»Die innere Sicherheit« von Christian Petzold

Der große Knall ist verhallt

Der Deutsche Herbst, das Exil, Vertrauen, der Fliegende Holländer und das Fernsehen. Ein Gespräch mit Christian Petzold, dem Regisseur des Films »Die innere Sicherheit«.

»Die innere Sicherheit« zeigt eine Dreier-Konstellation. Zwar gibt es auch isolierende Bilder und Schnitte, aber auffällig oft befinden sich alle drei Mitglieder dieser Kleinfamilie im selben Bildrahmen.

Für die Arbeit an »Die innere Sicherheit« war es wichtig festzustellen, dass der Anlass der Szenen meistens schon vorbei ist. Man sieht in ihnen immer das Nachbeben von irgendwas, nicht ihre Entstehung. Die Figuren haben die großen Diskussionen schon geführt, der Knall ist bereits verhallt. Wie sitzt so eine Familie dann da? Rückt jemand vom Tisch ab? Beugt sich einer vor? Ändert sich die Blick-Choreographie? Ich wollte, dass all das in dem Körper dieser Familie sichtbar wird und nicht durch irgendeine Montage.

Normalerweise setzen Filme in ihrer Inszenierung und Szenenauflösung ja stärker auf Kontinuität: Bewegungen aus vorherigen Bildern werden aufgenommen und in anschließenden weitererzählt. Dadurch entsteht etwas Fließendes. Bei »Die innere Sicherheit« hatte ich den Eindruck, dass zwischen den einzelnen Bildern oft Sekunden fehlten.

Bei der Dreierkonstellation am Tisch ging es eben nicht darum, die Kamera in die Zelle Familie hineinzuführen und diese dabei zu erzeugen. Es ging darum, überhaupt eine Position zu der Familienzelle zu finden, herauszufinden, wie deren Energiefelder aussehen - das Ungesagte, was unter diesem Abendessenstisch liegenbleibt. Und man muss aus den Szenen ja auch immer wieder rauskommen. Deshalb dieser fragmentarische Schnitt.

Du bist den ganzen Film über bei Jeanne und ihren Eltern. Dann plötzlich, in der Szene zwischen dem Verleger und der Anhalterin, unternimmst Du einen Perspektivwechsel.

Von dieser Szene kann man im weitesten Sinne sagen: Sie ist autonom. Aber das erste, was wir in der Sequenz sehen, ist die wartende Familie. Barbara Auer steht an der Chaussee, die auf die Raststätte zuführt, sie erwartet den Verleger. Den Ort erkennt man wieder, weil die Familie schon einmal hier war, hier sind schon einmal Hoffnung, Glückserwartungen, Erinnerungen an die Vergangenheit und auch Melancholie formuliert worden. Jetzt steht die Familie wieder dort, schaut, wartet - und niemand kommt.

In dieser Tankstellenszene taucht ein Leitmotiv auf: Ständig steht die Möglichkeit des Polizei-Zugriffs im Raum und die Frage, wie man darauf reagiert. Der ganze Film ist darüber rhythmisiert. Die Frage war: Ist man nach 15 Jahren Exil und Untergrund und Paranoia nicht so weit, dass man den Staat in sich herumschleppt? Benötigt man die andauernde Gefahr des Zugriffs nicht vielleicht sogar, um als Gruppe weiterzumachen? Während der Hausbesetzerzeit in Kreuzberg haben die Leute ja auch ständig darüber geredet, dass hinter jeder Ecke Zivilbeamte stehen und Verräter in den eigenen Reihen hausen. Vielleicht stimmte das sogar. Permanent wird eine Gefahr reklamiert, um eine Gruppe zusammenzuschweißen. Für eine Familienzelle ist das nicht anders. Der erste Zugriff, den man in dem Film sieht, gilt Migranten. Der zweite Zugriff ist ein von den Protagonisten eingebildeter. Der dritte Zugriff schlägt knapp neben ihnen ein, durch das Begehren des Anwalts, jungen Mädchen hinterherzuschauen.

Wenn dann die Hubschrauber kommen, die Polizei eintrifft und die ganze Stille dieser Raststätte im Niemandsland mit ihrem militärischen Apparat besetzt, und dann im nächsten Bild die Familie, durch diese dunkle Chaussee verhüllt, nach Hause fährt - dann sind sie ja auch in dem bestätigt worden, was bisher immer nur als Vorstellung da war. Die Mutter schweigt, und der Vater spricht von Techniken, mit Verhören umzugehen. In diesem Moment leben sie wieder 1977, das ist ein absoluter timetunnel. Später wird das Mädchen diese Rede ihres Vaters umcodieren und daraus eine Liebesgeschichte machen. Sie nimmt diese Erfahrung, die ihr da mitgeteilt wird, und benutzt sie, aber eben nicht in einer polizeilichen Verhörsituation, sondern in einem erotischen Moment.

Die Figur der Jeanne ist ja im ganzen Film durch Umsetzungen der Elternerfahrungen und -anweisungen geprägt. Der Film ist auch die Pubertätsgeschichte einer jungen Frau, die ihr Erwachsenwerden aufgrund der Umstände auf eine beinahe wissenschaftliche Weise betreibt.

Die Erfahrungen, aus denen heraus die Eltern lehren, sind lange vergangen und für die Tochter nie nachprüfbar. Sie stammen aus einem vergangenen Land, jetzt leben sie im Nirgendwo. Das, was die Tochter von den Eltern hört, versucht sie in die Gegenwart zu übertragen. Sie benutzt es in der Liebe, bei der Kleidung, bei der Bewegung in Städten. Darum geht es in dem Film, um Leute, die keine Gegenwart haben, also geschichtlich sind, lebende Tote. Das, was sie überhaupt noch mitteilen können, wird von der Tochter in Gegenwart verwandelt. Die absolute Vergegenwärtigung geschieht dann am Schluss, wenn die Mutter sagt: »Wenn man sich liebt, sagt man sich irgendwann alles.« Das macht Jeanne dann auch, sie sagt ihrem Freund Heinrich alles. Das führt aber zum Exitus.

In Deinen Filmen wird Vertrauen eigentlich immer bestraft und oft zu einer tödlichen Falle.

Die Leute in meinen Filmen sind nie unschuldig, meistens haben sie bereits vor dem Anfang der Erzählung Scheiße gebaut. Es geht mir um die Frage: Kann man denn eigentlich von der Schuld runterkommen? Im Grunde genommen geht es um Wiedergutmachungsarbeit. Ich finde, dass solch eine Arbeit eine der menschlichsten Tätigkeiten überhaupt ist. Auch wenn die Protagonisten zum Schluss an ihrer Wiedergutmachung verelenden und die Urszene eigentlich nicht mehr einholen können, in dieser Arbeit entsteht etwas: eine Glocke aus Glück, Trost, Offenheiten. Meine Filme halten sich immer irgendwann einmal unter dieser Glocke auf, wenn auch nur für kurze Dauer. Eigentlich wird in den Erzählungen von Kino und Fernsehen viel zu oft gestorben. Aber der Filmtod ist, im Gegensatz zum realen Tod, der Abschluss einer Geschichte und kein wirkliches Sterben. Dieser Film erzählt nicht von Verlust und der Tod ist hier auch nicht die Lösung. Der Tod der Protagonisten in »Die innere Sicherheit« sagt ja einfach nur: Der Film ist jetzt zu Ende.

Die RAF-Geschichte könnte für die Erklärung von Generationskonflikten im Allgemeinen herhalten. Der Übervater ist im Film der Staat, der Herrschaft über die Familie ausübt. So sehr die Familie sich auch anders konstituieren möchte, der Staat hat das letzte Wort. Die anfängliche Portugal-Sequenz ist ja nicht frei von utopischen Bezügen. Was wir da sehen, ist nicht nur eine Mangel-Familie, sondern auch eine, die von Zwängen befreit ist. Das Ganze könnte auch ein Kindertraum sein. Der Film reist dann von der Utopie in die Wirklichkeit.

Was ich aus Romanen von Raymond Chandler gelernt habe und immer so komplex fand, dass ich seine Romane hundertmal lesen könnte, ist, dass es immer zwei Geschichten gibt, die miteinander verwoben sind - die nicht künstlich verwoben werden, sondern die verwoben sind. Im Fall von »Die innere Sicherheit« sind das zum einen die Loslösung eines Mädchens vom Elternhaus, zum anderen das Zusammenhalten-Müssen einer Zelle im Untergrund. Beide Geschichten haben den gleichen Ort und die gleiche Zeit, keine ist das Transportmittel der anderen. Ich benutze nicht die Familie, um die Geschichte der RAF zu erzählen, und nicht die RAF, um die Familiengeschichte zu erzählen. Die Familie ist Mikropolitik, die RAF ist Makropolitik. Beides ist miteinander verbunden, die Politik ist in der Familie und die Familie ist in der Politik. Beim Schreiben ging es stärker darum, dieses Verhältnis in seiner Spannung und Komplexität zu erhalten, als darum, es irgendwie aufzulösen.

Du nutzt auch historische Details der RAF-Geschichte: »Moby Dick« als Erkennungszeichen, Gelddepots in Wuppertal, die gefälschten Pässe. Solche Elemente üben in dem Film zwei Funktionen aus: Einerseits weisen sie quasi dokumentarisch auf Sachverhalte hin, andererseits haben sie eine Kraft, die die Narration vorantreibt.

Ob das nun Schließfächer auf Bahnhöfen in Portugal sind oder Gelddepots in Wuppertal: Ich versuche mit dem Realen solcher Dinge umzugehen. Richy Müller muss beim Ausgraben eines Verstecks wirklich physische Arbeit leisten, gleichzeitig ist das aber auch eine archäologische Arbeit. Das, was man dort findet, ist alt, nicht mehr zu gebrauchen. Im Grunde graben die Protagonisten in ihrer eigenen Geschichte. Dass diese Zeichen nicht einfach nur nackte, grausam eindeutige Ikonen sind, die ganz direkt zu übersetzen wären, sondern auch selber komplexe Assoziationsapparate in Gang setzen, das interessiert mich. Es wird aber nicht nur von den Zuschauern verlangt zu assoziieren, auch die Protagonisten müssen solche Verbindungen herstellen, zum Beispiel wenn Richy Müller zu den Bündeln alter, inzwischen wertloser Hundertmarkscheine sagt: »Geschichtsunterricht!«

Wie kommt es, dass der Film sich auf der einen Seite der aufgeladenen Zeichen bedient, die auf den Deutschen Herbst verweisen, auf der anderen Seite aber die dazugehörige Kette von Erwartungen abgeschnitten wird?

Es kommen Dinge hinzu. Der ganze Film ist durchzogen von Schiffsmetaphern. Neben der »Moby Dick«-Analogie gibt es den »Fliegenden Holländer«, ein Über-die-Meere-Streifen-aber-nirgends-anlegen-können. Es gibt auch ein Märchen von Wilhelm Hauff über Gespensterschiffe, von denen Indien-Fahrer berichten: Plötzlich zieht ein Lufthauch vorbei und kurz sieht man Gestalten auf diesen Schiffen und man weiß, dass die vor 250 Jahren verschwunden sind. So habe ich die Existenz dieser Familie verstanden. Wenn die mit ihrem weißen Volvo über die Straßen fahren, dann habe ich den Schauspielern gesagt: Ihr seid wie so ein Lufthauch, nur für einen Moment wahrnehmbar. Manchmal werdet ihr bei Radarkontrollen geblitzt, irgendjemand hat euch vielleicht für einen kleinen Moment erkannt, aber ihr habt eigentlich keine Existenz mehr, ihr seid nur noch ein Hauch der Geschichte.

Ich dachte auch an Robinson Crusoe, der nach dem Schiffbruch auf seiner Insel die Zivilisation rekonstruiert. Hier versucht eine vereinzelte Familie, nach dem Schiffbruch ihrer Politik ein Familienmodell nachzubauen. Schließlich war da ein wunderschöner Satz von Hans Blumenberg: Ob es nicht darauf ankomme, aus den Resten der Geschichte, aus den Bruchstücken eines Schiffes, ein neues, tragfähiges Schiff zu bauen. Die Übertragung dieses Satzes von Blumenberg auf die Linke war für mich klar. Es müsste doch möglich sein, aus den Trümmerstücken der radikalen Linken etwas zusammenzubauen, ein neues Gebäude oder wenigstens ein Rettungsschiff. Genau das versucht die Familie hier. Nach jedem Zusammenbruch kommt sofort der Versuch, die Fassung wieder zu erlangen. Aber nicht wie brutale, sich ständig härter stählende Militärs, sondern indem sie dasjenige, was noch da ist, zusammenstellen und daraus einen Plan machen.

Es gibt in »Die innere Sicherheit« viele sehr konkrete Zeichen, trotzdem ist das nicht unbedingt ein realistischer Film. Es gibt keine Dreitagebärte, keine ölverschmierten Hände oder ähnliches.

Ich habe mich eigentlich schon um einen höchstmöglichen Realismus in dem Film bemüht und niemals versucht, diese Zeichenhaftigkeit zu erzeugen, die man vom Fernsehen kennt. Das ist aber ähnlich kompliziert wie der Versuch, Armut im Film darzustellen. Das ist so schwer, weil die Kamera eigentlich alles adelt. Selbst die entsetzlichsten Dinge sehen im Film nach etwas aus. Deswegen übertreibt man dann oft die Armut, indem man 2 000 alte Raviolidosen irgendwo rumliegen lässt, um »sozialen Verfall« zu zeigen.

Wenn man Wirklichkeit inszenieren will, ist es eine wichtige Frage: Wann muss Realismus das Überzeichnete sein, wann das Unterspielte? Bei der Auswahl der Kostüme scheinst du ja eher der Dezenz verpflichtet gewesen zu sein.

Was die Figuren tragen, ist eine Art Camouflage. Sie sollen das tragen, was die Leute drumherum auch tragen. Ich finde, dass die Leute in Filmen immer gut angezogen sein müssen. Die Dinge, die ein Schauspieler zu tragen hat, die muss er auch selber gerne tragen. Das ist bei denen genauso wie bei uns: Wenn wir plötzlich andere Codes am Leib haben, dann bewegen wir uns anders, weil mit der Kleidung ja auch Physis mitgegeben wird und Körperausdruck. Es geht in dem Film ja immer wieder ums Anziehen, um den Rückzug, um den Abendessenstisch und ums Autofahren. Nur - jedesmal ist irgendetwas passiert und es ist nicht mehr ganz genau das, was es vorher gewesen war. Es gibt die Bewegung, dass die Protagonisten einerseits versuchen, wieder einen Urzustand herzustellen und sich andererseits dabei immer weiter von diesem Urzustand entfernen. Die letzten Arbeiten am Drehbuch bestanden darin, die Szenenanzahl zu reduzieren, bis es nur noch eine Handvoll Szenenarten gab, die sich dann wiederholen und von Differenz zu Differenz voranschreiten. Diese ständigen Verschiebungen ähnlicher Szenen waren der Grundmotor der Dramaturgie.

Nach drei Fernsehfilmen ist dies dein erster Film für das Kino. Was macht dabei den Unterschied für dich aus?

Hauptsächlich geht es um das Wissen, dass man beim Fernsehen etwas herstellt, das ausgesendet wird und davor läuft dann »heute« und danach das »heute-Journal«. Die Position des Zuschauers bleibt im Fernsehen immer gleich. Die Position eines Kinozuschauers dagegen ändert sich immer, weil er jedesmal in einem anderen Film und anders in diesem Film sitzt, seinen Ausgangspunkt immer selbst verändert. Die Filme haben eine andere Form von Umgebung und ich weiß, wie ich damit korrespondieren kann.

Außerdem weiß man beim Fernsehen von vornherein, dass der Film genau 86 1/2 Minuten lang sein soll. Es gibt die so genannten slots im Programmschema, in die der Film passen muss - das ist ja das Entsetzlichste am Fernsehen. Deswegen löst man für das Fernsehen die Szenen höher auf, damit es bei der Aufgabe, diese strenge Minutenvorgabe einzuhalten, mehr Entscheidungsmöglichkeiten gibt und trotzdem ein durchgängiger Rhythmus entstehen kann. Man kann dann eben verdichten, verlängern, verkürzen - aber das gängelt einen ziemlich. An der Totalen einer Familie, die nicht durch zusätzliche Nahaufnahmen ergänzt worden ist, kann man nichts mehr ändern. Man kann das dann nur noch entweder komplett rausschneiden oder komplett drinlassen. Und wenn man es drinlässt, hat so ein Bild seine Zeit, seine Dauer. Wenn man für das Fernsehen arbeitet, muss man sich Möglichkeiten bereitstellen, diese Dauer manipulieren zu können.

»Die innere Sicherheit« D 2000. R.: Christian Petzold, D.: Julia Hummer, Barbara Auer, Richy Müller.