Interview mit Pierre Bourdieu

Soziologie ist die Kunst der Verteidigung

Was tun? Wachsam sein, vernetzen, boykottieren, intervenieren, sagt Pierre Bourdieu

Herr Bourdieu, Sie setzen sich seit mehreren Jahren für die Bildung eines europäischen Netzwerkes sozialer Bewegungen ein, die sich gegen die offensichtlichen und die unsichtbaren Auswirkungen des Neoliberalismus auflehnen. In Frankreich scheint das Bewusstsein dafür, dass Staat und Arbeitgeber für soziale Missstände zur Verantwortung gezogen werden müssen, ausgeprägter als in Deutschland. Ist die französische Gesellschaft politisierter?

In Frankreich haben sich nach '68 innerhalb der bedeutenden Gewerkschaften wie CGT, CFDT und FO einflussreiche linke Flügel gebildet. Außerhalb dieser sind autonome unabhängige Gewerkschaften entstanden, wie SUD oder die Groupe de Dix, welche aus anarchistischen und anderen sozialen Bewegungen kamen. Die libertäre Einstellung ist noch heute von großer Bedeutung, denn diese Gruppen zwingen die großen Gewerkschaften zur Auseinandersetzung, was natürlich eine besondere politische Dynamik in Gang setzt. Dies ist wohl sehr charakteristisch für Frankreich, ein Land der Spezialisten in Sachen Revolution - diese starke Verbindung zu den sozialen Bewegungen wie Sans-Papiers, die der Staat und die Gewerkschaften normalerweise gerne abdrängen.

Diese Bewegungen verfolgen konkrete Ziele. Im Fall der Sans-Papiers zum Beispiel sind die Gewerkschaften einfach politisch und moralisch gezwungen, sich zu verhalten. Dies gilt auch weiterhin: Bei den letzten Wahlen hat es eine Reihe von Versuchen gegeben, sich von links gegen das neoliberale Politikmodell der Linksregierung Lionel Jospins zu wenden. All das hängt mit einer historisch gewachsenen politischen Tradition und Kultur zusammen.

In Deutschland hat der Nationalsozialismus diese Bewegungen zerstört. Dies wirkt bis heute hinein in das Verhältnis zwischen Staat und Bürger.

Der Faschismus in Deutschland hat die Hoffnung auf sozialen Widerstand nachhaltig zerstört. Doch hinzu kam die darauf folgende politische Erziehung nach amerikanischem Vorbild, wie auch in Japan. Sie beeinflusste die gesamte Gesellschaft, die Medienlandschaft wie auch die Intellektuellen.

Wie bewerten Sie die aktuellen Auseinandersetzungen in Frankreich?

Der Ausverkauf des Staatswesens und die Aufhebung jeglicher Beschränkungen der freien Marktwirtschaft sind ein Prozess, der nun beginnt, seine Auswirkungen zu zeigen. Die Affäre Marks&Spencer und die Affäre Danone machen deutlich, dass die Leute anfangen zu begreifen, dass der Staat aufgrund der Maastrichter Vereinbarungen keinerlei Einfluss mehr auf diese Entwicklungen hat. Was bleibt also? Der Boykott, eine Erscheinung, eine Waffe des Neoliberalismus. Der Einzelne versucht im Rahmen des persönlichen Konsums, den großen Konzernen Sand ins Getriebe zu streuen.

Wie sehen Ihre derzeitigen Aktivitäten aus?

Ich habe mit meinen deutschen, griechischen, schwedischen und anderen Freunden eine europaweite Erhebung ins Leben gerufen. Es geht um die Frage: Ist eine soziale Bewegung möglich, wie sehen die Hindernisse aus etc. Die Ergebnisse werden in Kürze in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht. Es gibt zwar Vernetzungen, doch fehlt es uns häufig an Mitteln und Möglichkeiten, diese zu intensivieren. Die Untersuchung soll dazu beitragen, diese Schwierigkeiten zu benennen und Ideen zu entwickeln. Zunächst geht es hauptsächlich um die Frage der Gewerkschaften. Als nächster Schritt wird dann über die Medien diskutiert.

Ein anderes Projekt, in Zusammenarbeit mit einer Schweizer Gewerkschaft, bereitet die Gründung einer europäischen gewerkschaftlichen Universität vor. Intellektuelle und Aktivisten diskutieren im September über die Frage, wie können wir das organisieren, wer finanziert das Projekt, wie sollen die Inhalte der Lehr- und Diskussionsveranstaltungen gestaltet sein.

Sie haben 1993 gemeinsam mit KollegInnen »Das Elend der Welt« (1993) publiziert, ein Dokument der Lebensrealität von Leuten, die von sozialem Abstieg und Ausgrenzung betroffen sind und in den Banlieues leben. Wie bewerten Sie heute die Situation der Menschen dort?

Das gehört zu den größten Problemen, eine wirklich wichtige Frage. Weder die Gewerkschaften noch die Parteien haben auch nur die Spur einer Ahnung, dass dieses Problem überhaupt existiert. Insbesondere die Linksregierung Frankreichs ist einfach eine Katastrophe - man schämt sich ein wenig, man macht ein paar symbolische Akte, und das war's. Da man weiß, dass die meisten dieser Leute sich von den Wahlen fernhält, sind sie ungefährlich und damit bedeutungslos.

Wegen der hohen Anzahl von ImmigrantInnen innerhalb dieser Gruppen wäre es wichtig, dass sich hier in Europa eine Internationale der ImmigrantInnen bildet, die zu einer politischen Kraft wird. Die Bildung einer Internationale der Türken, der Berber, der Marokkaner, der Tunesier usw.

Glauben Sie, dass die immer wieder aufflammenden Riots in den Banlieues der Anfang eines Widerstands gegen die Ausgrenzung sein können oder verlieren sie sich letztlich im Teufelskreis aus zielloser Gewalt und Repression?

Ich denke, es ist wichtig, dass die Leute zu einem politischen Bewusstsein kommen. Die Verwandlung von zielloser Gewalt in eine Kraft, die sich an politischen Zielen orientiert, ist absolut notwendig. Delinquenz und Abkehr werden ansonsten tatsächlich zum Teufelskreis aus Repression, Rassismus und oft tödlicher Gegenge-walt. Die Bewegung in Toulouse, eine Selbstorganisation von Immigranten, die sich zu den Wahlen aufgestellt hat, weist schon in eine solche Richtung. Leider verbündete sich ein Teil von ihnen im zweiten Wahlgang mit den Sozialisten und verlor prompt an Einfluss. Sie müssen unabhängig bleiben, sich nicht an sozialdemokratische Gruppen halten, die sie zunächst benutzen und dann fallen lassen.

Der Weg dahin ist noch weit. Die Jugend prallt gegen lauter Hindernisse, allein schon auf dem Arbeitsmarkt. In »Das Elend der Welt« gibt es eine Menge solcher Berichte. All das produziert eine starke Depression und Hoffnungslosigkeit, welche die Menschen dazu bringt, sich von gesellschaftlicher und politischer Aktion abzuwenden. Früher wirkten die Gewerkschaften hier sehr integrativ. Zum Beispiel hatte die CGT bei Renault tamilische und algerische Delegierte. Heute sind das nur noch die kleinen unabhängigen Gewerkschaften wie SUD, die diese Tradition wieder aufgreifen.

Sie sagen, dass auch im Bereich der Kultur ein Prozess der Prekarisierung eingesetzt hat und dass die Avantgarde-Kultur davon betroffen ist, und hier insbesondere auch der Film.

Die Bewegung der Filmemacher Ende der neunziger Jahre hier in Frankreich ist Teil der sozialen Bewegungen, die ich vorhin nannte. Hier machten sich die Filmleute zum Beispiel auch für die Sans-Papiers stark. Das ist sehr wichtig zu sehen, denn damit betraten sie ein Terrain, welches zunächst außerhalb ihres korporatistischen Zusammenschlusses lag. Danach gab es Widerstand gegen den AMI, ein neues Reglement, welches ausländischen Filmkonzernen genau die gleichen Rechte wie den französischen Produzenten zuspricht.

Was kritisieren Sie daran?

Das beschränkt den Zugang auf Subventionen, von denen kleine Gruppen und Kinos abhängig sind, ungemein. Damit wird die kulturelle Eigenheit des französischen Kinos stark beschnitten, was sehr schade ist, denn das französische Kino ist sehr vielfältig und lebendig, nicht zuletzt wegen der Unterstützung. In Europa gehört es quasi zu den letzten Bastionen, denn das italienische Kino ist tot, das deutsche kaum der Rede wert. Ich bin in Korea gewesen und habe dort dafür gesorgt, dass sich koreanische und französische Filmleute zusammen tun und sich gegenseitig unterstützen.

Zusammenschlüsse von Filmemachern, die eine Kooperation mit großen Firmen und Sendern ablehnen, zahlen für ihre Unabhängigkeit einen hohen Preis. Sie werden nur von einem kleinen Teil der Gesellschaft wahrgenommen.

Was die Verbreitung betrifft, eine in der Tat schwierige Frage. Der Film von Pierre Carles ist dafür ein gutes Beispiel. Selbst Arte weigert sich, ihn auszustrahlen. Sobald ich im Spiel bin, lehnt Arte-France ab.

Warum?

Aus politischen Gründen natürlich. Meine Kritik an der französischen Medienlandschaft nimmt Arte nicht aus, das ist bekannt. Sie werden natürlich andere Gründe nennen. Da Carles bereits eine Reihe sehr kritischer Filme gemacht hat, ist er in der Fernsehbranche ziemlich verpönt. Aber Pierre Carles plus Pierre Bourdieu, das ist einfach zu viel.

Kürzlich traf ich mit einer Gruppe von Filmleuten zusammen, die einen Film zur Situation der Obdachlosen gedreht haben, »Parias«. Sie haben große Schwierigkeiten, einen Sendeplatz zu bekommen. Ich habe ihnen geraten, sich mit anderen Gruppen zu verbünden, politisch einzugreifen. Das ist auch im europäischen Rahmen notwendig. Alles, was die großen Sender wollen, ist ihre eigene Industrie verteidigen. Filme, die zum Nachdenken anregen, interessieren nicht. Das heißt nicht, dass unbedingt politische Filme gezeigt werden müssen, aber interessante, zum Nachdenken anregende wenigstens.

Viele kleine Kinos sind von der Schließung bedroht.

Oh, ja. Und die meisten stehen inzwischen in direkter Abhängigkeit von den großen Konzernen, sie strahlen ausschließlich Hollywood-Filme aus. Die progressiven Filmleute müssen sich dagegen stellen, indem sie sich solidarisch verhalten und unabhängige Distributionssysteme schaffen. Für einen Film wie den von Pierre Carles gibt es ein paar solcher Kinos, zwei davon in Paris.

Pierre Carles scheint sogar einen Vorteil darin zu sehen, dass der Film nun ausschließlich im Kino zu sehen ist. Da er über zwei Stunden lang ist, können die Zuschauer, so seine These, im Kino viel stärker davon profitieren.

Das mag sein, doch trotz allem erreicht ein Arte-Abend mit den niedrigsten Einschaltquoten immer noch viel mehr Zuschauer als all diese kleinen Kinos zusammen. Zum Glück gibt es noch andere Möglichkeiten. Der Film wird als Videokassette in Europa und den USA vertrieben werden. Und wie es aussieht, wird Arte-Deutschland den Film senden.

Nach Ihrer Auffassung können und sollen Intellektuelle und Wissenschaftler politisch intervenieren, sowohl innerhalb von sozialen Bewegungen als auch im akademischen Bereich. Was raten Sie in diesem Zusammenhang den Studenten von heute?

Diese Frage wird mir häufig gestellt, und meine Antwort darauf wird sie möglicherweise überraschen. Ich rate ihnen zur Wachsamkeit. Denn eine der größten Schwierigkeiten ist das materielle und geistige Überleben. Ich meine damit keine übertriebene Vorsicht, dieser Rat entspricht eher einer realistischen Sichtweise. Man muss seine Arbeit machen, entsprechend den Anforderungen, und frei bleiben. Als eine Art akademischer Subproletarier ohne Ressourcen kann man sehr radikal sein, doch man bleibt wirkungslos, und leider kommt es immer irgendwann zu einem Punkt, wo die sozialen Bedingungen vieles determinieren. Man muss die Grenzen kennen, denn hast du dich einmal unnötig exponiert, dann ist es gelaufen, für dich und dann auch für andere.

Das bedeutet absolut nicht, lasch oder opportunistisch zu sein, im Gegenteil. Doch es gilt, Zugeständnisse zu machen, um schnell fertig zu werden und konstant dranbleiben zu können. Das ist wichtig, gerade wenn wir uns die heutigen Linksregierungen betrachten und ihre Protagonisten, die aus der 68er-Bewegung kommen und noch heute enge Verbindungen in das linke Milieu haben. Diese Leute sind sehr geschmeidig, sehr stark darin, Ideen und Bewegungen auszubremsen, zu demobilisieren.

In Deutschland sind das die Leute, die heute Kriege führen.

Ja, eben. Es ist deshalb sehr wichtig, ernsthaft zu arbeiten und dabei sehr aufmerksam zu sein, konstant und verbindlich in der eigenen Position zu bleiben, um nicht in den Zynismus abzugleiten.

Warum ist die Soziologie ein Kampfsport?

Also, der Filmtitel war nicht meine Idee. Aber Sie kennen doch sicher den Kampfsport Judo? Hier sehe ich eine Menge Gemeinsamkeiten mit der Soziologie, wie ich sie betreibe; es ist die Kunst der Verteidigung.

Aber Sie verteidigen doch nicht nur, sondern greifen auch an.

Finden sie? Ist das nicht vielleicht ein wenig übertrieben? Angesichts der gesellschaftlichen Determination durch das ökonomische und symbolische Machtpotenzial wage ich kaum zu behaupten, dass meine Interventionen überhaupt zum tatsächlichen Angriff in der Lage wären.

Aber Ihre Theorien und Positionen werden in der Öffentlichkeit sehr stark wahrgenommen und diskutiert, das ist schon sehr viel heutzutage.

Nun, ich bin nicht der Einzige, wir sind mehrere, und ich habe eine ganze Menge von Leuten gelernt, die außergewöhnlich kompetent sind in ihren Bereichen, doch gänzlich unbekannt, weil sich niemand dafür interessierte. Hier in Frankreich ist es außerdem kein Vorteil, Bourdianer zu sein.

In Deutschland hingegen scheint das anders zu sein.

In Japan und den USA kann meine Unterschrift für einen Studenten sehr nützlich sein. Nicht so in Frankreich. Hinzu kommt, dass es schwer ist, mich zu klassifizieren. Ich war nie in der kommunistischen Partei, aber immer links. Vielleicht haben Sie Recht. Doch letztendlich mache ich das Ganze aus Gründen der Verteidigung, um eine Soziologie zu verteidigen, die ein sehr hohes Niveau erreicht, sehr anspruchsvoll ist und aus diesem Grund sehr hart angegriffen wird.