David Harris, Direktor des American Jewish Committee, im Gespräch

»Arafat ist ein Teil des Problems«

Nach der jüngsten Anschlagsserie hat sich der Nahostkonflikt weiter verschärft. Ein Interview mit david a. harris, dem Direktor des American Jewish Committee, über die Gegner und Boykotteure des Friedensprozesses

Hat Yassir Arafat die Situation noch unter Kontrolle?

Das ist schwierig zu sagen. Dennoch denke ich, wir sollten davon ausgehen, dass er noch Herr der Lage ist. In den vergangenen 14, 15 Monaten gab es immer wieder Phasen, in denen Arafat ein Interesse daran hatte, Gewalt und Terror zurückzudrängen. Zum Beispiel als der G 8-Gipfel in Genua stattfand und Arafat hoffte, die G 8 würden Israel in ihrem Abschlusskommuniqué direkt kritisieren. Und tatsächlich war es ja auch so, dass es zu dieser Zeit kaum Unruhen gab. Deshalb glaube ich, dass er seinen Einfluss - wenn auch mit Schwierigkeiten - durchaus geltend machen kann, um die Gewalt zu kontrollieren. Sollte das nicht der Fall sein, stellen sich natürlich ganz andere Fragen. Dann müsste man sich nicht nur fragen, wer denn sonst die Kontrolle besitzt, sondern vor allem, warum Israel mit einem Partner verhandeln sollte, der nicht mal seine eigenen Kräfte kontrollieren kann. Ich gehe aber weiter davon aus, dass er die Kontrolle hat.

Trägt er damit auch die Verantwortung für die Anschläge der vergangenen Woche?

Am Ende ja. Und Geheimdienstinformationen belegen, dass es immer wieder zu Treffen zwischen Arafat und der Hamas gekommen ist. Jeder von ihnen verfolgt seine eigenen Ziele, doch wenn es für beide nützlich ist, finden Arafat und die Hamas auch eine gemeinsame Lösung. Der Westen geht meines Erachtens zu leicht diesem falschen Argument auf den Leim, Arafat müsse unterstützt werden, weil er schwach ist, weil die Alternativen schlimmer seien. Damit wird Arafats sonst durch nichts zu rechtfertigendes Verhalten legitimiert. Die Palästinenser verstehen es sehr geschickt, die Angst auszunützen, dass die Alternativen zu Arafat schlimmer seien. Dabei ist es offensichtlich, wie gut sein Spiel funktioniert, in dem er stets die diplomatische Karte zieht, um im nächsten Zug wieder die Gewaltkarte zu spielen.

Es ist also eine pragmatische Reaktion der israelischen Regierung, Arafat als Verantwortlichen anzusehen?

Die verantwortungsvollste Reaktion wäre es, Arafat endlich haftbar zu machen für das, was in den palästinensisch kontrollierten Gegenden geschieht. Und Städte wie Djenin sind unter palästinensischer Kontrolle. Das sagt übrigens nicht nur Israel, auch die USA bezeichnen Arafat als den Verantwortlichen. Auch bei meinen deutschen Gesprächspartnern scheint sich diese Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass Arafat zwar ein Teil der Lösung sein könnte, dass er aber mit Sicherheit auch ein zentraler Teil des Problems ist.

Halten Sie die israelische Forderung, erst nach sieben Tagen Waffenstillstand die Friedensverhandlungen fortzusetzen, für sinnvoll?

Ich halte nichts davon, in militärischen und strategischen Schlüsselfragen so zu tun, als wüsste ich irgend etwas besser. Es ist aber so, dass der im Frühjahr dieses Jahres unterbreitete Mitchell-Plan vier Stufen beinhaltet. Stufe eins sieht eine Art Abkühlungsphase vor, um der unmittelbaren Gewalt ein Ende zu setzen. Da Israel am Ende dieses Friedensprozesses schmerzhafte und risikoreiche Konzessionen machen wird, sollte es auch das Recht erhalten, zu erfahren, ob seine Partner, die Palästinenser, die Gewalt unter Kontrolle halten können, oder nicht. Sei es für Tage, Wochen oder Monate.

Damit könnte der Verhandlungsprozess auf unabsehbare Zeit verschoben werden.

Ich glaube nicht, dass die Welt erwarten kann, dass Israel mit jemandem verhandelt, der die Gewalt in den eigenen Reihen nicht im Griff hat oder nicht haben will. Nicht nur, weil die Anschläge dazu führen, dass in Israel bald niemand mehr Hoffnung auf irgendeine Form von Frieden haben wird, sondern auch, weil Arafat Gewalt vorsätzlich als politische Verhandlungstaktik benutzt. Deshalb halte ich es für unerlässlich, sich noch einmal die Osloer Verträge von 1993 anzuschauen und den darin enthaltenen Brief Arafats an die US-amerikanische und die israelische Regierung zu lesen. Denn dort versichert er ihnen, auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele zu verzichten.

Seltsamerweise wollen viele diese unbequeme Wahrheit nicht hören. Doch warum sollte Israel irgendeiner Beteuerung Arafats von heute trauen, wenn es eine lange Reihe gut dokumentierter Fälle gibt, in denen er seine Versprechen gebrochen hat. Jeder, der etwas von den Risiken weiß, die Israel am Ende eines Friedensprozesses auf sich nehmen muss, und jeder, der die Geografie in der Region kennt, weiß, wie verletzlich das Land wegen seiner geringen Größe und der dicht besiedelten Zentren ist.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang ausländische Extremisten, etwa die Hisbollah im Südlibanon?

Gemeinsam mit der Hamas und dem Islamischen Djihad stellt die Hisbollah weiterhin eine reale Bedrohung dar. Dabei darf man nicht vergessen, dass es diesen Gruppen und allen, die in ihrem Namen Selbstmordattentate begehen, um die Zerstörung des Staates Israel geht. Diese Tatsache fehlt mir ganz besonders in der Presseberichterstattung. Es wird immer der Eindruck erweckt, dass es sich um Menschen handelt, die ihrer Frustration über die Misere in Palästina Ausdruck verleihen, oder über die israelische Besatzung und das ökonomische Elend ihrer Familien. Doch dem Islamischen Djihad geht es ja nicht um die Räumung israelischer Siedlungen in der Westbank, sondern um die Beseitigung ganz Israels. Das fehlt komplett in den Medienberichten.

Und das gilt auch für die Hisbollah?

Bei der libanesischen Hisbollah handelt es sich um eine islamistische Bewegung ganz im Geiste von al-Qaida. So wie andere Gruppen im Nahen Osten verfolgt die Hisbollah eine Strategie, die darauf zielt, zunächst die Sharia in ihren jeweiligen Staaten einzuführen, um dann längerfristig einen islamischen Staat zu errichten - im Endeffekt von Marokko bis Indonesien.

Zudem hat die Hisbollah einen Staat im Staat geschaffen. Sie kann jedoch nur überleben, weil drei andere Staaten sie unterstützen. Der Iran finanziert die Organisation und stattet sie mit Waffen aus. Syrien kümmert sich um den Transport der Waffen aus dem Iran in den Libanon und benutzt die Hisbollah außerdem als Waffe gegen Israel. Und der Libanon selbst hat bislang darauf verzichtet, die Kontrolle über den Süden des Landes zurückzugewinnen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Libanon sich geweigert hat, der Forderung der USA, die die Hisbollah zur terroristischen Organisation erklärt haben, nachzukommen, deren Konten zu sperren. Die libanesische Regierung verweigert das ...

... mit der Begründung, bei der Hisbollah handele es sich um eine Befreiungsbewegung.

Ja. Deshalb wäre es die Aufgabe der USA, die Regierung in Beirut davon zu überzeugen, dass es nur im Interesse des Libanons liegt, dies zu tun, und ansonsten entsprechende Sanktionen zu verhängen. Ich bin mir nicht sicher, ob es so kommen wird, hoffe aber, dass die europäischen Staaten die USA in ihren Anstrengungen unterstützen werden. Schließlich hat so manches EU-Land mehr Einfluss auf den Libanon als die USA.

Auf militärischem oder auf politischem Gebiet?

Nehmen Sie das Beispiel Frankreich. Spätestens seit dem Friedensabkommen aus den zwanziger Jahren, als Frankreich und Großbritannien diesen Teil des Nahen Ostens untereinander aufgeteilt haben, unterhalten Syrien und der Libanon besondere Beziehungen zu Frankreich. Deshalb ruft der Westen Paris immer dann zur Hilfe, wenn es Schwierigkeiten mit Damaskus oder Beirut gibt. Es wäre wichtig zu wissen, ob Frankreich auch dieses Mal hilft. Ich weiß es aber nicht.

Stehen Frankreich und die übrigen europäischen Staaten in der aktuellen Situation tatsächlich auf der Seite Israels? Die Jüdische Gemeinde in Frankreich hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach darüber beklagt, dass die Regierung in Paris eine einseitig propalästinensische Position einnehme. Die belgische Regierung in Brüssel will den israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon gar vor das Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag bringen.

Es gibt gar keinen Zweifel, dass das Image Israels in Europa ein wichtiges Thema ist, dem das AJC viel Aufmerksamkeit schenkt. In den letzten Wochen etwa haben wir viele europäische Regierungsvertreter getroffen, darunter auch den französischen Ministerpräsidenten. Vor unserem Besuch in Berlin waren wir für drei Tage in Paris, wo wir außerdem mit Vertretern der jüdischen Gemeinde zusammengekommen sind. Die gute Nachricht ist, dass Frankreich als Mitglied der Anti-Terror-Koalition sehr aktiv ist. Die schlechte Nachricht ist, dass unklar ist, ob der Konsens zwischen der EU und den USA über das Thema »Krieg in Afghanistan und gegen al-Qaida« hinaus überhaupt tragfähig ist. Insbesondere, was das Verhältnis zwischen Frankreich und den USA betrifft.

Sollten die USA sich dazu entschließen, den Krieg gegen den Terror auf den Irak auszudehnen, wüsste ich nicht, was die Antwort der EU wäre. Doch die ersten Hinweise lassen auf eine negative Reaktion schließen. Von daher wäre es einem Konsens vielleicht dienlicher, zunächst auf nicht-militärischer, das heißt auf politischer, diplomatischer, ökonomischer und finanzieller Ebene zu agieren.

Unabhängig davon hat mich der Besuch Assads in Paris im Juli dieses Jahres sehr beunruhigt. Den roten Teppich haben sie dort für ihn ausgerollt.

Nicht anders in Berlin.

Das stimmt, allerdings wurde er dort nicht so demonstrativ hofiert. Die Einladung aus Paris aber sorgte für die falsche Botschaft an Assad, der nun wieder, ähnlich wie Arafat, ein Spiel mit zwei Rollen spielen kann. In Frankreich tritt er als Staatsmann auf, der sich mit seinen Gastgebern über gemeinsame Werte unterhält - einfach furchtbar. Frankreich ist die Heimat der Menschenrechte, der französischen Revolution und der Demokratie. Zu sehen, wie Assad dort versucht, sich selbst neu zu erfinden und sich als Verwandten im Geiste und Bruder Jacques Chiracs zu inszenieren, ist wirklich schrecklich. Und die französische Regierung spielt das Spiel mit.

Welche Bedeutung hat der Antisemitismus in diesem Zusammenhang?

Was wir in Frankreich erleben, ist Teil einer umfassenderen Entwicklung, die die Welt hoffentlich nicht weiterhin verschlafen wird. Denn obwohl ich als Sohn zweier Überlebender des Holocaust geboren wurde und immer sehr sensibel auf die Bedrohung der Menschenrechte und des Staates Israel reagiert habe, bin ich vom Naturell her eigentlich kein Alarmist. Doch die Konferenz von Durban/Südafrika - die so genannte Weltkonferenz gegen Rassismus unter der Schirmherrschaft der Uno - hat mich in meiner Sorge bestätigt. Auch wenn das Treffen über den Ereignissen des 11. September in Vergessenheit geraten ist, wird die Konferenz als unheilvoller Ausbruch von Antisemitismus in die Geschichte eingehen. Nicht nur Juden waren erschrocken und entsetzt, sondern all diejenigen, die den Antisemitismus für ein Geschwür halten, das das Funktionieren der Demokratie gefährdet. Juden sind häufig die ersten, denen es an den Kragen geht, aber wenn die Juden bedroht werden, dann ist es ein Indiz für die Verfasstheit der Gesellschaft, in der sie leben.

Ist Frankreich von dieser Entwicklung bedroht?

Ich hoffe, dass die französische Regierung die Sorgen der jüdischen Gemeinde künftig ernst nimmt. Wenn französische Juden den Ruf »mort aux juifs« hören oder es Brandanschläge auf Synagogen gibt, dann mag das das Werk von Einzeltätern oder islamischen Teenagern sein, die in der Banlieue von Marseille, Lyon oder Paris leben. Aber selbst wenn es sich nicht um eine organisierte antisemitische Kampagne handelt, ist es für die Juden nicht leichter zu akzeptieren, und es ist deshalb nicht weniger gefährlich für die französische Gesellschaft und ihre Werte. Außerdem haben wir nach dem 11. September gesehen, wie in der muslimischen Welt der Antisemitismus wieder auflebte und wie versucht wurde, die Juden für die Anschläge verantwortlich zu machen.

Ich glaube, dass der Westen die Natur und den Grad des Antisemitismus in der arabischen und der muslimischen Welt verkennt. Die Politiker neigen eher dazu, dies als Ausdruck arabischer Leidenschaftlichkeit abzutun. Doch für Juden, die den Holocaust entweder selbst überlebt haben oder Kinder von Überlebenden sind oder die vor Verfolgung und Unterdrückung aus arabischen Staaten fliehen mussten, ist es nicht so leicht, das einfach als Übermut und Leidenschaft zu bagatellisieren.

Steht es Europa vor diesem Hintergrund überhaupt zu, Uno-Truppen für Israel zu fordern?

Ich glaube, dass sich manche Dinge in Europa sehr langsam entwickeln, doch sie entwickeln sich. Ob freiwillig oder nicht, die meisten europäischen Staaten haben sich inzwischen mit ihrer Geschichte während des Zweiten Weltkrieges auseinandergesetzt - und alle unterhalten mittlerweile diplomatische Verbindungen zu Israel. Das war vor 15 Jahren nicht so.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass einige europäische Länder den Prozess, der hier »Wiedergutmachung« genannt wird, genutzt haben, die Bücher der Geschichte zu schließen, im historischen wie im emotionalen und psychologischen Sinne. Das Kapitel Holocaust ist damit beendet. Lediglich am Tag der Befreiung von Auschwitz und zu anderen Gedenktagen erinnert man sich noch, und auch dann nur an die Ereignisse von damals, ohne Konsequenzen für heute zu ziehen. Wir sind gescheitert damit, die Lehren von damals auch auf die Gegenwart anzuwenden, auf das zeitgenössische Judentum und den Staat Israel.

Sollte Europa sich im Nahost-Konflikt erstmal zurückhalten?

Man kann von den Europäern nicht als monolithische Einheit sprechen, und das gleiche trifft auch für die Sichtweise und das Verhalten einzelner Staaten gegenüber Israel zu. Ich gehöre deshalb auch nicht zu den Leuten, die Europa für antiisraelisch halten. Aber in der Tat denke ich, dass sich Europa auf negative Weise unparteiisch und neutral verhält. Das unbedingte Streben nach einer Friedenslösung verhindert es häufig, das Falsche vom Richtigen zu unterscheiden. Manchmal muss man sich aber für eine Seite entscheiden, sonst wird die Unparteilichkeit zur Ausrede. Auch wenn die Europäer Israel sicherlich niemals bewusst beschädigen wollten, übersehen sie manchmal wichtige Dinge.

Sie setzen weiter vor allem auf die USA als Vermittler?

Wenn sich neben Repräsentanten anderer Länder auch Vertreter europäischer Staaten nur aus dem einen Grund zusammentun, Israel zu verurteilen - und genau das tun die Unterzeichnerstaaten der 4. Genfer Konvention heute in Genf -, dann frage ich mich: Wie kann das sein? Dabei wurde die Konvention 1949 als Antwort auf den Horror des Zweiten Weltkriegs verabschiedet, um Zivilisten zu schützen. Seitdem wurde die Konvention nie angewandt, bis auf zwei Ausnahmen: 1999 wurde Israel wegen seines Vorgehens in den Palästinensergebieten verurteilt, und heute geschieht das wieder. Damit wird die Geschichte auf den Kopf gestellt. Das soll nicht heißen, dass es keine Probleme zwischen Israelis und Palästinensern gibt, doch guten Willen kann man den Menschen, die diese Konferenz eingerufen haben, wirklich nicht unterstellen. Der Regierung in Washington steht es deshalb gut zu Gesicht, dass sie an der Konferenz nicht teilnimmt.

Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung im Nahen Osten ein?

Erscheint Ihre Zeitung wöchentlich oder täglich?

Wöchentlich.

Dann fällt es mir schwerer, eine optimistische Aussage zu treffen, auch wenn ich das wirklich gerne täte. Ich glaube, dass es kein Land gibt, das sich mehr nach Frieden sehnt als Israel, doch kurzfristig ist er wohl nicht in Sicht. Langfristig sehe ich zum Frieden keine Alternative.