Reisebericht aus Bangkok

Zum Fisch im Smog werden

Während die Thais immer lächelten, wenn man lächelte, lächelten die Touristen nie, wenn man lächelte. Ein Reisebericht aus Bangkok

Reisen

Wenn man lange nicht mehr weit weg gereist ist, ist man sehr aufgeregt und überzeugt davon, dass irgendetwas schief gehen müsse, wenn man's dann doch wieder tut. Man könnte zu spät am Flughafen sein, das Flugzeug nach Paris könnte abstürzen, auf dem Pariser Flughafen könnte man sich verlaufen, das Flugzeug von Paris nach Bangkok könnte entführt werden, in Bangkok könnten einen Beamte freundlich lächelnd abweisen, das Gepäck könnte verloren gehen, und ein Taxifahrer würde einen dann in Bangkok ermorden. Das empfohlene Hotel wäre überfüllt bzw. abgebrannt, man würde auf der Straße übernachten müssen, wo einen ausgehungerte Tempelhunde auffressen würden, und am nächsten Morgen würde man mir lächelnd sagen, dass meine Travellerschecks, die in der Nacht geklaut worden wären, in Thailand ohnehin nicht gültig sind, was alle Welt weiß, außer mir. So verwirren sich die Gedanken des Zuweniggereisten, für den die Aussicht aufs Nichtraucherfliegen einen schwer wiegenden Eingriff in die gewohnheitsstarre eigene Persönlichkeit darstellt.

Glücklicherweise nahm man es bei Air France mit dem Rauchverbot dann doch nicht so genau. Zwei Stunden nach dem Start öffnete die Smokers Corner ihre Türen, d. h. im Gang neben der Bordküche hingen zwei blaue Vorhänge, zwischen denen jeweils elf Personen auf einmal rauchen durften. Als erste begann eine feingliedrige ältere Dame aus Dänemark, mit einem Anflug leichter Nervosität sehr elegant und weltgewandt zu rauchen. Das Flugpersonal rauchte gerne mit bis zum Morgen, den es diesmal sechs Stunden früher gab. Rauchend hielten die Franzosen sarkastische und feindselige Reden gegen den Kulturimperialismus der Amerikaner, die der ganzen Welt ihre Nichtraucherhysterie aufzwingen wollen.

Ich weiß nicht, ob wir über China flogen. Bis vor kurzem ging man ja in China noch davon aus, dass Rauchen nur den dekadenten Westlern schadet. Thailand empfing uns sehr höflich. Man winkte uns zum Diplomatenschalter. Aus vielen roten Punkten baute sich das Wort »Diplomates« auf dem elektrisch betriebenen Schild über der Diplomatenschleuse auf. Dann kam ein kleiner Fisch aus roten Punkten und fraß die »Diplomates« auf.

Bangkok

Wenn man allein reist ohne genaueren Plan, spürt man die verschiedenen Stationen des Mit-den-Verhältnissen-Bekanntwerdens genauer. Der Körper braucht seine Zeit, um den Jetlag zu verarbeiten und sich mit der Hitze und dem Essen zu befreunden. Anfangs haben die meisten Durchfall. Es dauert ein paar Tage zu lernen, wie man ohne Klopapier zurechtkommt. Wasser zu nehmen ist hygienischer. Das thailändische Toilettenpapier heißt »sit and smile«.

Am Anfang sind es nur die paar Straßen in der Nähe des Guest House, die man zu Fuß durchstreift. Für den Rest nimmt man eins der 40 000 Taxis. Später läuft man weiter und fährt mit dem Bus durch die Gegend. So richtig fremd, also angekommen, fühlt man sich, wenn man als einziger Westler durch riesige Märkte streift und zum Teil der Massen wird, die sich da drängen; wenn die Gerüche ganz neu, interessant und sonderbar sind, man Ananas mit Salz und Chilli isst und sich wundert, wie viele verschiedene Esswaren es doch gibt. Die meisten kannte ich nicht, sie waren mir ein geheimnisvolles Rätsel. Wenn man sich dann schüchtern und unsicher irgendeine interessante bunte Süßigkeit kauft und wenn sie gut schmeckt und wenn einem in diesem Gedränge der kleinen und großen Stände, an denen immer auch irgendwo ein Fernseher läuft, jemand anlächelt, hat man das Gefühl, angekommen zu sein. So viele Menschen sieht man in Deutschland sonst nur auf der Love-Parade oder dem Oktoberfest. Doch die Massen, die einem in Deutschland begegnen, sind Fest- und Freizeit- oder Demonstrationsmassen; in Bangkok sind es alltägliche Handelsmassen, zu denen man selbst dann gehört, wenn man durch die riesigen Department Stores und Shopping Malls geht und Dinge kauft. Die gekauften Dinge sind Zeuge von Gesprächen oder Verhandlungen; manchmal wird das Gespräch diskreditiert, wenn man nichts kauft.

Einmal probierte ich in einem Kaufhaus zum Beispiel mehrere Hemden aus, bis ich eines hatte, das perfekt war. Als ich es kaufen wollte, merkte ich, dass ich zu wenig Geld dabei hatte; die Travellerschecks waren im Safe des Hotels, und eine Kreditkarte besitze ich nicht, was mir die Verkäuferin nicht so recht glaubte. Das entwertete unser freundliches Gespräch. Ähnlich hatte ich das Gespräch mit einer sympathischen Prostituierten entwertet, als ich sie nach unserer Unterhaltung nicht ins Hotel mitgenommen hatte. Die Scham darüber, kein Sextourist zu sein, war mir aber auch ein bisschen peinlich.

Kleider

Junge Reisende lassen sich am Anfang ihrer Reise Dreadlocks machen, als wollten sie sich und allen anderen demonstrieren, dass sie nun anders sind und ihren Alltagskörper zu Hause gelassen haben. Manche fahren auch weg, um dann als die Anderen, die sie dann sind, via E-Mail ihre Beziehungsgeschichten zu klären. Das klappt selten, da die, denen sie - geläutert durchs Reisen - so optimistisch schreiben, ja noch in ihrem Heimatalltag sind. Wahrscheinlich ist man als Alleinreisender besonders anfällig für das Anderswerdenwollen im fremden Land. Vor allem, wenn alles so interessant und sympathisch erscheint und auch die Mönche einen so oft anlächeln. Dann wäre man gern ein Asiat, um im Gewimmel der Leute durch den Smog von Bangkok zu schwimmen wie ein Fisch im Wasser.

»Wenn wir in eine Stadt kommen, in der die Leute stets ein Auge geschlossen haben, müssen wir es ihnen gleichtun«, sagt ein thailändisches Sprichwort. Meine Sachen kamen mir in Thailand sehr hässlich vor, und ich kaufte mir ständig neue bunte Hemden, Polo-Shirts und Hosen. Häufig irrte ich mich in der Hosengröße. Zu Hause dachte ich, ich sei ein eher schmales Hemd, hier brauchte ich L bis XL. Später kamen mir meine Angleichungsversuche plump vor, und ich hielt mich wieder etwas zurück. Während die Thais immer lächelten, wenn man lächelte, lächelten die Touristen nie, wenn man lächelte.

Traveller

Viele Traveller laufen stets in luftigen Pluderhosen, indischen Hemden und praktischen Sandalen durch die Gegend. Das ist die Kastentracht der Berufsreisenden, die nie Urlaub oder Sonntag machen; eine Art praktische Uniform wie der Tropenanzug, ein Outfit, das die bestandenen Abenteuer der weit gereisten Individualtouristen zumindest andeuten soll, wie die Bräune, die vom Pioniergeist der Traveller spricht. Die Traveller-Kleidung hilft, die alte Identität zu behaupten. Wie der fünfzehn Jahre alte Sarong, mit dem mein Freund auf dem kleinen Kho-Chang immer herumlief. Obgleich der Sarong schon ziemlich abgewetzt war und im Gesäßbereich einige Löcher hatte, weigerte er sich, einen neuen zu kaufen, und war fast empört, als wir ihm einen neuen mitbrachten.

Traveller sind auf der Suche nach unberührten Paradiesen oder Vollmondparties und interessieren sich nicht so sehr für Sehenswürdigkeiten. Als seien berühmte Tempel eine Art Disneyland, das man für Neckermanntouristen da hingestellt hat. Traveller suchen nach dem, was man nicht kaufen kann, deshalb sparen sie, um Zeit zu gewinnen, die sie brauchen, um weiter zu suchen. Die Klamotten der Thais sind immer frisch gewaschen und erfreulich, die der Touristen nicht unbedingt. Während sich die Thais stets besonders schick machen, etwa wenn sie ins Restaurant gehen, bevorzugen Traveller das Locker-Legere und sind stolz auf den Erinnerungsstaub in ihren Kleidern. Echte Traveller lehnen es ab, im schicken VIP-Bus mit Air Condition und TV für 20 Mark 600 Kilometer irgendwohin zu Fahren. Das ist ihnen zu teuer und touristisch. Da fahren sie lieber dritter Klasse oder trampen durchs Land.

Echte Traveller feilschen engagiert mit Taxifahrern, wenn sie fünf statt, wie sie dachten, vier Mark zu bezahlen haben, verachten Pauschal- und Erotiktouristen, lassen sich nicht übers Ohr hauen und wissen, wo alles am billigsten ist. Während die Durchschnittstouristen zwei Wochen im Land bleiben, ziehen Traveller mindestens zwei Monate durch die Gegend. Am Nebentisch in dunklen Nebengassen des Rucksacktouristenzentrums, in das es sie »zufällig« verschlagen hat, sitzen braun gebrannte Traveller Mitte vierzig mit freiem Oberkörper und erklären, dass es vor wahlweise zehn oder zwanzig Jahren viel besser, billiger und vor allem auch noch nicht so verwestlicht gewesen sei. Andere Reisende erzählen stolz und laut im Restaurant des Guest Houses, wie billig der Führer doch war, der sie letzte Woche durch Myanmar fuhr. Das tolle Teeservice, das sie dort kauften, hätte so gut wie nichts gekostet. Ein staunendes Pärchen wollte auch gerne so einen billigen Führer haben. »Den können wir ihnen ja geben«, sagt die Frau zu ihrem Mann. Sie sprachen über Länder, als seien die nur zu ihrem Vergnügen gerade produziert worden. Es gibt aber auch sanfte, freundliche Touristen, die sich entschuldigen, wenn man ihnen auf den Fuß tritt.

Sex

Ein Thailänder schlenderte mit seinem kleinen Sohn auf der Schulter vorbei an den Essensständen in der Nacht, in der wir saßen. Yolande, eine vielleicht 43jährige Sozialarbeiterin aus Paris, wollte den Kleinen streicheln und zerrte ihn dabei fast von der Schulter seines Vaters, der grad vorbeischlenderte, und sagte lustig, das sei ein böser Mann.

Yolande suchte in Bangkok nach Sex. Sie erzählte, ein Tuc-Tuc-Fahrer hätte ihr gestern ein Abenteuer vermittelt. Sie seien dabei durch die Klongs gefahren. Umgerechnet 40 Mark hätte das gekostet. Ich dachte an »Emmanuelle« und dass der Roman, den ich als Teenager verschlungen hatte, ja auch in Bangkok spielt, und als ich nachts, aufgeputscht von diesen thailändischen Energydrinks, in die Patpong fuhr, fiel mir ein Zeitungsartikel ein, den ich kurz vor meiner Abreise gelesen hatte.

Es ging um zwölf Briten, die nach Bangkok geflogen waren, sich dort mit Viagra vollgepumpt hatten und wegen schmerzhafter Dauererektionen dann gleich wieder heimfahren mussten. Egal. In der Patpong, der Reeperbahn von Bangkok, gibt es Pussy Shows mit »Ping-Pong«, »Pussy drinking beer«, »Pussy Smoking« und anderen Dingen, die mich an ein altes Titanic-Heft erinnerten, in dem der Roman »Möse wird Frisöse« vorgestellt worden war. Die Touristen in der Patpong sahen nicht so unangenehm aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Es war eher familiär. Es gab viele Transvestiten und Ladyboys.

In einer Bar tanzten 50 Mädchen auf einer runden verspiegelten Bühne im Bikini oder auf dem Tresen und lachten, als hätten sie Ecstasy genommen. Wenn man sich nervös eine Zigarette aus der Schachtel nahm, kam sofort eine Serviererin und gab einem Feuer. Dann hob sie einen Finger. Auf dem stand: »Tip!« Dann hob sie einen anderen: »20 Baht«. Es war unmöglich, sich eine Zigarette zu nehmen, ohne dass sie einem Feuer für 20 Baht gab. Allein in der Bar hatte man es schwer, und ich war glücklich, als ich ins Gespräch kam mit einem sehr netten deutsch-kalifornischen Pärchen. Sie war taz-Leserin aus Heidelberg und hatte ihren Freund in die Bar geschleift, weil sie das schick fand. Wir wunderten uns zusammen, dass es uns hier gefiel. Man sagt, die Soi-Cowboy sei billiger und weniger überlaufen als die Patpong.

Ein langhaariger Schweizer stand vor einer Bikinisexbar und bemühte sich darum, Leute in die Bar zu bringen. Er sagte, er sei vor zwei Jahren ausgestiegen und hier sei es so natürlich, die Mädchen seien so toll und er würde mit ihnen in dem Raum über der Bar schlafen, nicht wie du denkst, und das wäre klasse. Das eine Mädchen in der Bar lachte wie Pippi Langstrumpf, das andere war wunderschön. Ich fühlte mich bescheuert, weil ich keinen Sex kaufen konnte. Das ging nicht. Nur ein paar Bier und noch ein paar Bier anderswo im Gedränge mit Countrymusik im Hintergrund bis in den Morgen.

Atlanta-Hotel

Spät am Vormittag hatte ich in dem wunderschönen Coffee Shop des Atlanta-Hotels gefrühstückt, und ein alter Mann war reingekommen, der elegant, aber auch lustig gekleidet war. Dunkle, lange Anzughose, weiße Turnschuhe, ein langärmeliges, weiß-rot gestreiftes Hemd, weiße Haare, dazu ein kleines Bäuchlein. Der Mann schien Mitte 70 zu sein, hatte ein freundliches Gesicht und wirkte etwas überanstrengt. Er murmelte: »I think I have to die.« Auf seinem Strohhut stand »Love« neben vielen Herzchen. Das Atlanta, das 1958 als achtes Hotel der Stadt eröffnete und als erstes einen Swimmingpool hatte, macht ein bisschen nostalgisch. Im angestaubten Foyer mit seinem großartigen Aufgang, hat man das Gefühl, in einem alten Film zu sein. Die 70 Zimmer werden gar nicht oder nur ganz behutsam renoviert. Neben der Eingangstür des Atlanta-Hotels hingen mehrere Metallschilder in verschiedenen Sprachen: »Folgende Leute sind hier als Gäste nicht erwünscht: 1. Leute, die sich nicht zu benehmen wissen; 2. ungepflegte und schmutzig gekleidete Personen; 3. Leute mit ungehörigem oder agressivem Verhalten; 4. Rowdies; 5. Raufbolde, Trunkenbolde und Drogensüchtige; 6. andere dubiose Charaktere.«

Religion

Im Tempel ist es ruhig und kühl. Manchmal stellte jemand den Ventilator an. Manchmal saß ein Mönch auf einer Art Thron und erzählte etwas, das die anderen verstanden. Ab und zu scherzte er und lachte dazu. Neben Räucherstäbchen, Kerzen und gelben Blumen standen aufgespießte Geldscheine. Auch volle Coladosen dienen zuweilen als Opfergabe, weil der Geist zählt. Einmal unterhielt ich mich in Chumpong drei Stunden lang mit einem jungen Mönch. Was heißt jung? Er war 35, sah aber jung aus und grinste immer wieder wie Stan Laurel. Er bat mich in seine kleine Hütte. Vor ihm auf dem Tisch lagen einige Bände mit vergleichenden Landwirtschaftsstudien und ein sehr altes Thai-Englisch-Wörterbuch. Er sprach kaum Englisch. Wir unterhielten uns mit Hilfe meines kleinen Deutsch-Thai, Thai-Deutsch-Wörterbuchs. D.h. er nahm es in die Hand, blätterte neugierig darin und zeigte dann auf Worte. Zum Beispiel »Auge«; er meinte, ich hätte nette Augen, und ich fühlte mich geehrt. »Badezimmer«; seine Hand wies zur Tür, hinter der es wohl war. »Heilig; ich wusste nicht genau, ob er sich meinte oder den älteren Mönch, der ab und zu neugierig hereinkam, um mir Bananen anzubieten. »Hochverrat«; ich fühlte mich nicht als Hochverräter.

Da ich keine Fotos mithatte, gab ich ihm Pass, Führerschein und solche Sachen, um ihm zu zeigen, wie ich lebe zu Hause. Später guckten wir fern und lachten häufig. Es war ein heiterer, schöner Abend. Als ich wieder zu Hause war, hatte ich Glück. Das kam von dem Buddha-Amulett, das ich mir gekauft hatte. Dann fand ich in meinen Reisenotizen einen Satz, den ich aus einem Buch über buddhistisches Tempelleben in Thailand aufgeschrieben hatte. Es ging um eine Ordinierung, und ich weiß nicht mehr, wer spricht. Also: »Manchmal kommt es vor, dass er die Antworten in seiner Erinnerung vertauscht: Zum Beispiel erwidert er auf die Frage, ob er ein menschliches Wesen sei, mit 'nein', dagegen, ob er an Lepra leide, mit 'ja'. Die Formel muss in diesem Fall wiederholt werden.«