Keine Feuersbrunst im Dudelfunk

In the Year 2525

Was haben »99 Luftballons« von Nena, »War« von Edwin Starr und »TNT« von AC/DC gemeinsam? Wenig eigentlich, doch stehen sie zusammen mit 150 anderen steinalten und brandneuen, teilweise auch grauenhaften Popsongs auf einer Liste von Stücken, »die sich in fragwürdigen Texten mit den Themen Tod und Tragödie auseinandersetzen«. Erstellt wurde die Liste von Programmchefs der texanischen Clear Channel Corporation. Wenige Tage nach den Anschlägen von New York und Washington hatte man sie in Umlauf gebracht. Die Songs sollten wegen der schrecklichen Ereignisse nicht mehr in Playlisten gespeichert sein und ab sofort nicht mehr gespielt werden, weil Radiohörer ihre Botschaften in der aktuellen Lage als gefühllos empfinden könnten; es handele sich aber nicht um eine Weisung, sondern lediglich um eine »Empfehlung«.

Zum Medienunternehmen Clear Channel Corporation gehören rund 1 100 kommerziell ausgerichtete Lokalradiostationen in den USA. Nach eigenen Angaben erreicht Clear Channel damit 110 Millionen Hörer landesweit; jeder zehnte kommerzielle US-Radiosender gehört dem Medienmulti. Clear Channel ist nicht nur Marktführer im Bereich Formatradio, Geld macht die Unterhaltungsfirma auch mit Billboards. In den USA werden rund 550 000 dieser Großwerbetafeln von Clear Channel betrieben.

Ist die Empfehlung zur Verbannung von bestimmten Popsongs eine Zensurmaßnahme? Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in der amerikanischen Verfassung im First Amendment, dem ersten Verfassungszusatz, verankert. Im Zweiten Weltkrieg erließ die US-Regierung allerdings besondere Verhaltensmaßregeln für Radioprogramme zum Schutz der nationalen Sicherheit im Krisenfall. So wurde zum Beispiel die Ausstrahlung von Wetterberichten verboten, da sie dem Feind den Boden für Bombenangriffe bereiten könnten; ebenso durften keine Hörerwünsche mehr gesendet werden. Spione, so argumentierte man, könnten darin geheime Anweisungen verbreiten. Die aktuelle Popsongliste jedoch ist nicht von einer Bundesbehörde autorisiert, sondern sie kursiert intern bei einem Medienkonzern.

Formatradio. Schon vor dem 11. September und nicht nur in den USA galten kommerziell ausgerichtete Radiostationen nicht gerade als erste Adresse für ausgewogene und kritische Wortbeiträge oder interessante Musik. »Top 40 Radio« oder »Dudelfunk« ist keine Plattform für Radiokunst oder Minderheitenprogramme. Es geht um Einschaltquoten und Werbeeinnahmen. Der Radiomarkt ist umkämpft, jeder möchte von der Konkurrenz Hörer zurückgewinnen, denn mehr Hörer kann man nicht mehr erreichen. Die großen Radiostationen betreiben daher aggressive Marketingkampagnen.

Playlisten, also die Songs, die im kommerziellen Radio jeweils für gewisse Zeit per Dauerrotation gespielt werden, sind genau auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten. Spielt ein Sender etwa das Format CHR (Contemporary Hit Radio), werden die Songs aus den Top 40 im Stundenrhythmus wiederholt.

Steine des Anstoßes. Neben Songs von Crossover-Bands wie den Stone Temple Pilots oder Rage against the Machine (ihre sämtlichen Songs wurden auf den Index gestellt), neben altem Hardrock vom Schlage der Black Sabbath, die amerikanischen Elternverbänden und religiös-fundamentalistischen Pressure Groups ihrer »satanischen« und »gewaltverherrlichenden Texte« wegen schon länger ein Dorn im Auge waren, sind auch jede Menge Popklassiker aus dem Clear-Channel-Programm genommen worden. Wer hätte gedacht, dass John Lennons »Imagine« in irgendeiner Form anstößig sein könnte, »Bridge over troubled Water« von Simon & Garfunkel oder ein Stück der alten Heulboje Elton John? Selbst konservative Popkritiker rieben sich die Augen, als plötzlich Songs der Girlgroup Bangles, des ehemaligen Genesis-Sängers Peter Gabriel oder der stadienfüllenden Prog-Rocker Pink Floyd als verdächtig galten.

Manche der von Clear Channel belieferten Radiostationen widersetzen sich der Empfehlung und spielen weiter indizierte Songs. Bob Buchmann, Programmmchef und Moderator des Classic Rock-Senders Q-104,3 FM in Manhattan, gab an, einige der Songs gehörten zu den am meisten gewünschten und gespielten auf seiner Station. Auf der Homepage des Senders blinken die Konterfeis von Popgrößen wie Elton John, Mick Jagger und Eric Clapton. Von Zensurmaßnahmen ist nichts zu sehen, aber man kann sich die US-Flagge als Bildschirmschoner herunter laden.

Öffentlichkeit gegen Publicity. »Alternative Medienkanäle sind unverzichtbar« sagt Brian Turner, der Programmchef des auch in New York City sendenden Public Radio WMFU. »Unser Radiosender finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge unserer Hörer. Als Programmchef einer unabhängigen Radiostation, die keinerlei Verknüpfung zu kommerziellen Networks hat, ist es eine besondere Aufgabe, die Hörer mit Informationen aus der ganzen Welt zu versorgen. Wir machen das gerade auch mit dem Wissen, dass viele Hörer nicht die Möglichkeit haben, andere Informationen zu hören als die der wenigen Medienmultis, die gleichzeitig sehr viele Radiostationen kontrollieren. Im kommerziell ausgerichteten Radio kommen viele Stimmen gar nicht vor, weil es eben nur darauf ausgerichtet ist, das schnelle Geschäft zu machen.«

Seit der Sender KPFA 1953 in Berkeley/Kalifornien seinen Betrieb aufnahm, gibt es überall in den USA so genannte Public Radios. Diese alternativen Radios senden auf Frequenzen mit kurzer Reichweite, machen jedoch ein qualitativ hochwertiges Radioprogramm. Die Nachrichten kommen nicht von den kommerziellen Networks, es gibt zahlreiche Sendungen, in denen Wortbeiträge überwiegen, die Hörer können sich aktiv beteiligen. Und die DJs der jeweiligen Sendestunde suchen die Musik persönlich aus. So auch bei WMFU, das von Jersey-City im Großraum New York sendet. Am 17. September waren etwa in der »Stochastic Hitparade« von DJ Bethany so unterschiedliche Künstler wie Sun City Girls, RZA oder Fela Kuti zu hören.

»Ein Weg, unsere Meinung kundzutun, ist die Musik«, so Turner. »Manche DJs haben eine große Kreativität an den Tag gelegt, um die Ereignisse musikalisch zu kommentieren. Bei uns wird Musik gespielt, ganz egal ob sie eklektisch, experimentell oder pop ist.«

WMFU sendet auch Wortprogramme wie »Democracy Now! In Exile«, ein Nachrichtenmagazin der Autorin Amy Goodman. Radio auf Grassrootslevel sei die einzige Möglichkeit für unabhängige Information, abseits des Mainstream, so der Programmdirektor. »Hoffentlich führen die Vorkommnisse in New York und Washington nicht dazu, dass die Rundfunkfreiheit eingeschränkt wird, für die Öffentlichkeit ist der unbeschränkte Zugang zu Informationen wichtig. Heute aber werden die Informationen von einem besonders engen Zusammenschluss aus Networks und Medienunternehmern vermittelt.«