Herbst in London

Als sei man in den Tropen

Herbst, eine andere Stadt, verliebt sein, und wie sich das anfühlt.

August

Es hätte auch eine andere Stadt sein können. Wir haben eine long-distance-relationship. Sie hat einen Job, der ganz okay ist, und keinen Urlaub mehr; ich hatte kein Geld, kann aber als freier Autor ortsungebunden arbeiten und spielte mit dem Gedanken, nach London zu gehen. Auch weil Berlin plötzlich so deprimierend zu sein schien.

Irgendwie war ich ein Teilzeitbürger von Stoke Newington geworden, dem Viertel im Norden Londons, in dem meine Freundin mit zwei anderen Freunden zusammen wohnte.

London

»London is the capital of Paris and Paris is the capital of Rome and Rome - no that's all wrong. I'm certain«, sagt Alice in »Alice in Wonderland«. Dass Stoke Newington nicht Hackney ist und Hackney nicht London und London nicht England, kapiert man ziemlich schnell.

Manchmal reist man einfach so, um von zu Hause wegzukommen, manchmal will man Urlaub machen und schöne Dinge sehen in fremden Städten. Ich war in London bei der Freundin, um zu gucken, wie es ist, dort zu leben. Wenn sie arbeiten war, ging ich meist spazieren und stand oft leicht desorientiert neben Ampeln auf der Straße herum und wusste nicht, wo das alles noch hinführen soll.

Alle anderen gehen zielbewusst, nur man selbst weiß nicht, wo's lang geht, geht da erst ein bisschen, dann dort, unschlüssig verlangsamt man seinen Schritt, bleibt stehen, nimmt nervös das kleine »London A-Z«-Büchlein aus der Tasche und sucht die Straßen, die auf den Schildern stehen.

Wenn der Norden nicht die Richtung war, in die ich grade blickte, versagte meine Vorstellungskraft und ich drehte den Plan, um 90 oder 180 Grad, um ihn den Gegebenheiten anzupassen. Die Buchstaben standen nun auf dem Kopf. Um den Plan und die Wirklichkeit wieder in Einklang zu bringen, drehte ich mich selbst in Richtung Norden. Dann war der Norden wieder geradeaus, wie sich's gehörte.

Wenn man nicht mehr weiter weiß, bleibt manchmal einer stehen und fragt, wohin man denn wolle. Man will aber gar nicht irgendwohin, sondern eigentlich nur ein Gefühl für die Gegend entwickeln. Das ist aber zu kompliziert zu erklären, also sagt man »Clissold Park« und geht ein paar Schritte, bis der andere außer Sichtweite ist und dann steht man wieder da, irgendwo, auf der Straße, am Morgen, im Nieselregen, der warm ist wie in den Tropen.

Wie in den Tropen ist das Wetter hier, dachte ich immer wieder, nur eben nicht so warm, und wenn man die »Highstreet« zum Beispiel in der Dämmerung herunterfährt, an endlosen Reihen kleiner Geschäfte vorbei, ist es wie in Bangkok.

Die andere Stadt

Manchmal kommt man sich auch plötzlich so unpassend vor und hat das Gefühl, die falschen Sachen an zu haben. Der Pullover, den mir eine Freundin vor Monaten geliehen hatte, war als Frauenpullover kenntlich, mein Hemd war zu schwul und in Anzughosen rennt hier niemand herum. Dann geht man zurück zur Wohnung der Freundin, fummelt endlos mit dem Schlüssel im Türschloss, das klemmt, und es geht nicht, funktioniert nicht.

Es wird wärmer, man beginnt zu schwitzen, gleich wird jemand die Polizei holen, wie peinlich, und in der Aufregung werden dir die Worte fehlen; was willst du überhaupt in London, wenn dir schon die einfachsten Sachen misslingen. Dann ging's doch, irgendwann. Natürlich.

Logisch. Klar.

Ich bemühte mich, heimisch zu werden, mich selbstverständlich, alltäglich zu fühlen in London, und konzentrierte mich aufs Kleine. Ich versuchte, mein Englisch zu verbessern und las eigentlich ständig Bücher und Zeitungen. Lesen und Verstehen ging ganz gut, doch am Abend fehlten mir oft die Worte und nach zwei Wochen begannen die Menschen in meinem Kopf Kauderwelsch zu reden.

Wie sich die Bedeutung eines Wortes aus seinem Gebrauch ergibt, so lernt man eine neue Stadt vor allem über Unterschiede und Gemeinsamkeiten kennen. Oft sprachen wir über Stoke Newington und Kreuzberg. Beide Bezirke sind multikulturell, alternativ angehaucht, und in beiden Bezirken leben viele Türken.

Während Kreuzberg aber der ärmste Bezirk Berlins ist, ist Stoke Newington in den letzten Jahren aufgestiegen. Während in Kreuzberg die verschiedenen Nationalitäten eher nebeneinander leben, scheint im Norden Londons das Miteinander größer zu sein. Während in Berlin 42 Prozent der Bevölkerung arbeiten, sind es in London vielleicht 70 Prozent, die nicht selten mehrere Jobs haben und, vermutlich zum Stressausgleich, sehr viel joggen.

Der Vorteil Berlins liegt in seiner melancholischen Langsamkeit; London beeindruckt durch Lebendigkeit. Während in Deutschland die Straßenmarkierungen durchgehend gerade sind, gibt es in London oft auch Zickzacklinien auf der Straße. Während man in Berlin angeschnauzt wird, wenn man mal bei rot über eine autoleere Straße geht, wird man hier erstaunt angeschaut, wenn man stehenbleibt. Während in Kreuzberg die Häuser hoch sind, sind sie hier meist niedrig.

Dass die Zahl der Teenagerschwangerschaften sehr hoch ist in England, sieht man in jedem Park. Häufig begegnet man auch Leuten, die Zwillingsbabies durch die Gegend fahren. Angeblich gibt es hier so viele Zwillinge, weil die Leute zu wenig Kalzium zu sich nehmen.

Vor allem gibt es viel mehr Schwarze und orthodoxe Juden, das englisch gezapfte Bier schmeckt viel besser und auf der Straße stehen Autos, die man zuvor nur von der Playstation kannte. Kleine violette »Spitfire«-Sportwagen zum Beispiel, die virtuell schwer zu fahren sind, die Mühen aber mit enormer Flinkheit belohnen.

Regen, Sonne, Regen

Oft regnet es, aber auch der Regen ist hier ein anderer, so fein, dass man eigentlich keinen Regenschirm braucht, um sich vor dem Regen zu schützen, der ohnehin selten lange andauert, denn das Wetter wechselt gerne und häufig am Tag, und der Himmel ist so hell und hoch wie in Stockholm.

Plötzlich, nachdem es vier Tage lang sehr heiß war, nachdem wir jeden Tag nach der Arbeit im Park auf dem Rücken Zeitung gelesen hatten, nachdem es sehr schwül geworden war, begann es in schweren Tropfen zu regnen. Es war plötzlich ganz dunkel geworden. Ich dachte: »Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie«, und alles fühlte sich plötzlich so wehmütig an, wie Herbst. Und die kleinen Straßen, durch die ich ging, mit den Bäumen am Rande und den Häusern aus rotem Backstein, erinnerten mich an meine Kindheit in Schleswig-Holstein

Dann war es Sonntagmorgen. Am nächsten Tag würde ich wieder zurückfliegen und ich ging spazieren, um Abschied zu nehmen. Noch einmal am Clissold Park entlang, wo ein junger Asiate mit orange gebleichten Haaren Sportübungen machte, allein, für sich. Wahrscheinlich war es Immamoto, der japanische Fussballheld, der bei Arsenal meist auf der Bank saß und nun bei Fulham oder so spielt. Und ich ging noch einmal ins türkische »Star Nergiz«-Café und ich war zu traurig, um in die angenehme Wehmut zu fallen, die ich angestrebt hatte und zu sehr mit den Gedanken woanders, um Zeitung zu lesen.

Ich war in einem Zwischenraum. Es war nichts mehr zu tun. Der Himmel war bleich und hell und herbstlich. M. war schon in Buenos Aires bei ihrer krebskranken Mutter. Ich wartete sieben Stunden in Stansted, weil ich das Flugzeug verpasst hatte und schrieb dabei einen mit »Nie mehr Buzz« überschriebenen Text, in dem es darum ging, dass die Flugzeuge von »Buzz« meist zwei bis drei Stunden Verspätung haben, und wenn sie mal pünktlich sind, verpasst man sie natürlich. Der Artikel erschien nie. So war ich nicht an die Überschrift gebunden und nahm später doch wieder Buzz.

September

Das Flugzeug fliegt fünf Minuten früher los als geplant. Angenehm rumpelt es ein bisschen, als es Anlauf nimmt, dann sieht man nur noch das Tragflächenlicht da draußen und sanft fliegt es so dahin. Es ist still. Die Stewardessen machen ihre Sicherheitsperformance. Das ist wie Synchronspringen oder -tauchen. Sie bemühen sich, keine Miene zu verziehen.

Wieder in London

Der Flughafen liegt weit vor der Stadt. Der Stansted-Express fällt aus, weil die Eisenbahnwagenführer streiken. Im Ersatzbus leuchtet es rot auf: »No smoking« neben »no eating«.

Komischerweise ist es immer noch Sommer. Man geht durch die Straßen und verläuft sich nicht mehr so schnell. Es ist sehr angenehm und entspannend, wenn nicht alle die gleiche Hautfarbe haben. Im Bus sagt M., wie unwohl sie sich manchmal in deutschen Supermärkten gefühlt hätte, weil alle so gleich aussahen und sie angestarrt hätten oder sie zumindest das Gefühl hatte, angestarrt zu werden.

Im Clissold Park und vor der Tür hüpfen und springen die Eichhörnchen herum und rennen die Bäume rauf und runter. M. wohnt mit P. und E. zusammen auf einem Raum, der in etwa dem meiner Berliner Wohnung entspricht und bezahlt dafür mehr. In London denkt man, dass es doch Unsinn ist, so viel Platz in Berlin nur für sich zu haben.

Im Café Zeitung zu lesen, ist eine Methode, wieder ein bisschen heimisch in der anderen Stadt zu werden, seine Unsicherheit zu verlieren, während die Freundin - wie früher der Vater - auf Arbeit ist. Das Zeitunglesen geht besser als in Berlin. Weil das deutsche Gequatsche im Hintergrund sich nicht mit dem deutschen Gequatsche im eigenen Kopf vermischt und die am Boden festgeschraubten Tische in diesen working-class-Cafés mit Ham & Bacon & Nescafé die richtige Höhe zum Schreiben haben und es normal ist, hier herumzusitzen, und die Wände meist grün, rot und nur selten weiß sind.

Die U-Bahnfahrer streiken. Die Busse sollen das übernehmen. Leute stehen an der Bushaltestelle in der Blackstockroad und schauen einander hilflos, frustriert, manchmal auch amüsiert an. Er warte schon eine halbe Stunde, sagt ein alter dünner Mann, und dass er zu Fuß schon längst da wäre, wo er hin will, und: »The bus- and the traindrivers are working together.«