Ein Anwalt berichtet über Flüchtlingsangelegenheiten

»Sie sind wie Frachtgut«

Ein Anwalt im marokkanischen Tanger erzählt aus seiner Praxis mit Flüchtlingen und Abschiebungen

In jedem Jahr versuchen 100 000 bis 200 000 Menschen, mit dem Boot von Afrika nach Spanien zu kommen. 80 Prozent davon sind Marokkaner, 20 Prozent sind Schwarzafrikaner.

Von 1997 bis 2001 fand man 3 286 Tote auf beiden Seiten der Meerenge von Gibraltar. Man schätzt, dass dies nur ein Drittel der tatsächlichen Opfer ist. Täglich verunglücken schätzungsweise zehn Menschen. Im Jahr 2000 wurden 780 Boote aufgegriffen. 14 893 Immigranten wurden nach Marokko und in andere afrikanische Länder zurückgeschickt. 1999 wurden 475 Boote mit 3 569 Immigranten abgewiesen. Im Jahr 2000 gab es in Spanien knapp eine Million legale Immigranten (damit kommt ein Immigrant auf 1 000 Einwohner). Davon waren 194 099 Marokkaner. Man schätzt, dass nochmals rund 200 000 Marokkaner illegal in Spanien leben. In den letzen zehn Jahren haben sich spanische NGO um 32 000 illegale Immigranten gekümmert. Davon waren 80 Prozent Marokkaner. Bis 2050 benötigt Spanien nach Angaben der Uno zwölf Millionen Immigranten.

Im Jahr 2000 gab es in Marokko offiziell 13,9 Prozent Arbeitslose. In der Stadt lag der Durchschnitt bei 22 Prozent. Von drei Arbeitslosen waren zwei nicht älter als 30 Jahre. In der Altersgruppe zwischen 20 und 25 Jahren lag die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent. 82 Prozent aller Abiturienten, 54 Prozent aller Uniabsolventen, insgesamt 94 Prozent aller unter 30jährigen fanden im Jahr 2000 keine Arbeit.

Das Durchschnittseinkommen im Jahr 2000 lag in den Bereichen Industrie, Handel und freie Tätigkeiten pro Monat bei 1 826 Dirham (180 Euro), auf dem Lande bei 1 183 Dirham (110 Euro).

1,8 Millionen (sieben Prozent) Marokkaner waren laut offizieller Statistik von 2000 »sehr arm« und 3,4 Millionen (13,1 Prozent) »arm«. Über die Hälfte der marokkanischen Bevölkerung lebt in Städten.

Alfred Hackensberger sprach mit einem Anwalt, der in Tanger lebt und arbeitet. Sein Name ist der Redaktion bekannt.

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Sie arbeiten seit 14 Jahren hier in Tanger als Anwalt und haben in dieser Zeit viele Menschen verteidigt, die versuchten, illegal nach Spanien zu kommen.

Ja, so viele, dass ich sie nicht mehr zählen kann.

Sind es immer die gleichen Verfahren?

Im Prinzip ja. Es gibt drei verschiedene Fälle, die immer wiederkehren. Zum einen werden Pässe oder Visa gefälscht. Man ändert da gewöhnlich Fotos oder Daten. Diese Leute werden beim regulären Grenzübertritt gefasst und verhaftet. Sie bekommen, wenn es kein gravierender Fall ist, ein paar Monate Gefängnis. Die zweite Gruppe sind Leute, die die pateras nach Spanien organisieren und die bei ihrer Arbeit gefasst werden. Sie bekommen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren Gefängnis. Gibt es Tote, ist die Höchststrafe fünf Jahre.

Man erwischt aber meistens doch nur die kleinen Handlanger, die den Transport organisieren, Treffpunkte arrangieren, die Passagiere herbeikarren usw.

Ja, klar, die großen Bosse, die Hintermänner bleiben in der Regel ungestraft. Dazu gibt es immer wieder die gleichen Aussagen. Irgendein Mann, den ich vorher noch nie gesehen habe, kam vorbei und bot mir diesen Job an. Es ist auch immer das erste und einzige Mal. Niemand sagt da etwas, was man durchaus verstehen kann. Er würde eine Aussage sofort mit dem Leben bezahlen. Hält er dagegen den Mund, bekommt er Geld für den Anwalt und für seine Familie, und das Essen wird ihm ins Gefängnis gebracht.

Und die dritte Gruppe Ihrer Klienten?

Das sind diejenigen, die es in einem der zodiacs (schnelles Schlauchboot) versuchen oder sich im Hafen in einem Lkw verstecken, um nach Spanien zu kommen.

Was passiert mit ihnen, wenn sie geschnappt werden?

Eigentlich nicht viel. Sie kommen vor Gericht und müssen in der Regel 500 Dirham (50 Euro) bezahlen und kommen dann wieder frei.

Egal, wie oft sie es schon probiert haben?

Vollkommen egal. Es bleibt bei den 500 Dirham.

Einige Marokkaner nehmen auf der Überfahrt Haschisch mit für den Fall, dass sie entdeckt werden.

Dann müssen sie in Spanien ins Gefängnis und werden nicht sofort wieder abgeschoben. Normalerweise läuft die Abschiebung völlig unbürokratisch. Ohne Gerichtsverhandlung rauf auf die Fähre und wieder zurück nach Marokko.

Diejenigen, die eine Gefängnisstrafe wegen Haschischbesitzes riskieren, hoffen, nach der Haft in Spanien bleiben zu können.

Ja, ein großer Irrtum. Nach ihrer Haftstrafe werden sie, wie alle anderen auch, wieder nach Marokko abgeschoben. Falls sie dann keine Unterlagen über ihr Gerichtsverfahren haben, was oft genug passiert, droht ihnen auch eine Haftstrafe in Marokko. Die Wiederbeschaffung fehlender Papiere ist für den Anwalt oft ein großes Problem.

Was passiert mit den Schwarzafrikanern, die beim illegalen Grenzübertritt erwischt werden?

Die müssen nicht nur zahlen, sondern werden buchstäblich in die Wüste geschickt. Dorthin, von wo sie gekommen sind. An die algerische Grenze, entweder in den Süden in die Sahara oder in den Nordosten nach Oujda. Dort müssen sie sehen, wie sie weiterkommen.

Das liegt daran, dass die meisten illegal in Marokko sind?

Ja, fast alle haben kein Visum, keine Aufenthaltsgenehmigung. Die meisten reisen ja auch illegal über die algerische Wüste ein. Wer legal einreist, bekommt oft nur ein Woche Aufenthaltsgenehmigung.

Wieviel Verhandlungen von Immigranten gibt es ungefähr täglich vor Gericht in Tanger?

Ich schätze mal, das sind mindestens 20 jeden Tag. Für die Richter ist das reine Routine geworden. Die marokkanischen Angeklagten brauchen nicht einmal einen Anwalt. Die wissen, sie müssen nur ihre 500 Dirham bezahlen, und das war's. Dann sind sie wieder frei.

Wie lange müssen sie nach ihrer Verhaftung auf ihre Verhandlung warten?

Sie müssen innerhalb von 24 Stunden, maximal innerhalb von 48 Stunden dem Richter vorgeführt werden. In Casablanca z.B. ist das etwas anders. Dort sind sie sehr rigide, und einige Immigrationskandidaten können da schon mal einen Monat im Gefängnis sitzen.

Warum dieser Unterschied?

Casablanca ist eine Zehnmillionenstadt mit einem großen Hafen. Sehr, sehr viele Leute versuchen, sich auf Handelsschiffe zu schmuggeln. Allein die Anzahl der Menschen macht das Verfahren länger, außerdem wollen die Behörden Stärke zeigen.

Wie sind die genauen gesetzlichen Grundlagen für Immigration geregelt?

Das Lustige an der gesetzlichen Regelung ist, dass das Gesetz aus dem Jahr 1949 stammt, aus der Zeit des spanischen Protektorats, als Leute versuchten, illegal aus der französischen Zone in den spanischen Norden von Marokko zu gelangen, um dort zu arbeiten.

Will man dieses veraltete Gesetz der Immigration nicht ändern?

Bis jetzt hat das niemand versucht, und ich denke, es wird auch noch länger dabei bleiben.

Was für einen aktuellen Fall haben Sie gerade?

Es geht um einen jungen Marokkaner, dessen Schlauchboot ein Loch hatte und gesunken ist. Von den 45 Passagieren sind fünf gestorben, der Rest wurde nach fünf Stunden von der marokkanischen Küstenwache aus dem Wasser gezogen. Der Kapitän hatte über Handy angerufen, bevor das Boot komplett absackte. Von den Passagieren, alles Marokkaner, kamen alle frei. Nur mein Klient nicht, da sich bei den Untersuchungen der Polizei herausstellte, dass er nur 7 000 Dirham (700 Euro) anstatt der üblichen 10 000 Dirham (1 000 Euro) für die Überfahrt bezahlt hatte. Die Polizei nimmt nun an, dass der Mann als Ausgleich für den Fehlbetrag organisatorische Hilfe leistete.

Nun blühen ihm unter Umständen zwei Jahre Gefängnis für die Organisation illegaler Immigration?

Nein, das glaube ich nicht. Es gibt keinerlei Beweise, dass er aktiv mitgeholfen hat. Nun sitzt der Mann schon fast drei Monate in Untersuchungshaft und wird nach der Verhandlung nächste Woche wohl frei kommen.

Woher kommt dieser Marokkaner?

Er ist aus Tanger und sein Vater hat eine bekannte Bar hier.

Und die anderen Mitpassagiere?

Sie kommen aus dem Süden. Die meisten aus der Gegend um Beni Mellal. Sie sind alle sehr jung, viele haben einen Hochschulabschluss, aber keine Arbeit. Sie glaubten, in Spanien leicht einen Job zu finden und viel Geld zu verdienen.

Sind das die typischen marokkanischen Immigranten?

Ja, das würde ich schon sagen. Niemand verhungert hier in Marokko, und unter dem neuen König, Mohammed VI., gibt es in der Regel auch keine politische Verfolgung mehr, sodass jemand dringend das Land verlassen müsste. Das sind Wirtschaftsimmigranten, die in Europa den Wohlstand suchen, wie sie ihn z.B. im spanischen Fernsehen sehen. Sie haben nur das Problem, dass sie kein Visum für das goldene Paradies bekommen. Viele haben sogar Arbeit in Marokko, wollen aber mehr. Ich erinnere mich an einen Fall, wo der Vater sogar ein Stück von seinem nicht gerade kleinen Landbesitz verkaufte, um seinem Sohn die Überfahrt und ein ansehnliches Taschengeld zu bezahlen. Sie haben einfach diese Idealbilder im Kopf. Und jedes Jahr im Sommer kommen die Exilmarokkaner auf Heimaturlaub und protzen mit großen Autos und Geld. Klar, dass sich viele in ihrem Glauben an das Paradies, wo Milch und Honig fließen, bestätigt sehen. Sie vergessen aber dabei, dass Autos und Geld der Exilmarokkaner oft nur geliehen oder auf Kredit gekauft wurden. Hinzu kommt, dass es in manchen Gegenden, wie rund um Nador beispielsweise, schon eine soziale Pflicht ist, nach Deutschland zu gehen. Dort wurden in den sechziger Jahren Arbeitskräfte angeworben und heute hat fast jede Familie ein Mitglied in Deutschland. So gibt es verschiedene Gegenden, wo alle nach Spanien, nach Italien oder nach Holland gehen. Legal und natürlich auch illegal.

Wie verhält es sich dagegen mit den Schwarzafrikanern? Was sind das für Leute?

Da ist es ein bisschen anders. In manchen Ländern gab es oder gibt es noch Krieg bzw. Bürgerkrieg, was natürlich viele Flüchtlinge produziert, die woanders ein neues Leben suchen. Trotzdem sind unter den Immigranten aus Nigeria, Gabun, Mali oder dem Kongo viele, die eine feste Stelle zurückließen, um in Europa das große Glück zu finden.

Wer es allerdings nicht zum illegalen Tellerwäscher oder Erntehelfer in Spanien bringt, findet sich in der Wüste an der algerischen Grenze wieder.

Ich denke, dass es einem großen Teil der Schwarzafrikaner, die sich bis nach Tanger durchgeschlagen haben, so ergeht. Viele werden mit leeren Versprechungen um ihr Geld betrogen oder auch einfach um ihr hart erspartes Vermögen gebracht. Die sitzen dann in Tanger, ohne einen Dirham und müssen betteln gehen. Sie haben kein Geld für die Überfahrt nach Spanien und auch keines für die Rückfahrt in ihr Heimatland. Irgendwann werden sie dann von der Polizei aufgegriffen. Besonders zynisch ist es, wenn sie eines Nachts voller Hoffungen ein Boot besteigen, das zwar in Richtung Spanien abfährt, die Passagiere aber irgendwo im Morgengrauen wieder an der marokkanischen Küste absetzt. Manche Leute sagen dann: Glück gehabt, hättest auch auf einem Boot sein können, wo man alle ins Meer warf. Das ist leider auch eine traurige Wahrheit.

Ganz abgesehen von diesen üblen Tricks. In Tanger sagt doch jeder halbwegs vernünftige Mensch, man müsse schon total verrückt sein, so ein Schlauchboot zu besteigen.

Ja, natürlich. Jeder Tangerino weiß, dass sich das Wetter drei- oder viermal am Tag ändern kann. Das Meer ist unberechenbar und gefährlich. In Gibraltar werden pro Jahr über tausend Tote angeschwemmt. Die Dunkelziffer der Leute, die überhaupt nicht gefunden werden, ist bestimmt noch einmal so hoch.

Ihr letzter Klient aus Schwarzafrika...?

Das war ein Mann aus dem Kongo, der jetzt hier in Tanger seine zweimonatige Haftstrafe absitzt. Nicht einer der typischen Immigranten, eher ein Geschäftemacher, würde ich sagen, von denen es natürlich in dieser Branche viele gibt. Der Mann versuchte, eine Frau mit einem kongolesischen Pass und einem gestohlenen belgischen Personalausweis ganz legal über die Grenze zu bringen. Nachher stellte sich heraus, dass der Mann einige Jahre zuvor schon einmal mit zehn gestohlenen Pässen in Marokko erwischt worden war.

Ist die Zahl der Immigranten eigentlich konstant?

Die Zahl der Immigranten ist von der Saison und auch von politischen Ereignissen abhängig. Nach dem 11. September gab es zum Beispiel weit weniger als sonst. Auch Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Marokko, wie der Streit um die Fischereirechte oder die Insel Leila, beeinflussten den Zustrom negativ. Im Allgemeinen steigt die Zahl im Sommer und geht im Winter zurück. Das ist allein durch die schlechteren Wetterverhältnisse bedingt.

Manchmal greifen die marokkanischen Behörden auch sehr hart durch, setzen Hubschrauber zur Überwachung der Küste ein, machen groß angelegte Razzien in der Medina von Tanger, manchmal sogar mit einem Team des staatlichen marokkanischen Fernsehens, das die Verhaftung von Schwarzafrikanern filmt.

Das ist ganz normal. Die Polizei führt Razzien von Zeit zu Zeit durch. Das ist nichts Besonderes.

Die illegale Immigration wäre ohne Korruption nicht denkbar. Ob Militärs, Marine oder Polizei, alle verdienen sehr gut an den Immigranten, die in überfüllten Booten nach Spanien gehen.

Die Bosse haben großen Einfluss und gute Kontakte zu den Behörden. Das ist eine Voraussetzung für dieses Geschäft. Sie müssen das Militär bezahlen, das die Küste bewacht, die Marine, damit die Zodiacs ungehindert in internationale Gewässer kommen, und die Polizei, die die Wagen mit den Passagieren durch die Straßenkontrollen zur Küste lässt. Natürlich, ohne Korruption wäre das alles nicht möglich. Das ist eine straff durchorganisierte Mafia, die aber auf beiden Seiten des Meeres ihre Leute hat. Wie Polizisten in Marokko bezahlt werden, gibt es auch Kollegen der Guardia Civil, die man schmiert. Ohne internationale Zusammenarbeit liefe nicht sehr viel. Die Leute werden ja auf der spanischen Seite weitertransportiert, was im großen Stil nur unter Duldung der Polizeibehörden funktioniert.

Was erzählen denn Ihre Klienten darüber?

Ich denke, die wissen oft gar nicht, was tatsächlich passiert. Die sind wie Frachtgut, das man hin und her transportiert. Meistens erzählen sie, dass sie in Spanien zu Freunden oder Verwandten gehen und von ihnen an der Küste abgeholt werden. Bei Marokkanern kann das manchmal auch stimmen, nur die Schwarzafrikaner, die werden geschlossen an einen Bestimmungsort weiterverfrachtet. 40 oder 50 Schwarzafrikaner können kaum in Tarifa an einer Haltestelle auf den nächsten Bus warten.

Was sagen Sie zu den Vorwürfen der Spanier, dass Marokko nicht genügend gegen die illegale Immigration tut?

Ich halte das meiste für blödsinnige Propaganda. Spanien will Druck auf Marokko ausüben, nicht zuletzt wegen des geplatzten Fischereiabkommens. Marokko ist gar nicht in der Lage, selbst wenn es wollte, die ganze Küste zu überwachen. Spanien hat wesentlich mehr Möglichkeiten, vor allem finanzieller Natur. Übrigens soll ja in Algeciras bald ein neues elektronisches System installiert werden, das die gesamte Küste bis nach Gibraltar überwacht und angeblich jedes noch so kleine Boot registrien soll, das die marokkanische Küste verlässt.

Soviel ich weiß, kostet dieses System rund 100 Millionen Euro. Völlig absurd das Ganze. Was könnte man mit diesem Geld alles machen, wenn man wirklich an einer Lösung des Immigrantenproblems interessiert wäre? Aber Zynismus und doppeltes Spiel sind die Prinzipien europäischer Immigrationspolitik. Die Wirtschaft im Süden Spaniens z.B. wäre ohne illegale Arbeiter, die in Almeria zum Teil unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben, nicht mehr konkurrenzfähig. Europa braucht Immigranten, das bestätigt doch jede Untersuchung. Warum dort so ein Anti-Immigrationstheater gespielt wird, das verstehe, wer will.