe die neue Architektur auch nicht an den Kunstakademien, sondern in den Polytechnischen Instituten.

Oblgeich Teige die zentrale Figur der tschechischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit war und sich auch nach 1945 vehement für die moderne Architektur einsetzte, geriet er im Westen in Vergessenheit; im Osten wurde er nach seinem Tod 1951 wegen seiner Stalinismuskritik in den späten dreißiger Jahren aus der Kunstgeschichte entfernt. Seine Wiederentdeckung als wegweisender Theoretiker der Moderne ging im Westen von Italien aus, wo in den achtziger Jahren mehrere Bände mit Übersetzungen seiner Schriften erschienen und Ausstellungen zur tschechischen Avantgarde stattfanden. 1993 widmete die italienische Zeitschrift Rassegna Teiges Architekturtheorie eine eigene Ausgabe. 1999 erschien in den USA bei der renommierten MIT-Press ein umfangreicher, reich illustrierter Sammelband mit Texten von und über Teige, die einem internationalen Publikum das theoretische und künstlerische Werk zugänglich machten.

Um Teiges Architekturtheorie historisch einzuordnen, ist zunächst ein Rückblick auf die Entwicklung der avantgardistischen Architektur nötig. Schließlich steht der Funktionalismus, der ohnehin schnell von seinen sozialkritischen Anteilen gereinigt war, in der Kritik, seit er in den sechziger Jahren seine massenhafte Verwirklichung in gesichtslosen Hochhausvierteln fand. Typisch dafür ist die Umdeutung von Le Corbusiers Schlagwort der »Wohnmaschine«. Bedeutete dieser Begriff zunächst, dass eine Wohnung explizit nach den Bedürfnissen ihrer Benutzer zu planen sei, wie dies eben bei Maschinen der Fall ist, wurde er nun als Synonym einer unpersönlichen Massenarchitektur aus konservativer wie auch aus marxistischer Perspektive attackiert. Während sich die Traditionalisten auf den Mythos der organischen Entwicklung fixierten, griffen die Marxisten auf die Entfremdungskritik zurück. Vergessen war, dass es in den zwanziger und dreißiger Jahren eine funktionalistische »Linke« gab, die die soziale Ignoranz der modernen Architekten kritisierte.

Diese Linke rekrutierte sich vor allem aus der konstruktivistischen Avantgarde, die von Beginn an die neue Architektur mit sozialrevolutionären Ideen verknüpfte. Heute werden die Projekte der Avantgarden oft auf Provokationen und Skandale reduziert. Da ihre Logik der ständigen Überbietung irgendwann ins Leere laufe, seien auch die Avantgarden überholt. Diese Kritik unterschlägt, dass das Interesse der Avantgardisten - von den russischen Konstruktivisten bis hin zu den Situationisten - darin bestand, Ansätze zu einer dauerhaften Veränderungen des Lebens in der Gesellschaft zu erforschen. Die auf einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft beruhende Neuorganisation des öffentlichen Raums sei in der Lage, die sozialen Beziehungen umzuformen. Das postulierte z.B. der russische Konstruktivist Mojsei Ginzburg mit seinem Konzept der »sozialen Kondensatoren«, die Änderung der Formen sozialen Zusammenlebens in der sozialistischen Gesellschaft sollte von der Architektur beschleunigt werden.

Während in der UdSSR die Konstruktivisten mit ihrem emphatischen Bekenntnis zur neuen Gesellschaft zunächst den Ton angaben, führten die modernen Architekten im Westen einen zähen Kampf gegen den neoklassizistischen Eklektizismus der Kunstakademien. Dieser Lehrmeinung setzte die Avantgarde nicht nur ein neues Formkonzept entgegen, sie unterzog die Auffassung, Architektur sei Kunst, nämlich Baukunst, einer radikalen Kritik. Betont wurde die Wissenschaftlichkeit und Rationalität architektonischer Aufgaben, die Konzentration auf künstlerische Variationen z.B. der Fassadengestaltung wurde abgelehnt. Beispielhaft für die Moderne wurden Le Corbusiers Purismus und die Bauhaus-Architektur etwa eines Walter Gropius.

Auch in der tschechischen Avantgarde, die sich 1920 in der Gruppe Devetsil organisiert hatte, kam der Architektur ein hoher Stellenwert zu, hier gab es eine eigene Architektursektion (ARDEV). Teige, von Beginn an programmatischer Sprecher des Devetsil, beschäftigte sich seit 1922 als Redakteur der Zeitschrift Stavba (Bau) intensiv mit Architektur und importierte internationale Debatten. Er reiste nach Paris, wo er 1922 Le Corbusier begegnete, und in die UdSSR, wo er 1925 viele der maßgeblichen Konstruktivisten traf. Eng befreundet war er mit Jaromír Krejcar, einem der wichtigsten tschechischen modernen Architekten, dessen spätere Ehefrau, die Übersetzerin Milena Jesenská, durch ihren Briefwechsel mit Franz Kafka bekannt wurde.

Zunächst orientierte Teige sich an Le Corbusiers Purismus, da dessen Rationalismus seinen eigenen Grundannahmen entsprach. Mehrfach war Le Corbusier zu Gast in Prag, er wusste die anregenden Diskussionen mit Teige und Krejcar sehr zu schätzen. Teige bemerkte jedoch bald Le Corbusiers Hang zu »klassizistischer Harmonie«. In einem Interview mit Teige definierte Le Corbusier 1928 die Architektur als Poesie - ausgerechnet unter Verweis auf das von Teige und dem Lyriker Vítezslav Nezval damals vertretene Programm des Poetismus. In ihrer Konzeption wurde jedoch der Poetismus - die zweckfreie, alle imaginativen Fähigkeiten des Menschen kultivierende neue Kunst - streng getrennt vom Konstruktivismus, dem Bereich der zweckmäßigen Lösung konkreter gestalterischer Aufgaben.

Solche Differenzen traten auch innerhalb des ARDEV auf, da die »Puristischen Vier« um Karel Honzík, denen Teiges Dogmatismus ohnehin lästig war, das dualistische Konzept von Poetismus und Konstruktivismus in ähnlicher Weise wie Le Corbusier abwandelten. Sie strebten gerade die Synthese von »Bau« (Konstruktivismus) und »Gedicht« (Poetismus) an.

In den zwanziger Jahren hatte sich ein internationaler funktionalistischer Stil herausgebildet, obligatorisch wurde die Verwendung von Würfeln, Kuben und Primärfarben. Vom Prinzip, die Architektur habe der Lösung konkreter Funktionsprobleme zu dienen, hatten sich diese Entwürfe entfernt. Die Kritiker dieser Spielart des Funktionalismus sammelten sich 1925 um die von Mart Stam, El Lissitzky und Hans Wittwer geleitete Schweizer Zeitschrift ABC. Sie forderten, die sozialen Rahmenbedingungen der Architektur wieder stärker zu berücksichtigen.

Teige stand in engem Kontakt mit dem ebenfalls dieser Richtung angehörenden Schweizer Architekten Hannes Meyer und entwickelte sich zum radikalsten Verfechter dieser Position. Meyer versuchte ab 1928 als Leiter des Dessauer Bauhauses gegen den »Bauhaus-Stil« eine Verwissenschaftlichung des Bauens und zugleich eine stärkere Praxisorientierung durchzusetzen; zu den zahlreichen von ihm eingeladenen Gastdozenten gehörte auch Teige, der dort in seinem Spezialgebiet Typografie lehrte. Trotz der ökonomischen Erfolge, die sich nach der überfälligen Reorganisation des Bauhauses einstellten, wurde Meyer 1930 vom reaktionären Dessauer Magistrat als »Marxist« vor die Tür gesetzt. Wie Stam arbeitete er in den dreißiger Jahren als Stadtplaner in der UdSSR.

Um der modernen Architektur eine internationale Lobby zu verschaffen, wurde 1928 auf Initiative des zu diesem Zeitpunkt bereits berühmten Le Corbusier die Organisation Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) ins Leben gerufen. Die Gründung war nicht zuletzt eine Reaktion auf die unter skandalösen Umständen zustande gekommene Ablehnung von Le Corbusiers Entwurf für den Genfer Völkerbundpalast. Le Corbusier war wegen eines Formfehlers disqualifiziert worden, obwohl er der einzige war, der sich an den vorgegebenen Kostenrahmen gehalten hatte; anschließend wurde ein Entwurf weiterverfolgt, der Ideen Le Corbusiers plagiierte, bevor schließlich ein eklektizistischer Bau entstand.

Die tschechische Gruppe der CIAM bestand größtenteils aus der Architektursektion der Leva Fronta (ASLEF), einer auch von Teige initiierten antifaschistischen Kulturorganisation, die das Erbe des Devetsil bzw. des ARDEV antrat. Spürbaren Einfluss nahm Teige auf den 3. Kongress der CIAM 1930 in Brüssel, dessen Thema die Wohnungsprobleme der breiten Massen waren. Während Le Corbusiers Position im Schlagwort »Architektur oder Revolution« zusammengefasst war - die Verbesserung der Wohnbedingungen sollte helfen, sozialen Sprengstoff zu entschärfen -, versuchte Teige nachzuweisen, dass ohne eine Änderung der Eigentumsverhältnisse diese Probleme gar nicht sinnvoll gelöst werden könnten. Die Altbausanierung sei z.B. keine Lösung, sie führe zumeist dazu, dass die Bewohner durch die steigenden Mieten vertrieben würden: »In den Grenzen der gegenwärtigen Verhältnisse«, so Teige, »sind hier nur partielle und fehlerhafte Verbesserungen möglich, die im übrigen nur dann durchgeführt werden, wenn sie zumindest den Ausbeutungsinteressen des Kapitals besser dienen als der alte Zustand.«

Die aktive Umgestaltung sozialer Beziehungen durch Architektur war Teil dieser Konzeption. Teiges Entwürfe für Kollektivwohnungen (Koldum), die an sowjetischen Vorbildern orientiert waren, basierten z.B. auf der Kritik von Familien- und Geschlechterbeziehungen; die Räume waren allerdings für eine Gesellschaft entworfen, in der die Doppelbelastung der Frauen bereits abgeschafft war. Da aber die gesellschaftliche Entwicklung mit den Plänen des Architekten nicht Schritt halten konnte, wären größere Modifikationen nötig gewesen, sie zu realisieren. Wie auch sein Freund Krejcar anmerkte, nahm Teige zu wenig Rücksicht auf die tatsächlichen Fähigkeiten der Menschen, in einem neu organisierten Wohnumfeld zu leben. Solche Projekte missfielen auch der tschechischen KP, deren Verhältnis zu den avantgardistischen Künstlern trotz oder wegen deren Linksorientierung und oft auch deren Parteimitgliedschaft stets konfliktreich blieb.

Das größte Aufsehen als Protagonist der funktionalistischen Linken erregte Teige 1929 mit seiner Kritik an Le Corbusiers Entwurf für ein dem Völkerbund angegliedertes Weltkulturzentrum, das Mundaneum, das aber nie gebaut wurde. Die idealistische Grundkonzeption des Projekts lasse überhaupt keine funktionale Lösung zu, die abstrakten ästhetischen Prinzipien wie z.B. das Ideal des Goldenen Schnitts, das Le Corbusier in der Anlage verwirklichen wolle, seien die direkte Folge der verfehlten Konzeption: »Das Programm des Mundaneums ist eine luftleere Naivität, der Völkerbund, der die unverjährbare Schuld des Weltkrieges mit sich herumträgt und die Millionen Toten des vergangenen und des kommenden Krieges, der, wie auch Herr Otlet (der Initiator des Mundaneums; F.I.) zugibt, ein Bund der Regierungen und keineswegs der Völker ist - dieser Völkerbund soll einen Sitz für die Internationale der Wissenschaft und der Kunst erbauen? Im übrigen hat der Völkerbund Ihnen bereits bei dem Wettbewerb für den Genfer Palast gezeigt, dass er in Sachen Architektur nur eine Bastion der Reaktion ist! Die architektonische Lösung von gedanklich derart unklaren und falschen Problemen und Programmen führt zwangsläufig zu monströsen Ergebnissen, zum modernistischen Akademismus.«

In seiner »Antwort an Teige - Verteidigung der Architektur« wies Le Corbusier zwar darauf hin, dass Teige selbst oftmals nicht frei von ästhetischen Kriterien argumentiere und dass die von Teige beanstandeten Lösungen durchaus ihre funktionale Berechtigung hätten, überzeugende Belege hierfür blieb er allerdings schuldig. Er verschob die Kontroverse auf Randaspekte und zog sich ansonsten auf seine Autorität als erfahrener Praktiker zurück. Teige wiederum spielte Le Corbusiers Entwurf für den Moskauer Palast der Sowjets, der sich stark an den dortigen funktionalistischen Strömungen orientierte, gegen das Mundaneum-Projekt aus.

Angesichts solcher Konflikte arbeitete die tschechische Sektion nach 1930 kaum noch in der CIAM mit und gründete 1933 auf nationaler Ebene den Verband sozialistischer Architekten (SSA), der auch als internationale Konkurrenz zur CIAM gedacht war, was sich aber nicht realisieren ließ. Ab 1936 publizierte Teige kaum noch zu architektonischen Themen, zuletzt veröffentlichte er eine Bilanz der sowjetischen Architektur, in der er die Rückkehr zum Akademismus heftig angriff.

Schon 1932 hatte er, entsetzt über den - auch gegen den Entwurf Le Corbusiers siegreichen - neoklassizistischen Palast der Sowjets, vermutet, dieser Bau sei nur »Symptom eines schlimmeren, noch verborgenen Übels«, nämlich der Unterordnung der Interessen der Arbeiterklasse unter die des staatlichen Machtapparates. Dieses Beispiel bestätige seine Kritik an einer Monumentalarchitektur als Machtinstrument zur Einschüchterung der Massen, eine Kritik, die er nach seiner Hinwendung zum Surrealismus auch psychoanalytisch zu untermauern versuchte.

Karel Teiges Stärke war die Architekturkritik, nicht der Entwurf, seine architektonischen Pläne sind nie realisiert worden. Während seine Kritik an den Konzeptionen anderer meist überaus schlüssig und instruktiv ausfiel, waren seine eigenen Entwürfe angreifbar. Ihre Schwäche war es, dass sie den Monofunktionalismus als notwendiges Ergebnis wissenschaftlicher Lösungen betrachteten. Der Grundgedanke ist zwar einsichtig: Optimale Funktionalität könne nur erreicht werden, wenn jedes Element nur einem Zweck diene. Allerdings sind in der Praxis solche eindeutigen Funktionszuordnungen selten. So wendete auch der Ästhetiker Jan Mukarovsky ein, in der Architektur herrsche ein ständiger Konflikt verschiedener »Funktionshorizonte«, bis hin zu individueller Zweckentfremdung, so dass keine optimale Funktionserfüllung ableitbar sei, sondern stets nur instabile Kompromisslösungen gefunden werden könnten.

Der Einfluss von Teiges theoretischen Arbeiten zum Funktionalismus reicht jedoch weit über die Architekturdebatte hinaus; seine Konzeption wurde z.B. für den Strukturalismus Mukarovskys und Roman Jakobsons wichtig. Heute vor hundert Jahren wurde Karel Teige geboren.