Widerstand bolivianischer Koka-Bauern gegen die Regierung

Das Gespür der Regierung für Schnee

Im bolivianischen Koka-Anbaugebiet Chapare wehren sich die Pflanzer gegen die brachiale Anti-Drogenpolitik der Regierung.

Auf der Fahrt von Cochabamba, der zweitgrößten Stadt Boliviens, ins tropische Tiefland des Chapare kommt der Verkehr auf halber Strecke zum Erliegen. In San Jacinto befindet sich der Kontrollposten der Umopar, der Unidad Móvil de Patrullaje Rural, einer ländlichen Patrouille-Einheit der Nationalpolizei. »Achtung, Reisende und Drogenkuriere: Wir zahlen besser als die Drogenmafia! Rufen Sie jetzt an und überzeugen Sie sich«, verkündet ein riesiges Schild am Straßenrand. Die Regierung meint es ernst: Auf Touristen mag die staatliche Propaganda zunächst komisch wirken. Für die betroffene Bevölkerung der Region dagegen ist die Anti-Drogen-Politik der bolivianischen Regierung existenzbedrohend.

Wir passieren den Kontrollpunkt. Ab jetzt ist die Hauptverkehrsstraße zwischen Cochabamba und Santa Cruz - dem Zentrum der landwirtschaftlichen Produktion Boliviens - nur noch eine rutschige Schotterpiste. Nach mehrstündiger Fahrt wird die Besiedlung dichter. Die am Berghang gelegenen Wälder gehen allmählich in tropische Vegetation über. Noch vor wenigen Monaten wäre man hier nicht mehr weitergekommen. Ab dem 18. September blockierten Kokapflanzer für vier Wochen die Straße, um gegen die Drogenbekämpfungspolitik des Staatspräsidenten Hugo Banzer zu protestieren. Für die etwa 45 000 Familien, die in dieser Region leben, bedeutet die »Null-Koka«-Linie den wirtschaftlichen Ruin. Bolivien soll »raus aus dem Drogenkreislauf«, und Hugo Banzer, Ex-Diktaktor und inzwischen gewählter Präsident Boliviens, legt bei der Vernichtung der Kokapflanzungen ein derartiges Tempo vor, dass das 1997 gesteckte Ziel sogar übererfüllt wurde.

Einen Monat dauerte die Blockade der Cocaleros. Am 13. Oktober einigten sich Regierung und Bauern offiziell. Vertreten wurden die Cocaleros vom Gewerkschafter Evo Morales. Er versicherte, die Straßensperre zu beseitigen, und die Regierung erklärte sich bereit, die Militärs wieder abzuziehen und auf die geplante Stationierung weiterer Truppen in dieser Gegend vorerst zu verzichten. Das entscheidende Thema, die Vernichtung der Kokapflanzungen, wurde jedoch ausgespart. Bis 2002 sollte, wie es im »Würde-Plan« festgelegt ist, der letzte Kokastrauch im Chapare verschwunden sein. Doch schon im Oktober 2000 waren nach offiziellen Angaben von den ursprünglich etwa 40 000 Hektar großen Kokapflanzungen nur noch 1 400 Hektar übrig. Damit wird die Bevölkerung dieses Landstriches zum zweiten Mal innerhalb von weniger als 15 Jahren ihrer Lebensgrundlage beraubt. Bis Mitte der achtziger Jahre verdienten die heutigen Cocaleros ihren Unterhalt in den Minen im Hochland Boliviens. Als die Weltmarktpreise für Zinn fielen und neoliberale Radikalkuren in Mode kamen, zogen die Mineros auf der Suche nach neuen Überlebensmöglichkeiten mit ihren Familien vom Hochland ins tropische Tiefland und begannen mit dem Koka-Anbau.

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir das Rathaus von Villa Tunari. Hier sind wir mit dem Gemeinderat William Condori Quiroz verabredet. Auch er und seine Familie leben vom Koka-Anbau und gehören deshalb nach Ansicht der Regierung zur Drogenmafia. William Condori Quiroz wehrt sich gegen die Kriminalisierung der Pflanzer. »Alles, was wir hier erreicht haben, Straßen, Schulen, Abwassersystem, ist durch den Koka-Anbau ermöglicht worden«, sagt er. »Die Regierung will eine so genannte alternative Entwicklung einleiten. Auf dem Papier entstehen wunderbare Konzepte. Aber uns hat das bisher nichts eingebracht.«

Das Konzept der alternativen Entwicklung sieht vor, fünf »Spitzenprodukte« gezielt anzubauen, und zwar Maracuya, Pfeffer, Palmherzen, Bananen und Ananas. »Die Bananensorten, die wir hier anbauen sollen, wurden aus Panama importiert, die Ananas aus Brasilien. Einige Pflanzen waren krank, und wir hatten dann die Probleme. Die Regierung drückt uns ihre Projekte auf und verpulvert das Geld für irgendwelche Experten. Und die haben oft überhaupt keine Ahnung. Einer wollte uns neulich erklären, wie man Reis pflanzt. So ein Quatsch - Reis wird gesetzt!« empört sich Quiroz.

Die sofortige Umstellung der Landwirtschaft auf Bananen und Pfeffer sei ökonomisch nicht vertretbar. Die Kokabauern fordern deshalb, dass jeder Familie für eine Übergangszeit ein cato für den Koka-Anbau zugestanden wird. Diese Quechua-Maßeinheit umfasst 1 600 Quadratmeter. Zudem müsse sichergestellt werden, dass die legal angebauten Erzeugnisse auf den internationalen Märkten dann auch Abnehmer finden. Die USA und die EU unterstützen zwar die Pläne der Regierung, ob sie allerdings Interesse an einem erfolgreichen agroindustriellen Komplex haben, der mit den geschützten Märkten des Nordens konkurriert, ist fraglich.

Seit 1984 wurden in die Förderung der alternativen Entwicklung 220 Millionen Dollar investiert, Deutschland ist mit zehn Prozent daran beteiligt. Das klingt zwar gut, sei aber »schlecht geplant, noch schlechter durchgeführt und für die Mehrheit der 200 000 Menschen in der Region praktisch ohne Auswirkungen, da sie einfach nicht daran beteiligt werden«, beurteilt die bolivianische Wochenzeitung Pulso die im Rahmen des »Würde«-Plans durchgeführten Projekte.

Die Cocaleros fühlen sich in die Ecke gedrängt. »Die Operationen der Umopar zerstören alles, auch die anderen Anpflanzungen. Orangen, Ananas und Bananen, sie machen alles platt, oft auch deine Hauseinrichtungen. Jede Operation wird von einem tief fliegenden Hubschrauber begleitet. Das ist Krieg niederer Intensität.«

Der Gemeindeabgeordnete von Villa Tunari wirft der Regierung vor, dass sie sich nicht an die Abmachungen halte: »Statt die Truppen abzuziehen, werden immer mehr Soldaten in die Gegend geschickt. Allein in Villa Tunari sind 400 Soldaten stationiert«, erzählt Quiroz. Die Region hat sich in den letzten drei Jahren zu einer hochmilitarisierten Zone entwickelt. 2 000 Polizeikräfte und 8 000 Soldaten sorgen für die Durchsetzung der harten Regierungslinie, die von den USA finanziell und personell unterstützt wird. Nach Angaben der unabhängigen bolivianischen Menschenrechtsorganisation APDH (Asamblea Permanente de Derechos Humanos) sind bereits über 40 Personen im Zuge der Drogenbekämpfung gestorben, es gab über 300 Verletzte und Dutzende von Anzeigen wegen Folterungen im Polizeigewahrsam.

»Die Region befindet sich seit langem in einem nicht öffentlich erklärten Ausnahmezustand. Diese Gewalt ruft Gegengewalt hervor«, stellt Sacha Llorenti von der APDH fest. Für Unruhe sorgten Entführungsfälle in der Region, Soldaten wurden aus dem Hinterhalt erschossen, andere wurden von Tretminen verletzt, ein Hubschrauber wurde abgeschossen. Für Regierungssprecher Manfredo Kempff sind diese Vorkommnisse der Beweis dafür, dass im Chapare eine »Drogen-Guerilla nach kolumbianischem Vorbild« operiert. »Einfache Bauern verfügen gar nicht über die nötigen Kenntnisse.« Er vergisst, dass die ehemaligen Minenarbeiter durchaus Erfahrungen im Umgang mit Sprengstoff haben.

Die wegen ihrer Kampfbereitschaft gefürchteten Mineros behielten auch in den Tropen ihre Organisationsstrukturen bei, heute gibt es einen Zusammenschluss aus sechs Gewerkschaften, die in der Region das Sagen haben. Nur die gewerkschaftliche Organisation der Cocalero hatte den einmonatigen Barrikaden-Kampf im Sommer ermöglicht. An der Spitze des Gewerkschaftsbündnisses steht seit zehn Jahren der heute 40jährige Evo Morales. Seit 1995 ist er auch als Abgeordneter der Cocalero-Partei MAS (»Movimiento al Socialismo«) im Parlament vertreten. Nach den jüngsten Entführungsfällen verlangte die Regierung die Aufhebung seiner Immunität, er sei der politische Urheber der Gewalttaten und mache mit der Drogenmafia gemeinsame Sache. »Wenn sie mich aus dem Parlament werfen, wird der Chapare brennen«, erklärt Evo Morales. Da die MAS über die Mehrheit in der Region verfügt und zusammen mit den Gewerkschaften einen gefestigten Machtblock bildet, werde die Bewegung auch die Festnahme ihres Anführers überstehen.

Nach Bekanntwerden der Entführungen hat die Regierung damit begonnen, Elitetruppen zu entsenden. 38 GewerkschaftsführerInnen wurden - teilweise vorübergehend - festgenommen, um die Untersuchungen voranzutreiben. »Die Regierung«, sagt Quiroz, »kämpft nicht gegen den Drogenhandel, sondern gegen die Bauern und ihre Gewerkschaften. Sie will die Gewerkschaften zerschlagen. Das steht auch als Ziel in einem Abkommen zwischen Bolivien und den USA. Diese Entführungsgeschichte ist eine einzige Show, um noch mehr Militär hierhin zu schicken und sich an uns zu rächen. In San Isidro werden Kinder und Alte gefoltert, um Aussagen zu erzwingen, schwangere Frauen werden geschlagen, um angebliche Informationen aus ihnen herauszupressen. Das ist eine systematische Verletzung unserer Menschenrechte. Sie haben uns den Krieg erklärt. Aber sieht so ein Drogenhändler aus?« fragt Condori Quiroz und zeigt lachend auf seine Shorts und sein Che-Guevara-T-Shirt. Die Narcos, also die Drogenhändler, sagt er, erkenne man daran, dass sie mit Schlips und Kragen herumliefen, und das ganze Gerede vom frontalen Drogenkampf sei ein Witz.

Für Condori Quiroz steht fest, dass die, die offiziell gegen die Drogen kämpfen, die staatliche Deckung nutzen, um selbst ihre Geschäfte zu machen. So seien Umopar-Leute immer wieder mit Drogen aufgegriffen worden. Unter den verschiedenen Anti-Koka-Einheiten im Chapare ist die Umopar die führende Kraft. In Chimoré, etwa 30 Kilometer von Villa Tunari entfernt, befindet sich ihre wichtigste Kaserne. Aber auch gemeinsame Einheiten von Polizei und Streitkräften (FTC) sowie eine Truppe mit dem Namen Ökologische Polizei sind hier stationiert. Diese Truppe ist dafür zuständig, die unerlaubten Kokapflanzungen aufzuspüren und zu kartografieren. In der Kaserne der »Leoparden«, wie die Männer von der Umopar genannt werden, sollen angeblich die festgenommenen GewerkschaftsführerInnen sitzen. Näheres ist hierzu nicht zu erfahren.

Um das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit zu befriedigen, wurde in der Gemeinde eine Ausstellung eingerichtet, die für das staatliche Anti-Drogen-Programm wirbt. Hier erklärt uns ein junger Soldat mit besorgter Miene, wie die Drogenmafia vorgeht. Gezeigt werden Konservendosen, Kassettenrecorder, Kanister. »Darin werden die für die Kokainherstellung nötigen Vorprodukte, Diesel, Kalk und Chemikalien in die Region geschmuggelt. Die Chemikalien stammen vorwiegend aus Chile. Diesel, Kalk oder auch ersatzweise Zement stammen aus nationaler Produktion.« In einem Raum wurde ein Dschungellabor nachgebaut. Der Soldat erklärt, wie man die Basis für das Kokain herstellt. »Früher wurden die Blätter barfuß zerstampft, das erleichterte es uns, die Leute an ihren verfärbten Fußsohlen zu erkennen. Mittlerweile werden grüne Gummistiefel benutzt.« Transportiert werde die Paste in Kapseln, die aus Schlauchstücken gebastelt und dann heruntergeschluckt werden. »Die Leute üben vorher mit Möhren. Die Kapseln halten sich drei bis vier Tage, das ist genügend Zeit, um aus dem Chapare rauszukommen und bis an die brasilianische Grenze zu gelangen«, erläutert der Soldat.

Sein Vorgesetzter, Subcomandante Henry Terrazas, ergänzt: 50 bis 70 Labore zur Herstellung der Paste gebe es in der Region. Die Kokapflanzer seien zugleich die Produzenten der Droge. »Koka anzupflanzen ist ein sehr einträgliches Geschäft. Die Pflanzen brauchen wenig Pflege und können bis zu vier Mal im Jahr geerntet werden. So kommen sie auf Einkünfte bis zu 100 000 Bolivianos jährlich.« Umgerechnet sind das etwa 1 300 Dollar monatlich. In einem Land wie Bolivien, in dem 70 Prozent der Bevölkerung in Armut leben und der Mindestlohn gerade mal 50 Dollar monatlich beträgt, ist das sehr viel Geld. Henry Terrazas kämpft für ein gerechtes Ziel: »Wir sorgen nur dafür, dass das Gesetz 1 008 zur Anwendung kommt. Es schreibt vor, dass lediglich 12 000 Hektar für den traditionellen Koka-Anbau erlaubt sind. Diese legalen Gebiete liegen in den Yungas bei La Paz«.

Die so genannte traditionelle Koka wird zur Herstellung von Tee und Medikamenten verwendet. Auch das Kauen von Koka ist legal. »Alle anderen Pflanzungen sind illegal. Und wenn dieser Evo Morales die Pflanzungen hier schützen will, macht er das, um den Drogenhandel zu schützen. Unsere Aufgabe aber ist es, den Drogenhandel zu neutralisieren.« Die meisten der jungen Anti-Drogenkämpfer kommen aus dem Westen, also aus dem Hochland. »In speziellen Einheiten werden sie für den Dschungel trainiert.«

Unterstützt werden die Kämpfer, so der Subcomandante, von der DEA, der US-amerikanischen Drug Enforcement Agency. »Zwei bis drei Mitglieder der DEA beraten uns und unterstützen uns in logistischer wie geheimdienstlicher Hinsicht.« Die DEA sorgt zur Zeit auch in Kolumbien - im Rahmen des Plan Colombia - für die Durchsetzung der Regierungspolitik.

Die Handelsstrukturen, gerade auch in den Abnehmerländern wie den USA, werden vom rigorosen Vorgehen der Regierung gegen die Pflanzer nicht berührt. »Wir halten uns nur an die Regierungsvorgaben«, meint der Subcomandante und betont, dass bei allen Operationen die Menschenrechte gewahrt blieben. »Hinter den Beschwerden, die beim Ombudsmann eingehen, steckt die Drogenmafia, die sich in ihrem Geschäft behindert sieht.«

Ein Interview mit den inhaftieren GewerkschaftsführerInnen wird uns nicht gewährt. »Die Untersuchungen laufen noch.« Aber wir erhalten die Möglichkeit, die so genannten Präventivzellen zu besichtigen. In Räumen, die für 70 Personen vorgesehen sind, sitzen 186 Leute wegen eines Vergehens gegen das Gesetz 1 008 ein. Dieses Gesetz sieht für Drogentransport oder -besitz sowie für den Transport von inkriminierten Substanzen zur Herstellung der Kokapaste Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren vor. Oft reicht eine Denunziation aus, um jemanden in den Knast zu bringen. »Die Überbelegung macht es schwer, die hygienischen Standards einzuhalten«, warnt uns Terrazas. Es gebe aber einen Gefängnisarzt, und außerdem säßen die Leute dort auch nur bis zu ihrer Überführung nach Cochabamba. »Das sind in der Regel 48 Stunden. Manchmal mehr, manchmal weniger.«

Die Häftlinge dagegen machen andere Angaben, und der Gesundheitszustand der Leute spricht für sich. »Im Schnitt sitzen wir hier sechs bis acht Monate, einige sind schon seit zwei Jahren hier«, erklärt ihr Sprecher. »Die Matratzen reichen nicht für alle, sodass wir abwechselnd auf dem Boden schlafen. Das Essen besteht nur aus Yucca. Siehst du die Hautkrankheit, die die meisten von uns haben?« Ein Insasse zeigt uns die tiefen entzündeten Stellen an Armen, Beinen, Brust und Gesicht. »Sie ist ansteckend. Wir leben hier wie Schweine.«

Der Arzt stellt zwar Rezepte aus, doch Geld, um die Medikamente bezahlen zu können, hat hier niemand. Erst vor einigen Tagen ist ein Säugling gestorben. Ein inhaftierter Gewerkschafter erzählt, dass er festgenommen wurde, als Soldaten in sein Haus eingedrangen und ihm eine Tasche zeigten, in der Reste von Kokapaste waren. »Das war nicht meine Tasche. Sie war präpariert worden.«

Als sich Ende Oktober die Situation in der Region zuspitzte, fand in Shinahota eine Generalversammlung der sechs Cocalero-Gewerkschaften statt. Hier wurde beschlossen, der Regierung noch zwei Wochen Zeit zu geben, um die Abmachungen zu erfüllen und die Repression einzustellen. Als sich nach Ablauf des Ultimatums nicht viel getan hatte, demonstrierten am 6. November 3 000 Cocaleros in Cochabamba. Für Januar kündigen sie weitere Aktionen an.

Die Regierung gab unterdessen ihr nächstes Ziel bekannt: Ab März 2001 wird auch in den Yungas, in der Nähe von La Paz, aufgeräumt. Auch hier soll es illegale Koka-Pflanzungen geben. Der Termin für die nächsten landesweiten Mobilisierungen scheint also schon festzustehen. Ein Hungerstreik soll direkt auf der Verbindungsstraße zwischen Cochabamba und Santa Cruz abgehalten werden: »Coca o muerte - Koka oder Tod«.