Schach und Antisemitismus

Arische Eröffnung

Wie völkische Sportjournalisten vor 1945 die Theorie vom feigen jüdischen Schach entwickelten.

Im Jahr 1941 veröffentlichte der damalige Schachweltmeister Alexander Aljechin, ein im französischen Exil lebender Russe, in einer Pariser Zeitung eine Aufsatzserie. Bald wurde sie in anderen Blättern nachgedruckt, zum Beispiel im britischen Magazin Chess, aber auch in der Deutschen Schachzeitung. Der Titel der Serie lautete: »Jüdisches und arisches Schach«.

Aljechin gilt bis heute als einer der bedeutendsten und genialsten Schachspieler der jüngeren Geschichte. In seiner Artikelreihe beschimpfte er vor allem Emanuel Lasker, einen deutschen Juden, Weltmeister von 1894 bis 1921, der 1933 vor den Nazis in die USA floh, wo er 1941 starb.

»Ist es zu viel der Hoffnung«, kommentierte Aljechin freudig die Nachricht vom Ableben des berühmten Schachtheoretikers, »dass mit dem Tod von Lasker, dem zweiten und hoffentlich letzten jüdischen Schachweltmeister, das arische Schach (hierzulande bislang pervertiert durch die defensiven jüdischen Ideen), seinen Weg finden wird, Weltschach zu werden?«

Nach 1945 bestritt Aljechin, der Autor dieser Artikelreihe gewesen zu sein; sein guter Name sei benutzt worden, hieß es. Freunde und Verehrer kolportierten, man - wer immer »man« gewesen sein könnte - habe ihn gezwungen, diese Artikel zu schreiben; er sei mithin zwar Urheber des Machwerks, aber nicht verantwortlich. In allen Darstellungen blieb jedoch offen, ob die Veröffentlichung inhaltlich von Aljechin gebilligt wurde. Im Jahr 1946 starb er in Estoril (Portugal). Da kurz zuvor der französische Schachverband Ermittlungen gegen ihn anstrengt hatte, kursierte lange das Gerücht, er habe sich das Leben genommen.

»Was ist jüdisches Schach und die jüdische Idee von Schach in ihrer wirklichen Bedeutung?« fragt Aljechin in seinem ersten Artikel. »Es ist nicht schwer, diese Frage zu beantworten: 1. Materiellen Profit um jeden Preis; 2. Opportunismus - und zwar ein bis zum höchsten Punkt getriebener Opportunismus mit dem Ziel, jeden Schatten einer möglichen Gefahr zu beseitigen und so die Idee zu verdecken (wenn man überhaupt von 'Idee'í sprechen kann), die man nur 'Defensive' an und für sich nennen kann. Was die Möglichkeiten in der Zukunft angeht, so hat das Jüdische Schach sein eigenes Grab geschaufelt, in dem es diese 'Idee' entwickelte, die nämlich nie etwas anderes bedeuten kann als Selbstmord.«

Schachtheoretisch, welch Wunder, wurde Aljechins Aufsatzserie nicht ernst genommen. »So ein Nonsens wäre es normalerweise nicht wert gewesen, gedruckt zu werden«, beurteilte der 1973 verstorbene Schachjournalist Hans Kmoch diese Theorien und erinnerte an eine andere Funktion des Nonsens: »Unter den wachsamen Augen der Gestapo konnten solche Äußerungen den Tod für die angegriffenen Juden und auch für ihre nicht jüdischen Angehörigen bedeuten.«

Was in Aljechins Artikelserie ausgebreitet war, eine antisemitische Schachtheorie nämlich, war freilich nichts Neues. Maßgeblich an ihrer Entwicklung beteiligt war ein Österreicher namens Franz Gutmayer (1857 bis 1937). Zum Großmeister brachte der Wiener es zwar nicht, aber er galt in seiner Zeit als recht guter Spieler, und vor allem war er mit seinen Versuchen über völkisches Schachspiel ein beachteter Theoretiker. »Es sind lauter Judasse, die für ein paar Silberlinge, d.h. für einen Bauern diese verraten, verkaufen, ausliefern«, schrieb Gutmayer über jüdische Spitzenspieler wie Emanuel Lasker und Akiba Rubinstein.

Sein Buch »Der Weg zur Meisterschaft« (1898) war recht erfolgreich, und auch andere Titel wie »Das unbedingte Torpedo im Schachkrieg« (1916), »Die große Offensive am Schachbrett« (1916) und »Optik im Schach oder: Der militärische Blick« (1917) waren nicht ganz erfolglos. Der österreichische Schachautor Ernst Strouhal schreibt über Gutmayer, er habe »Einfluss auf eine breite Anzahl von Amateuren gehabt, von denen er zum Teil wie ein Prophet verehrt wurde. Gutmayers Stil war deftig, seine Weltsicht war einfach. Die hohen Ideale der Kunst des Schachspiels waren in der modernen, von Juden beherrschten Welt verkommen. Er selbst war ihr Retter und zugleich Märtyrer.« Strouhal weiter: »Manche Passage bei Gutmayer liest sich wie eine missglückte Parodie auf Nietzsche, über die man lachen könnte, seine Sprache antizipiert jedoch bereits den faschistischen Jargon der kommenden Jahrzehnte.«

Trotz eigener Unterlegenheit gab sich Gutmayer den von ihm so verhassten »schmutzigen Schacherjuden« gegenüber angemessen arrogant: »Aber zu den Geldmenschen, zu dieser übel riechenden Rasse rede ich nicht.« Denn: »Die Schachkunst soll frei bleiben von schmutziger, unsauberer Geldgier.«

Gutmayer unterschied einen mutigen arischen Schachstil von einem feigen jüdischen. War der erste angeblich auf eine heldenhafte, antitheoretische, intuitive Zerschlagung des gegnerischen Spiels aus, kalkulierte der angeblich jüdische Stil, verharrte in der Defensive und zog ein Remis dem heldenhaften Sieg oder der Niederlage vor. So unterschied er zwei Spielstile: »Der erste: Wille zur Macht und Übermacht mit der Tendenz, das feindliche Spiel zu zerschlagen. Der andere: Wille zum koscheren Geschäft mit der Tendenz, jedenfalls sicher zu gehen. Kein Risiko, lieber zehnmal ein ekelhaft feiges Remis. Daher nur machen, was man genau sieht. Horizont: Die eigene krumme Nase. Perspektive: Ein fettes Honorar.«

Als Vorbild für seinen naturwüchsig-arischen Stil galt Gutmayer der Amerikaner Paul Morphy (1837 bis 1884), ein Schachgenie, das 1858 in Europa aufgetaucht war, binnen sechs Monaten die besten Spieler des Kontinents geschlagen hatte, danach verschwand und dann in geistiger Umnachtung starb. Assoziationen zu dem amerikanischen Schachgenie Bobby Fischer (geboren 1943) tun sich auf, der auch untertauchte und um den sich auch eine ihn mystifizierende Gemeinde versammelt hat und der mitunter auch durch antisemitische Reden auffällt.

Gutmayer, der eine »Schachgesellschaft Morphy« gründete, sah in dem Amerikaner den letzten und wohl genialsten Vertreter einer romantischen Schachkunst. Sie wurde, gleichzeitig zum Siegeszug der bürgerlichen Gesellschaft, verdrängt von einer an der Ratio und der Empirie orientierten Spielweise. Im Schach - und nicht nur hier - bezeichnet man diese Art als Moderne. Sie beginnt mit Wilhelm Steinitz. Der Sohn jüdischer Eltern galt Ende des 19. Jahrhunderts als bester Spieler seiner Zeit und als Begründer der modernen Schachtheorie. Dieser stellten Gutmayer, Aljechin und andere ihr mal arisch, mal romantisch und mal urwüchsig genanntes Schach gegenüber.

Ideengeschichtlich handelt es sich dabei um die auf die Schachtheorie übertragene Verachtung alles Intellektuellen. (Durchaus ähnliche Versuche der Nazis, bestimmte Bereiche ideengeschichtlich neu zu besetzen, gab es zuhauf: Erinnert sei an die Bemühungen um eine »deutsche Physik«, die mit den von Einstein und anderen entwickelten Theorien nichts gemeinsam haben sollte. Aber auch an vollends absurde Bemühungen, einen arischen Boxstil - mustergültig von Max Schmeling vertreten - zu entwickeln, sei erinnert.)

Gutmayer blieb nicht allein, und der Weltmeister Aljechin war sein berühmtester Epigone, aber sicher nicht der einzige. Emil J. Diemer, badischer Meister, der als Mitschöpfer des Blackmar-Diemer-Gambits gilt, entwickelte in seinem 1943 erschienenen Buch »Schach - Kampf und Kunst« die Idee eines »deutschen Kampf-Schachs«. Der schon zitierte verdienstvolle Wiener Schachschriftsteller Ernst Strouhal fasst Diemers Theorie zusammen: »Konkret versuchte Diemer, die Schacheröffnungen nach politischen und rassischen Merkmalen zu bewerten. Die Juden sind die Schöpfer der positionellen, geschlossenen Eröffnungen, während das 'deutsche Kampfschach' - Synonym für Mut und Risiko - offene und kombinationsreiche Eröffnungen bevorzugt, welche dem 'deutschen Wesen' adäquat sind.«

Mit dem Wiener Theodor Gerbec (1887 bis 1946), Mitarbeiter und Herausgeber der Deutschen Schachzeitung, fand sich ein weiterer Prominenter, der die Thesen vom arischen und jüdischen Schach vortrug. Setzte Gutmayer noch den Schwerpunkt auf eine antisemitische Kritik der Moderne, so akzentuierte Gerbec in seiner Auseinandersetzung mit dem jüdischen amerikanischen Großmeister Reuben Fine den Antiamerikanismus und den Antiurbanismus. »Und von Schönheit kann man bei den Partien eines Flohr oder Fine wahrhaftig nicht reden«, schreibt Gerbec. »Reines Sicherheitsschach ist so ziemlich das Übelste, was bisher auf den 64 Feldern verzapft worden ist.«

Woher solch unnatürliches und übles Schach kommt, wusste Gerbec auch: »Es scheint, dass dieser Stil aus Amerika stammt. Das ist der gleiche nüchterne, anödende Stil, der die geschmacklosen Wolkenkratzer baut und das ganze Leben mechanisiert und, was die Hauptsache ist, Erfolg bringt. Der gleiche Zwang, der das amerikanische Leben in die Bahnen der Spekulation zwängt. Spekulatives Schach ist aber das Letzte, was wir brauchen können, und wird nie einen Fortschritt bedeuten.«

Ein Problem stellte sich den antisemitischen Schachtheoretikern bei ihrem Versuch, die Schachgeschichte zu arisieren. Viele Welt- und Großmeister waren Juden. Das »Kleine Lehrbuch des Schachspiels« von Jean Dufresne (1829 bis 1893) und Jacques Mieses (1865 bis 1954) aus dem Reclam-Verlag wurde in der 15. Auflage, die 1941 erschien, von dem deutschen Schachautor Max Blümich (1886 bis 1942) bis zur Unkenntlichkeit verändert. Mieses, ein Leipziger Jude, wurde aus dem Titel genommen; im Register wurden alle Großmeister, von denen Blümich vermutete, sie seien Juden, gestrichen; nur noch ausgewählte Weltmeisterschaftskämpfe wurden notiert; Eröffnungen und Varianten, die die Namen ihrer oft jüdischen Erfinder trugen, benannte Blümich neu, wie etwa »Preußische Partie«; und von den Beispielpartien des Buches wählte Blümich fast ausnahmslos solche Spiele aus, die jüdische Großmeister verloren hatten.

Der Hass der antisemitischen Schachgemeinde, zu der ja nicht nur solch unbegabte und opportunistische Figuren wie Franz Gutmayer und Max Blümich gehörten, sondern auch Meisterspieler wie Theodor Gerbec, Emil Diemer und der Weltmeister Aljechin, richtete sich gegen jüdische Spieler, denen sie zu oft unterlagen und deren Spiel ihnen nicht behagte. Den Großmeister und langjährigen WM-Aspiranten Akiba Rubinstein (1882 bis 1961), einen polnischen Juden, mit dem er schon oft gespielt hatte, bezeichnete Aljechin als »halben Großmeister und Viertelmenschen«.

Der Hass richtete sich aber auch gegen die Erkenntnis, dass Schach, anders als es die völkischen Judenhasser gerne hätten, ein historisch entstandenes und gesellschaftlich entwickeltes Spiel ist. Um diese Erkenntnis nicht akzeptieren zu müssen, bemühte Aljechin Verschwörungsgespinste. Über den tschechischen Großmeister Richard Réti (1889 bis 1930), der als Vertreter des Konzepts der Hypermoderne im Schach gilt, schimpfte Aljechin, er fände ja nur »bei der Mehrzahl der anglo-jüdischen Pseudo-Intellektuellen warmen Beifall. Und dieser billige Bluff, diese schamlose Selbstreklame wurde von der durch jüdische Journalisten vergifteten Schachwelt widerstandslos geschluckt, und jauchzend widerhallte das Geschrei der Juden und Judenfreunde.«

Dieser Hass bei gleichzeitiger Liebe zum angeblich geschichtslos-romantischen und völkisch-arischen Spiel ist durchaus historisch verwurzelt. Wilhelm Steinitz und nach ihm Emanuel Lasker hatten im Grunde den Beweis geführt, dass Schach sehr wohl immer der Vergesellschaftung unterliegt - entgegen einem bis heute weit verbreiteten Vorurteil und entgegen der von Gutmayer und Aljechin gepflegten Idee eines urwüchsigen, natürlichen, erdverbundenen und völlig ungesellschaftlichen Spiels.

Steinitz, 1836 in Prag geboren, 1900 in New York gestorben, wurde 1886 auch der erste offizielle Weltmeister (bis 1894), inoffiziell war er es schon seit 1866. Seine Bedeutung für die Entwicklung dieses Sports liegt vor allem darin begründet, dass er der bis dahin gültigen Lehre widersprach, wonach der Gewinn eines Schachspiels das Resultat genialer Züge sei. Steinitz postulierte stattdessen, dass der Sieg ein Resultat einer Unterminierung der Position des Gegners sei; der Angreifer müsse seine Züge so gestalten, dass der Gegner minimale positionelle Fehler mache, sodass der Angreifer strategisch in einen Vorteil komme.

Der Erfolg des Steinitzschen Systems, das der damaligen Schachästhetik, der durchaus romantischen Suche nach dem genialen Zug, vollkommen widersprach, lag darin, dass die Befolgung seiner Strukturprinzipien häufig zum Sieg führte.

Der auf Steinitz folgende Weltmeister Emanuel Lasker nahm das Erfolgssystem auf und erweiterte es um etwas, das in der Schachtheorie als »psychologischer Realismus« bezeichnet wird. Er perfektionierte sozusagen die Steinitzsche Moderne. Hatte sein Vorgänger immer nach dem jeweils besten Zug gesucht, versuchte Lasker den für den jeweiligen Gegner unangenehmsten Zug zu finden. Er bereicherte das Schachspiel also um eine kommunikative Komponente.

Dieses Element wurde von den Völkischen abgelehnt, ist es doch ein Teil der instrumentellen Vernunft; es dient nicht der Suche nach einer überzeitlichen Wahrheit, wie sie den völkisch-romantischen Theoretikern vorschwebt, sondern schlicht dazu, den Sieg in einer Schachpartie zu erringen.

Der Umstand, dass unter den besten Spielern der Welt viele Juden waren, gab dem ohnehin strukturell antisemitischen Rückgriff auf eine angeblich unverbrauchte und echte Natur eine besonders aggressive Komponente.

Und dass sich jemand wie Lasker selbst ernsthaft mit der Frage beschäftigt hatte, warum es einen so hohen Anteil an Juden im Schach gibt, vermochte den Hass der Antisemiten nicht zu besänftigen. »Die meisten werden unbedenklich antworten, dass die Juden vermöge ihrer hohen Intelligenz für eine Betätigung des Verstandes, wie das Schachspiel, vorzugsweise geeignet seien«, schreibt Lasker in einem Aufsatz aus dem Jahr 1911. »Sie werden entweder freudestrahlend oder achselzuckend, je nach dem Maße der Sympathie, die sie den Juden gewähren, hinzufügen, dass die Juden den Christen in diesem Punkt nun einmal überlegen sind.«

Doch Lasker wollte mit diesen Thesen nichts zu tun haben: »Solch ein Urteil schlüge den Tatsachen ins Gesicht. Der Jude ist gewiss nicht intelligenter als der Christ.« Er bot eine andere, wiederum historisch begründete Theorie an. Schach benötige Phantasie, und für die Juden gelte: »Jede unterdrückte Nation hat mehr Phantasie als die Unterdrückerin, denn sie hat eine Sehnsucht mehr als jene. Die treibende Kraft der Phantasie ist der Wille. Jede Not, die man zu beseitigen trachtet, regt die Phantasie an, die Sattheit, das befriedigte Verlangen gebrauchen die Einbildung nicht.«

Zu dieser Phantasie seien die Juden »gezwungen, weil sie keinen leichten Posten erhalten. Die Sinekuren sind denen vorbehalten, denen die Mächtigen freundlich gesinnt sind, und dazu gehören die Juden nicht.«