Linke auf der Suche nach der richtigen Form

Repräsentation ohne Repräsentierte

Die Auseinandersetzung in der Linken nach Genua und nach dem 11. September bewegt sich in Deutschland in der Spannung zwischen ersten organisatorischen Ansätzen und der Kritik an deren politischem Selbstverständnis. Thomas Seibert erkundet die Konfliktlinien im prekären Verhältnis von theoretischer Kritik und politischer Praxis.

Der Ausdruck Ereignis bezeichnet nicht einfach eine empirische Begebenheit unter anderen, sondern einen Einschnitt, der die Möglichkeit einer neuen politischen Konstellation eröffnet. Relevant ist das deshalb, weil die Gegenwart gleich von zwei Ereignissen in diesem Sinn bestimmt wird, dem Ereignis »Genua« und dem des »11. September«. Ihrem Möglichkeitsfeld sind die antagonistischen Perspektiven der sozialen Kämpfe eingeschrieben, die den Prozess der Globalisierung vorantreiben. Gekämpft wird nicht um das Ob, sondern um das Wie der Globalisierung und folglich darum, wer im krisenhaften Fortgang des Prozesses den Wendepunkt gesetzt haben wird. Da der Wendepunkt keine isolierte Begebenheit unter anderen Begebenheiten, sondern die mögliche Umwälzung ihrer Konstellation ist, kann er weder in der theoretischen noch in der politischen Praxis unmittelbar zum Gegenstand oder zum Ziel werden. Die Ereignisse, die ihn markieren, müssen deshalb in die erst zu konstruierende Geschichte ihres Werdens zurückgenommen werden.

Tatsächlich gehen weder Genua noch der 11. September in der Plötzlichkeit ihres Sich-Ereignens auf. Manifestierte sich in Genua die emanzipative Globalität einer »Bewegung der Bewegungen« (Mezzadra/Raimondi), die sich in Seattle schon angekündigt und in Prag und Göteborg Kontur gewonnen hatte, wurde der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon zum Anlass, das globale Gewaltmonopol durchzusetzen, das die Nato in ihrem 1999 verabschiedeten »Neuen Strategischen Konzept« explizit für sich beansprucht. In dessen Kalkül sind die Erfahrungen eingegangen, die die politischen und militärischen Führungsstäbe der Nato-Staaten seit dem Zweiten Golfkrieg sammeln mussten. Von Seattle bis Genua kamen ihrerseits die Erfahrungen zum Austrag, die in den französischen und koreanischen Streiks Mitte der neunziger Jahre, in der zapatistischen Bewegung und einer bis dahin unzusammenhängenden Vielzahl anderer Kämpfe gesammelt wurden. Im ideologischen Diskurs um die historische Erfahrung selbst jederzeit aufs Spiel gesetzt, kann das Werden der Ereignisse nur von innen analysiert werden. Ausgangspunkt der folgenden Analyse ist die besondere Situation, in der sich nach Genua und dem 11. September die Linke in Deutschland befindet.

Das Ende der neunziger Jahre. Für die neoliberalen Ideologen markiert der Zusammenbruch des staatssozialistischen Blocks das »Ende der Geschichte« im globalen Triumph der westlichen Demokratie und der Freiheit des Welthandels. Für eine gewisse Zeit schien nicht wenig für diese Annahme zu sprechen. In atemberaubender Geschwindigkeit zersetzten sich sämtliche politischen Formationen, die für sich in Anspruch genommen hatten, das Prozessieren des Kapitals begrenzen oder brechen zu wollen. Dies gilt nicht allein für die realen Sozialismen, sondern auch für die Parteien und Gewerkschaften der europäischen Sozialdemokratie, für die aus den antikolonialen Kämpfen hervorgegangenen Entwicklungsstaaten, zuletzt auch für die Neuen Sozialen Bewegungen der Metropolen und die ihnen verbundene Neue Linke. Sie alle werden mit dem Anbruch der neunziger Jahre entweder für die neoliberale Transformation des kapitalistischen Weltsystems funktionalisiert oder bis zur vollständigen politischen Bedeutungslosigkeit marginalisiert.

Die besondere deutsche Konstellation dieses Prozesses bestimmt sich seit der »Wiedervereinigung« durch die herrschaftliche Umkehr der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus, die sich im erneut mit Waffengewalt artikulierten Anspruch politischer Dominanz nach außen und der Aufkündigung noch der letzten Reste des fordistischen Klassenkompromisses im Innern artikuliert. Forciert wurde dieser Prozess nach dem Wahlsieg der rotgrünen Koalition 1999: Im gesamtdeutschen Wettbewerbsstaat fiel die politische Führung jetzt einem Personal zu, das biographisch für sich in Anspruch nimmt, in der Modernisierung kapitalistischer Vergesellschaftung die Revolten der sechziger Jahre zu vollenden und deshalb auch zum imperialen Mandat legitimiert zu sein.

Dem Anfang der neunziger Jahre erfolgten Zusammenbruch der radikalen Minderheitsströmung der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen folgte nun die Demoralisierung ihrer staatsreformistischen Mehrheitsströmung. Wie sehr sich dabei Erbärmlichkeit und Infamie mischten, zeigte sich in der gespenstischen »68er-Debatte«. Die Schwäche der Restlinken offenbarte sich zuvor schon in der Kampagne gegen den Kölner G 8-Gipfel 1999, die in Ausmaß und Qualität deutlich hinter vorangegangenen Kampagnen in den Nachbarländern zurückblieb. Mangels Beteiligung anderer Kräfte wurde die Abschlussdemonstration des Bündnisses »Köln 99« zur Hälfte von der deutschen Sektion der Arbeiterpartei Kurdistans bestritten, die sich am Bündnis gar nicht beteiligt hatte.

In Seattle führte die Globalität des neuformierten Widerstands Kräfte einander zu, die ihre Schwäche jetzt als Folge ihrer Versprengung und Trennung voneinander erkennen konnten. Anfang 2001 wurde das Foro Mondo Social in Porto Alegre zum Medium der Begegnung und des Austauschs zwischen sozialen Bewegungen, NGO und Tausenden auf eigene Faust angereisten AktivistInnen. Es demonstrierte die historisch neue Qualität der Protestbewegung, sich die politische Form der Internationale nicht erst zum Ziel setzen zu müssen, sondern als wesentliche Existenzbedingung voraussetzen zu können. Von Porto Alegre gingen wichtige Impulse für die Mobilisierung gegen den im Juli 2001 nach Genua einberufenen G 8-Gipfel aus. Die sozialen Kräfte - wiederum: oppositionelle Gewerkschaften, Umweltverbände, die Kampagne für die Entschuldung des globalen Südens, NGO der verschiedensten Art, der Partito Rifondazione Comunista, diverse linksradikale Gruppen und die Bewegung der Centri Sociali - anerkannten diesen Impuls im Namen ihres eigenen Zusammenschlusses, des Genoa Social Forum. Nach den Demonstrationen des 19., 20. und 21. Juli und der blutigen Repression der »chilenischen Nacht« bildeten sich überall in Italien Soziale Foren.

Obwohl eine Demonstration wie die in Genua in Deutschland nicht hätte stattfinden können, formiert sich auch hier seither eine quantitativ und qualitativ neue soziale Bewegung. Exemplarisch lässt sich dies in der Entwicklung des deutschen Zweigs des internationalen Attac-Netzes belegen. 1998 in Frankreich auf Initiative staatsreformistischer Intellektueller als Vereinigung zum Zwecke einer Devisenumsatzsteuer zum Wohle der Bürger gegründet, existieren Attac-Strukturen heute in über 30 Ländern. Die Organisierung verbindet, den Sozialen Foren in Italien nicht unähnlich, zwei Ebenen: Sie ist ein Netzwerk unterschiedlicher politischer Formationen - NGO, Gewerkschaften, Kirchen, vereinzelt sogar Kommunen - und zugleich eine in autonomen lokalen Gruppen verankerte soziale Bewegung, der man sich individuell anschließt. Politisch kennzeichnend ist auch hier eine grundlegend internationalistische Orientierung, die auf »die Schaffung eines nichthegemonialen, dezentralen kollektiven Akteurs« zielt, »der trotz der Heterogenität seiner Komponenten über gemeinsame Interventionsfähigkeit verfügen soll« (Peter Wahl).

Eine Reihe von NGO gründete Anfang 2000 den deutschen Zweig von Attac als Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte. Kamen auf den ersten beiden bundesweiten Ratschlägen noch über 100 Leute zusammen, sammelten sich auf dem dritten Ratschlag Ende 2000, der die formelle Umbenennung in Attac beschloss, noch gerade 60. Auffällig waren vor allem das nahezu vollständige Fehlen von Jüngeren und die Abwesenheit radikaler Linker; Attac Deutschland schien, gegenläufig zum internationalen Trend, ein Flop zu werden. Mit Genua änderte sich dies abrupt. Der Organisierungsprozess lokaler Gruppen nahm turbulente Ausmaße an, ebenso schnell vergrößerte sich das Netz der Mitgliedsverbände. Die Medien stilisierten Attac zum Subjekt der »Antiglobalisierungsbewegung«, Alibilinke der SPD und der Grünen suchten demonstrativ den Schulterschluss. Dann kam der 11. September, schließlich der 7. Oktober. Attac verurteilte unzweideutig sowohl den Angriffskrieg der Anti-Terror-Koalition wie die in den Schily-Gesetzen legitimierte innenpolitische Repression. Trotzdem wurden alle weiteren Aktivitäten von der Drohung überschattet, die in Genua erreichte Öffnung könnte schon wieder verschlossen sein. Der Ende Oktober 2001 in Berlin tagende Attac-Kongress konnte diese Befürchtung bis auf weiteres zerstreuen. Wären die OrganisatorInnen noch eine Woche vor Beginn mit 1 000 TeilnehmerInnen zufrieden gewesen, kamen schließlich viermal so viel Leute zusammen. Mittlerweile hat sich die Anzahl der Mitgliedsverbände verdoppelt, neben denen sich knapp 100 Ortsgruppen gebildet haben, in denen sich rund 4 000 Menschen organisieren. Das Ende der neunziger Jahre hat damit auch in Deutschland Einzug gehalten - jedenfalls der Möglichkeit nach. Ob dies tatsächlich der Fall sein wird, wird sich zeigen. Zweifel daran weckt nicht zuletzt das noch heute fortdauernde Fehlen einer relevanten linksradikalen Strömung in und außerhalb von Attac. Dies hat weniger mit Attac und mehr mit der Linken zu tun.

Die Linke? Welche Linke? Dass radikale Linke mit der Einführung einer Tobinsteuer und der Schließung von Steueroasen, formell noch immer Leitforderungen von Attac, wenig anfangen können, versteht sich von selbst. Den »entfesselten« Kapitalismus fiskalisch bändigen zu wollen, kündet zweifellos - um die gängigen Formeln linker Distanzierung zu bemühen - ebenso von einer »verkürzten Kapitalismuskritik« wie von einem »etatistischen Politikverständnis«. Zutreffend ist auch, dass viele Attac-AktivistInnen vorerst mehr gar nicht wollen, und zwar nicht nur in den Mitgliedsverbänden, sondern auch an der lokalen Basis. Trotzdem geht die Kritik in ihrer Fixierung auf die staatsreformistischen Forderungen der Organisation schlafwandlerisch am Potenzial des Organisierungsprozesses vorbei.

Deutlich wurde dies unmittelbar nach den Anschlägen von New York und Washington. Während Attac sofort gegen die Installierung des globalen Gewaltmonopols der USA und ihrer Verbündeten Stellung bezog, inszenierten die antideutsche und Teile der antinationalen Strömung der Linken eine bald ins Absurde abkippende Debatte, in der jede Kritik an den USA als Parteinahme für die Attentäter des 11. September denunziert wurde. Dabei wurden die Frontlinien fortgeschrieben, die in der vorangegangenen Auseinandersetzung um die al-Aksa-Intifada zu einer paradoxen Verkehrung bestimmter antiimperialistischer Deutungsmuster geführt hatten. Ignorierte die Solidarität mit den antikolonialen Kämpfen der siebziger und achtziger Jahren die in der nationalistischen Ideologie und der Logik des bewaffneten Kampfes begründeten reaktionären Züge einzelner Befreiungsbewegungen, so verfingen sich Teile der antinationalen Kritik in den rassistischen Ideologemen der Anti-Terror-Koalition. Dabei wurde die sicher nicht unproblematische spontane Zustimmung, die die Anschläge in nahezu allen peripheren Gesellschaften fanden, auf einen simplen »Antiamerikanismus« mit antisemitischen Inklusionen reduziert. Dem entsprach, dass die zweifellos notwendige Distanzierung sowohl von al-Qaida wie von den Taliban unvermerkt in eine Äquidistanz zu allen Fronten des Anti-Terror-Krieges übersetzt wurde - was angesichts der globalen Machtverhältnisse eine grobe Fahrlässigkeit darstellt, deren verdeckte Parteilichkeit sich bald im freihändigen Räsonnement über »den Islamismus« verriet.

Den Tiefpunkt der linken Kritik markierten schließlich diejenigen, die sich konsequent auf die Seite der Krieg führenden Mächte schlugen und dabei deren Deutungsmuster - Zivilisation vs. Barbarei, Moderne vs. Antimoderne, unsere Lebensweise vs. deren Lebensweise - übernahmen: unter gar nicht klammheimlichem Verzicht auf eben die Kapitalismuskritik, für die man zuvor das Exklusivrecht in Anspruch genommen hatte. Beschränkte sich die, nach den Auseinandersetzungen um den Krieg gegen den Irak 1991, zweite Welle eines linken Bellizismus auf das Umfeld der Zeitschrift Bahamas, könnte man achselzuckend seiner Wege gehen. Der Umstand jedoch, dass deren Positionen ausgerechnet im selbstkritischen Flügel der Internationalismus-Szene wie im Milieu der Antifa wenn nicht Zustimmung, so doch Verständnis finden, belegt eine mittlerweile bereits habituell verfestigte Unfähigkeit metropolitaner Linker, die eigene privilegierte Position reflektieren und den Horizont der Metropolenerfahrung relativieren, geschweige denn übersteigen zu können. Auch dabei kommt es zu einer paradoxen Verkehrung von Deutungsmustern eines bestimmten Antiimperialismus, dessen Anfälligkeit für antisemitische Positionen jetzt durch eine Solidarität mit Israel konterkariert wird, die sich ganz offenbar gegen jede Wahrnehmung des tatsächlichen Geschehens abgedichtet hat.

Viele Gründe sind für diese Krise der linken Kritik verantwortlich. Die meisten haben mit dem spezifisch postmodernen Antikommunismus der letzten zehn Jahre zu tun, der nicht die Dämonisierung der kommunistischen Alternative, sondern radikaler deren Leugnung als einer »wirklichen Bewegung« betrieb. Die wichtigsten Gründe aber führen in die Geschichte der Neuen Linken selbst zurück, in den Mangel einer adäquaten Selbstkritik in der Folge des Rücklaufs sozialer Bewegung seit den siebziger Jahren. Damals schlug sich das Scheitern avantgardistischer Politikvorstellungen, die zuvor theoretisch aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und der antikolonialen Kämpfe extrahiert worden waren, in einer abstrakten Verwerfung jeder an die sozialistisch-kommunistische Erfahrung anschließenden theoretischen Praxis nieder, mit der jegliche Reflexion auf das ausgeschaltet wurde, was bis dahin als »Organisationsfrage« diskutiert worden war. Der damit einhergehende Verlust historischen Wissens bestimmte in den achtziger Jahren die politische Entwicklung der Grünen wie der Autonomen. Obwohl die beiden Erben der Neuen Linken sich rasant auseinander entwickelten, kamen sie je auf ihre Weise in der subjektivistischen Überdrehung der »Politik in erster Person« und der Ersetzung der theoretischen Praxis durch einen Empirismus der Realpolitik einerseits und einen Empirismus der reinen Gesinnung andererseits überein. Dem entsprach, dass Grüne wie Autonome den Unterschied zwischen einer politischen Linken im engeren und den sozialen Bewegungen im weiteren Sinn einebneten, indem sie sich mit der Bewegung identifizierten.

Die Integration der Grünen und das Verschwinden der Autonomen führten dann zwar zu einer Rückwendung zur theoretischen Praxis in der marginalen Linken der neunziger Jahre, doch ging dieser weithin das eigentliche Spezifikum linker Theorie verloren: der imaginäre und gleichwohl unverzichtbare Vorgriff auf die nie gegebene, sondern immer erst herzustellende und deshalb stets prekäre Einheit von theoretischer und politischer Praxis, für den jahrzehntelang die Formel von der Einheit von Arbeiterbewegung und Marxismus stand. Linke Theorie beschränkt sich seither vielfach auf eine bewusst distanzierte Kommentierung sozialer Bewegung, deren AkteurInnen und Aktionen sie von außen bewertet. Genügen sie den an sie herangetragenen Normen nicht, wird ihnen die Unterstützung entzogen. Dies trifft gegenwärtig Befreiungs- und Protestbewegungen in peripheren Gesellschaften und zugleich relevante Teile der neuen sozialen Opposition in den Metropolen. Offen reaktionär wird die selbstnobilitierende Distanzierung da, wo sie zur Verachtung und zuletzt sogar zur Verleumdung sozialer Bewegung übergeht. Darin bezeugt sich der pseudolinke Elitismus als Versuch, in der voranschreitenden Unterordnung der intellektuellen Arbeit unter das Kapital eine Position zu fingieren, die die längst vollzogene Anpassung an die Verhältnisse durch den Anschein einer ins Äußerste vorangetriebenen Kritik verleugnet.

Eine Bewegung der Bewegungen. Die Schwäche der pseudolinken Kritik zeigt sich darin, dass nicht wenige KritikerInnen ernsthaft unterstellen, es ginge denen, die sich gegenwärtig Attac anschließen, nur um einen diffus-moralischen Protest, der sich eben deshalb bereitwillig mit der Tobin-Steuer abspeisen lasse. Natürlich steht der ideologische Pluralismus von Attac - wie der der anderen Sozialen Foren - in der Gefahr, einer Ideologie der Ideologielosigkeit zu verfallen und deshalb leichter Hand staatsreformistisch kanalisiert werden zu können. Richtig ist auch, dass eine einflussreiche Strömung innerhalb von Attac alles daran setzt, den Organisierungsprozess in diesem Sinn zu steuern und dergestalt Anschluss an die politische Klasse zu finden - der Auftritt Lafontaines auf dem Attac-Kongress hat dafür die Generalprobe geliefert. Jeder Verwicklung in soziale Bewegung ledig, entgeht der Kritik allerdings, dass die spezifisch moralisch begründete Politisierung vieler Attac-AktivistInnen wie der ideologische Pluralismus ihres Zusammenschlusses auch eine reflektierte Antwort auf die unumkehrbare Krise der politischen Repräsentation darstellen, die die bürgerlichen Parteien und die Organisationen der Arbeiterbewegung zersetzt hat.

Jenseits des expliziten Selbstverständnisses der Beteiligten findet diese Reflexion ihre materielle Verdichtung eben in der politischen Form des Zusammenschlusses, im neuartigen Typus der Organisierung. Attac ist weder Partei, noch NGO-Netzwerk, noch eine weitere Bewegung im Stil der Neuen Sozialen Bewegungen, auch kein Dachverband, der Parteien, Gewerkschaften, NGO und Bewegungen überwölben würde und zuletzt nicht einmal ein auf einen tendenziell leeren Konsens getrimmtes Bündnis. Der möglichen Aneignung des Potenzials der politischen Form durch die AkteurInnen kommt die spezifische Zusammensetzung der Organisierung entgegen, in der eine politische Subjektivität, die ihre Politisierung der Krise der Repräsentation selbst verdankt, Subjekten früherer sozialer Bewegungen und früherer Linken begegnet, die in dieser Krise mit ihrer Politisierung gebrochen haben. Solche Begegnungen öffnen nicht nur Räume relativ autonomer Debatten, sondern auch eines potenziell antagonistischen politischen Handelns, das die Logik der Repräsentation hinter sich lässt. Im deutschen Kontext gewinnt dies eine besondere, in ihrer politischen Reichweite noch gar nicht erprobte Bedeutung. Hier waren die Neue Linke und die Neuen Sozialen Bewegungen das Projekt einer Jugend, die sich allein auf theoretischem Weg eine Tradition schaffen konnte, weil der Naziterror die Arbeiterbewegung und deren Linke nicht nur organisatorisch, sondern zu wesentlichen Teilen auch physisch vernichtet hatte. Verstärken konnte sich die Neue Linke des Mai 68 allein durch den sukzessiven Beitritt jeweils jüngerer Generationen, die infolge der Resignation und Integration der jeweils Älteren immer wieder neu beginnen mussten.

Nach seiner subjektiven Zusammensetzung kann der unter dem Label Attac eröffnete Organisierungsprozess demgegenüber zu einem Medium werden, in dem die historische Erfahrung wenigstens der letzten 30 Jahre bewahrt, ausgetauscht und kritisch durchgearbeitet werden kann. Dies setzt allerdings voraus, dass radikale Linke diese Möglichkeit zu nutzen wissen und sich im Bewusstsein des prekären Unterschieds wie des intrinsischen Zusammenhangs zwischen einer Bewegung und »ihrer« Linken ins Handgemenge der politischen Praxis begeben. Dabei darf das Potenzial des Organisierungsprozesses nicht mit der Realität der Organisation verwechselt werden, die nur ein möglicher Ausgangspunkt für eine Politisierung ist, die sich im Fall des Gelingens andere Formen schaffen und dann auch andere Forderungen artikulieren wird.

Dazu gehört allerdings, den in der staatsreformistischen Programmatik von Attac artikulierten Stand des Prozesses als Resultat der Erfahrung der zurückliegenden sozialen Kämpfe zu verstehen. Deren theoretisch nicht einfach beiseite zu schaffende Wahrheit liegt darin, dass mit der Aufkündigung des fordistischen Klassenkompromisses von oben eben nicht nur der fraglos repressive und von links deshalb zu Recht bekämpfte Sozialstaat der Nachkriegsepoche liquidiert, sondern auch ein schwer erkämpfter Teilsieg sozialer Bewegungen zur Niederlage verkehrt wurde. Soll die lähmende Wirkung dieser Erfahrung überwunden werden, darf sie gerade nicht auf einen bloß theoretischen Irrtum (»verkürzte Kapitalismuskritik«, »etatistisches Politikverständnis«) reduziert werden. Stattdessen gilt es, im Prozess der Organisierung selbst andere, gegenläufige, befreiende Erfahrungen möglich zu machen, Erfahrungen, die dann auch einen Ausgleich bieten für das, was man den »proletarischen Gebrauch des Sozialstaats« genannt hat. Soziale Foren könnten dabei einen Raum eröffnen, in dem die theoretische und die politische Praxis zusammenkommen, um der Kritik der bestehenden Verhältnisse auch in Deutschland die Form der Internationale zu geben.

Thomas Seibert schreibt zu politischer Philosophie und ist Mitarbeiter bei medico international.