Vor 50 Jahren erschien J.D. Salingers Roman »The Catcher in the Rye«

Die Verlogenheit der Eltern

Vor fünfzig Jahren erschien J.D. Salingers »Catcher in the Rye«.

Umwerfend finde ich das Gefühl, wenn man nach einem Buch ganz erledigt ist und sich wünscht, dass man mit dem Autor, der es geschrieben hat, nah befreundet wäre und dass man ihn antelefonieren könnte, wenn man Lust dazu hätte«, sagt Holden Caulfield in dem Roman »Der Fänger im Roggen« von J.D. Salinger.

Es gibt bestimmt Autoren, die sich freuen, wenn Leser sie anrufen. Vielleicht hat der verschwiegene Salinger einmal zu ihnen gehört, aber das muss sehr lange her sein. Als sein Bestseller »Der Fänger im Roggen« (»The Catcher in the Rye«) am 16. Juli 1951 erschien, war sein Verfasser jedenfalls verschwunden. Unerreichbar für hingerissene Fans, die sich mit Holden Caulfield identifizierten und dessen Schöpfer so gerne »antelefoniert« hätten. Doch aufdringliche Leser, Autorengespräche, Vorlesereisen und die üblichen PR-Auftritte waren J.D. Salinger zuwider. Was die Kritiker zu sagen hatten, konnte er schließlich auch im fernen England lesen.

»Ein ungewöhnlich brillantes Erstlingswerk«, lobte die New York Times den Roman am Tag seines Erscheinens. Bald zogen Literaturkritiker enthusiastische Vergleiche mit Mark Twains Klassiker »Huckleberry Finn«, und manch einen erinnerte Holden Caulfields jugendliche Sinnsuche sogar an die »Leiden des jungen Werther«. Die Weichen für einen phänomenalen Erfolg waren gestellt. In den ersten zwei Monaten nach Erscheinen wurden fünf Auflagen gedruckt, bis heute verkauften sich rund 60 Millionen Exemplare. »In einer problematischen Welt und Zeit kann Dichtung nichts Höheres erreichen«, schrieb Hermann Hesse über das von Heinrich und Annemarie Böll ins Deutsche übersetzte Werk. Für Bill Gates und Madonna war es »mein wichtigstes Buch«, und die Beastie Boys tönten: »I got more stories than J. D. Salinger.«

Bei aller Popularität ist »Der Fänger im Roggen« aber immer kontrovers geblieben. Kaum ein Autor hat so oft auf der schwarzen Liste gestanden, kaum ein Buch wurde und wird in christlich-fundamentalistischen Gegenden so häufig aus Schulbibliotheken entfernt. Die Geschichte des Schulversagers Holden Caulfield, der sich nicht nach Hause traut, zwei Tage ängstlich und verloren durch New York streift, der der Erwachsenenwelt ihre Unehrlichkeit und Korruptheit übel nimmt und eigentlich nur mit seiner kleinen Schwester kommunizieren kann, erbost die Gemüter heute noch genauso wie vor fünfzig Jahren, als der Christian Science Monitor an der »groben Sprache und dem exzessiven, amateurhaften Fluchen« Anstoß nahm.

Dass das Buch David Chapman und John Hinckley inspirierte, gab den Kritikern in den Achtzigern neue Munition. Chapman erschoss John Lennon, Hinckley verübte das Attentat auf Ronald Reagan. Chapman verbarg seine Waffe unter einem Exemplar vom »Catcher in the Rye«, als er auf John Lennon zielte, und erklärte später bei der Gerichtsverhandlung, er habe Lennon ermordet, weil sich dieser zu einem genauso verlogenen Charakter entwickelt habe, wie sie im »Fänger im Roggen« dargestellt worden sein. Auch Hinckley trug ein Exemplar des Buchs bei sich, als er am Tatort verhaftet wurde.

Mit dem ersten Roman einen bombastischen Erfolg zu verbuchen und im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, davon können die meisten Autoren nur träumen. Doch J.D. Salinger störte der Applaus. Der 31jährige legte keinen Wert darauf, bekannt und berühmt zu sein, er hasste den Literaturbetrieb geradezu. »Das heiligste Recht eines Schriftstellers ist das Recht auf Privatheit und Obskurität.« Salinger wollte in Ruhe gelassen werden. Er wollte schreiben, ohne zu veröffentlichen.

Also zog er aufs Land, in die Idylle von New Hampshire. Und dort begann das Nachspiel zum »Fänger im Roggen«: die Geschichte eines mittlerweile 81jährigen Eremiten, dem der totale Rückzug ins Private nie so ganz gelungen ist. Die Geschichte eines Autors, der seit 1965 keine Zeile veröffentlicht hat, sein Schweigen aber bricht, wenn er gegen Raubdrucker und unliebsame Biografen prozessiert, und der es trotzdem nicht verhindern konnte, dass in jüngster Zeit eine wahre Flut von Informationen an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Privates und allzu Privates, preisgegeben in den Erinnerungen zweier Frauen: Salingers Tochter und einer in Geldnot geratenen früheren Flamme.

Bis heute strömen unverdrossen Salinger-Touristen nach New Hampshire. Sie sehen ihren Besuch als eine Art Pilgerreise. Es ist wie eine Wallfahrt der Holden Caulfield-Fans zum Heiligen Salinger, der ihnen mit »The Catcher in the Rye« nicht nur ein einmaliges Buch, sondern obendrein die aus Amerika nicht mehr wegzudenkende, verkehrt herum getragene Baseballmütze bescherte. Sie hat mindestens einer Generation Teenager das massenhaft populäre und doch ganz individuelle Holden Caulfield-Gefühl verliehen. »Es war eine rote Jagdmütze mit langem Schild. Ich hatte sie in einem Sportgeschäft im Schaufenster gesehen, als wir aus der Untergrundbahn kamen. (...) Die Mütze kostete nur einen Dollar. Ich setzte sie verkehrt herum auf - mit dem Schild im Nacken -, idiotisch, das gebe ich zu, aber es gefiel mir am besten so. Ich sah gut darin aus.«

Ähnlich unsterblich geworden wie die Kappe ist der Anfang des Romans: »Falls Sie wirklich meine Geschichte hören wollen, so möchten Sie wahrscheinlich vor allem wissen, wo ich geboren wurde und wie ich meine verflixte Kindheit verbrachte und was meine Eltern taten, bevor sie mit mir beschäftigt waren, und was es sonst noch an David Copperfield Zeug zu erzählen gäbe, aber ich habe keine Lust, das alles zu erzählen. Erstens langweilt mich das Zeug und zweitens würden meine Eltern einen Schlag kriegen, wenn ich irgendetwas persönliches über sie erzählen würde. (...) Ich will nur die verrückten Sachen erzählen, die sich letzte Weihnachten abspielten, bevor ich vollkommen zusammenklappte und hierher gebracht wurde, um mich zu erholen.«

Holden Caulfield erzählt seine Geschichte in der Sprache eines 16jährigen Großstadt-Teenagers. Aus der Perspektive des vom Schulstress überforderten, hochsensiblen Knaben aus reichem Elternhaus, der so gerne cool auftritt, seine Verletzlichkeit aber nicht verbergen kann. Aus einem grandiosen, über 200 Seiten gehenden Monolog dringt seine Stimme: hochmütig und zynisch, intelligent und sensibel, warmherzig und verzweifelt. Wenn er seinen Zorn über die »phonies«, die Verlogenheit der Erwachsenenwelt, loswerden muss, sich über ihre Heuchelei, Unehrlichkeit und miesen Regeln aufregt, klingt er scharf und schnoddrig.

»Ein Hauptgrund, warum ich von Elkton Hills fortging, war, dass lauter blasierte Heuchler dort waren. Das ist alles. Sie kamen aus allen Ritzen. Zum Beispiel der Rektor, Mr. Haas, war der verlogenste Hund, dem ich je begegnet bin. An Sonntagen ging er herum und begrüßte alle Eltern, die auf Besuch kamen, dann war er unbeschreiblich charmant. Ausgenommen wenn einer komische Eltern hatte, ich meine, wenn eine Mutter dick war oder so, und wenn ein Vater einen Anzug mit wuchtigen Schultern anhatte und geschmacklose schwarze Schuhe, dann gab ihnen Haas nur schnell die Hand und lächelte blasiert und redete eine gute halbe Stunde mit anderen Eltern. So etwas kann ich nicht ausstehen. Es macht mich rasend. Es deprimiert mich so, dass ich verrückt werde. Die ganze verdammte Schule war mir verhasst.«

Im Internat Pencey Prep macht Holden Caulfield ähnliche Erfahrungen. Als er auch dort hinausfliegt, muss er zurück nach New York, um seinen ahnungslosen Eltern unter die Augen zu treten. Er traut sich nicht und treibt 48 Stunden lang einsam und ziellos durch die Stadt. Er mietet sich in einem zwielichtigen Hotel ein, bestellt Drinks, fährt Taxi, trifft eine Prostituierte, flieht vor den homosexuellen Avancen seines ehemaligen Englischlehrers und fährt mit seiner kleinen Schwester Phoebe Karussel im Zoo des Central Parks. Mit der Zehnjährigen kann er reden. Als Phoebe ihn fragt, ob er nicht doch irgendwas im Leben richtig gern hätte, muss er erst nachdenken. Dann steigt ein Bild in ihm auf: Er möchte der Beschützer kleiner Kinder sein - »The Catcher in the Rye«.

»Ich stelle mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe - kein Erwachsener, meine ich - außer mir. Und ich würde am Rand einer verrückten Klippe stehen. Ich müßte alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen - ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müßte ich vorspringen und sie fangen. Das wäre alles, was ich den ganzen Tag lang tun würde. Ich wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, dass das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre.«

Die verletzliche Figur des »Fängers im Roggen« machte Salinger schlagartig so populär, dass die amerikanische Literaturgeschichtsschreibung ihm gleich ein ganzes Jahrzehnt einräumte. Die Jahre 1948 bis 1958 gelten als »Ära Salinger« oder als »das Zeitalter des Holden Caulfield«. Von den drei Kurzgeschichtensammlungen, die Salinger nach dem »Fänger im Roggen« veröffentlichte, war die zweigeteilte Erzählung »Franny und Zooey« wiederum ungewöhnlich erfolgreich, doch was danach kam, enttäuschte die Kritiker. Nach 1965 kam keine Zeile mehr.

Interviews lehnt J.D. Salinger ab. Besucher empfängt er nicht. Briefe lässt er unbeantwortet. Aber dass er auf seinem abgelegenen grünen Hügel in Cornish, New Hampshire nur noch geschwiegen hätte, stimmt nicht ganz. 1974 meldete er sich bei der New York Times, um mitzuteilen, dass er Anzeige gegen einen Raubdrucker erstattet habe, der eine nicht autorisierte Ausgabe seiner Short Stories veröffentlicht habe. 1980 gab er einer Journalistin aus Louisiana ein Interview, und 1988 nahm er in Kauf, in New York vor Gericht aussagen zu müssen, um die Biografie des britischen Autors Ian Hamilton zu verhindern. Hamilton, ein renommierter Literaturkritiker und Poet, schrieb sein Buch über Salinger trotzdem, wenn auch etwas anders als geplant. Und selbst wenn er keine umwerfenden Neuigkeiten zu Papier brachte, so hat er den Mystery Man der amerikanischen Literatur doch wenigstens mit einer lebendigen, zusammenhängenden Biografie ausgestattet.

Dass darin Ähnlichkeiten mit einem gewissen Holden Caulfield auftauchen, dürfte wohl niemanden wundern. Geboren am 1. Januar 1919, wächst Jerome David Salinger wie Holden als verwöhnter Tunichtgut in einem begüterten Elternhaus in Manhattan auf. Seine Mutter Miriam stammt aus Schottland, der Vater, ein jüdischer Kaufmann, importiert Schinken und Käse aus Osteuropa. Die Schuljahre auf einer privaten Militärakademie in Pennsylvania verschaffen ihm keine Erfolgserlebnisse und auch dem College und der Universität kann der hochgewachsene, schlaksige Student wenig abgewinnen.

1940 veröffentlicht er seine erste Kurzgeschichte. Zwei Jahre später tritt er in die Armee ein, muss sich damit abfinden, dass seine Freundin Oona O'Neill den wesentlich älteren Charlie Chaplin vorzieht, wird nach Europa an die Front befördert und nimmt von Invasionsbeginn bis Kriegsende an fünf Feldzügen teil. Salinger erlebt auch die deutsche Ardennen-Offensive. Nach dem Krieg bleibt er in Frankreich, kuriert einen Nervenzusammenbruch aus und heiratet eine französische Ärztin. Die Ehe wird bald wieder geschieden, und Salinger kehrt nach New York zurück.

1950 verhunzt Hollywood seine Kurzgeschichte »Uncle Wiggly in Connecticut« und verdirbt damit auch Elias Kazans Chance, jemals den »Catcher in the Rye« verfilmen zu dürfen. Hamiltons Biografie endet 1965, als Salingers literarische Stimme verstummt. Was folgt, interessiert den Briten nicht mehr. Geschwätz und Gerüchte überlässt er dem ebenfalls unautorisierten Biografen Paul Alexander und zwei schwatzhaften Ladies: der Journalistin und Ex-Salinger-Gefährtin Joyce Maynard und Salingers Tochter Margaret.

Kurz vor dem 50. Jahrestag seines Erscheinens haben viele Salinger-Fans ihren »Catcher in the Rye« noch einmal gelesen. Die Universität von Wisconsin will anlässlich des Jubiläums sogar ein Buch herausgeben: »Letters to J.D. Salinger«. Bekannte Schriftsteller und Literaten werden Salinger schreiben, was ihnen so durch den Kopf geht, wenn sie heute an Holden Caulfield zurückdenken.

Professor Jeffrey Richards ist einer der Briefschreiber. Drei Seiten hat er getippt. »Mr.Salinger«, heißt es da, »als Sie dieses Buch schrieben, haben Sie, meine ich, die Büchse der Pandora geöffnet und eine revolutionäre Idee

in die Welt gesetzt: Erwachsene sind nicht perfekt. Die Regeln, die sie aufstellen, sind nicht perfekt. Die Welt stinkt manchmal. Das war damals so, jedenfalls wo ich wohnte. Der Potomac war eine Kloake. Der Himmel war jeden Tag grau und zugezogen. Schwarz und Weiß waren nach Rassen getrennt. Überall herrschten Kriege und es machte uns nichts aus, in den nächsten zu ziehen. Was mich nach all den Jahren allerdings ärgert, ist, dass wir das Pendel in die entgegengesetzte Richtung haben ausschlagen lassen. Ich glaube, dass Sie die Büchse der Pandora geöffnet haben, Sie und die Beatles. Es war für mich keine Überraschung, dass Chapman Ihr Buch bei sich hatte, als er John Lennon erschoss. Sie, Timothy Leary, Martin Luther King und all die anderen haben eine Welt geschaffen, die kaum wieder zu erkennen ist, eine Welt voll von unzufriedenen Jugendlichen und Erwachsenen. Ich höre die Stimme von Holden Caulfield mittlerweile überall.«