Der Dalai Lama in Graz

Om a a am ha ha ham

Das berühmte buddhistische Kalachakra-Ritual fand in diesem Jahr in Graz statt.

Graz. Steiermark. Ausgerechnet hier, im tiefsten Süden Österreichs und in der schwärzesten Provinz, sollte in zwei Wochen aufkeimen, worauf die Menschheit seit Menschengedenken gewartet und gehofft hatte: der Frieden. Und nicht nur ein bisschen. Sondern der Weltfrieden.

Mit großer Entourage war er angereist, der Überbringer des Friedens, seine Heiligkeit höchstpersönlich, der gelehrte Verteidiger des Glaubens und der Ozean der Weisheit, Jamphel Yeshe Ngawang Lobsang Yeshe Tenzin Gyatso, kurz: der 14. Dalai Lama. Ein tibetisch-buddhistisches Erleuchtungsritual versprach er abzuhalten, Kalachakra genannt, um die ganze Welt in einen Hort des Mitgefühls und der Güte zu verwandeln.

Ein nobles Ansinnen, dem die Stadt Graz und das Land Steiermark gerne mit eineinhalb Millionen Euro Steuergeldern beizuspringen bereit waren. Denn für den Frieden ist nichts zu teuer. Schließlich sollte das zwölf Tage dauernde Großritual geschätzte 15 000 TeilnehmerInnen anlocken, die der Region, über den Daumen gepeilt, 150 000 Übernachtungen beschert haben würden. Und zwar in der touristischen Saure-Gurken-Zeit Mitte bis Ende Oktober. Nicht nur das Hotel- und Gaststättengewerbe überschlug sich fast vor Begeisterung, als es dem Bürgermeister Alfred Stingl vor drei Jahren gelang, den Dalai Lama zur Durchführung eines Kalachakra-Rituals in Graz zu überreden. Der werbewirksame Titel einer »Weltfriedenshauptstadt 2002« ging in die steirische Provinz, London und Paris, die auch bittstellig geworden waren, hatten das Nachsehen.

Begeistert waren zudem ein paar Grazer Bauunternehmer, musste doch für die Megaveranstaltung ein neues Gebäude her. Auf dem Grazer Messegelände wurde eine große Halle aus dem Boden gestampft, Sichtbeton, keine Fenster, mit einer Kapazität von rund 10 000 Sitzplätzen. Wofür die neue Halle später einmal gebraucht werden soll, weiß kein Mensch. Vielleicht kommt ja einmal Karl Moik, vielleicht auch Gottschalk mit »Wetten, dass ...«, ansonsten kann sich niemand eine sinnvolle Weiterverwendung vorstellen. Am wenigsten Bürgermeister Stingl, dem es aber wurscht sein kann, weil er im nächsten Jahr in Pension geht.

Wie ein älterer Herr mit Trachtenhut, offenkundig weder Stingl noch dem Dalai Lama sonderlich zugetan, vor der Halle erklärte, fasse das nahe gelegene »Arnold-Schwarzenegger-Stadion«, in dem die Kicker von Sturm Graz ihre Heimspiele austragen, etwa die gleiche Menge Zuschauer: »Warum kimmt er denn net im Sommer, da Lama, und predigt eh im Stadion? De andern machan des doch aa.« Gemeint, wie eine Nachfrage ergab, sind mit »de andern« die Zeugen Jehovas. Das Stadion, wie gleichfalls zu erfahren war, wurde nach dem größten Sohn der Stadt benannt, als er vor ein paar Jahren einmal zu Besuch kam: dem Dörminäta.

Am 11. Oktober traf der Gottkönig, von München kommend, in Graz ein. In der bayerischen Landeshauptstadt hatte er an einem »Wissenschaftler«-Kongress teilgenommen, moderiert von dem notorischen TV-Pfarrer Jürgen Fliege. In Graz nun wurde der Lama, streng bewacht von einem Sonderkommando der österreichischen Eliteeinheit »Kobra«, ins erste Hotel am Platze eskortiert, wo er, dauergrinsend wie immer, eine erste Pressekonferenz gab. Dass er das Kalachakra-Friedensritual in den Jahren seiner Regentschaft schon 27 mal veranstaltet hat, an den unterschiedlichsten Orten, und dass die Welt seither nicht um ein Haar friedfertiger geworden ist, schien keinem der anwesenden Journalisten aufzufallen. Ebenso wenig den zahlreichen Gläubigen, die tags darauf in die neue Messehalle strömten.

Obwohl, so zahlreich strömten sie gar nicht. Vier-, höchstens fünftausend Menschen fanden sich ein zur Eröffnungsveranstaltung, der nur halb gefüllte Betonkasten wirkte noch trostloser als am Abend zuvor, als sich ein paar früh Angereiste vor dem Thron, auf dem anderntags der Dalai Lama Platz nehmen würde, auf den Boden geschmissen hatten. Mit ausgestreckten Armen, und gleich 30, 40 mal hintereinander. Auf die Frage, warum sie das täten, folgte verständnisloses Kopfschütteln. »Zur Sammlung spirituellen Verdienstes«, erteilte schließlich ein kahl geschorener junger Mann Auskunft, der mit Farbtöpfchen und Pinsel letzte Ausbesserungsarbeiten am Thron »Seiner Heiligkeit« durchführte. Die Frage, was das denn sein solle, spirituelles Verdienst, beantwortete indes auch er mit verständnislosem Kopfschütteln.

Es war eine reine Insiderveranstaltung, die da abgezogen wurde, trotz aller Öffentlichkeitsarbeit und trotz der Aufforderung des »Gottkönigs« von Litfasssäulen und Plakatwänden herunter, zahlreich teilzunehmen an seinem »Kalachakra for World Peace«, egal ob man nun Buddhist sei oder nicht. Allerdings schienen selbst die Insider herzlich wenig Ahnung zu haben, worum es bei dem Kalachakra tatsächlich geht. Fragen an die Betreiber der Stände und Buden in einer benachbarten Halle, an denen buddhistische Devotionalien feilgeboten wurden, tibetische Strickmützen, Räucherstäbchen und all der sonstige Tand, der sich auch auf einschlägigen Esoterikverkaufsmessen findet, trugen jedenfalls wenig zur Aufklärung bei. Allenthalben war nur von »World Peace« die Rede.

Selbst die rot gewandeten Mönche und kahl rasierten Nonnen, die da geschäftig herumwieselten, wussten nichts Konkretes zu sagen. Es sei alles viel zu kompliziert, um es in ein paar Worten erklären zu können. Und bei jedem Gespräch das Gefühl unterschwelliger Gereiztheit, sobald eine Frage oder Nachfrage gestellt wurde. Auch den Verlautbarungen der Organisatoren war nichts Vernünftiges zu entnehmen. In der offiziellen Pressemappe hieß es lediglich, das Kalachakra-Ritual sei eine »besondere Segenszeremonie zur Förderung von Mitgefühl und Toleranz«. Zudem gehe es um Buddhaaspekte, irgendwie. Und natürlich um »World Peace«.

Näheren Aufschluss können vielleicht die dem Ritual zugrunde liegenden Originaltexte geben. Meterweise Literatur aus der Feder des Dalai Lama sowie eigens von ihm beauftragter Interpreten fanden sich auf einem Büchertisch. Kaum jemand indes nahm einen der Wälzer zum Kalachakra zur Hand, wenn denn ein Buch gekauft wurde, war es einer der Superseller »Seiner Heiligkeit« mit gesammelten Kalendersprüchen zum Glück und zu innerer Zufriedenheit. Warum niemand Literatur über das Kalachakra kaufe, beantwortete die junge Frau an der Kasse mit bestechender Logik: »Weil das alles viel zu kompliziert ist.« Ob sie selbst so ein Buch gelesen habe? »Nein, der Dalai Lama wird das ja alles erklären.«

Die Lektüre des eigens zur Grazer Veranstaltung herausgebrachten Kalachakra-Buches des Dalai Lama, eines Schinkens mit 500 Seiten im Großformat, ist zugegebenermaßen eine Tortur. In Kurzform dreht es sich um Folgendes: Das Kalachakra-Ritual, eine Methode zur beschleunigten Erlangung der Buddhaschaft, gehe auf Buddha selbst zurück. Am Tag nach seiner Erleuchtung habe er in 100 000 Strophen einen entsprechenden Lehrtext vorgetragen. Von einem seiner Nachfolger sei das Ganze auf gut 12 000 Strophen gekürzt und von einem weiteren mit einem Kommentar versehen worden.

Der Text und der Kommentar seien dann jahrhundertelang verschwunden, bis letzterer Ende des 10. Jahrhunderts in Indien wieder aufgetaucht sei, um als Grundlage zu dienen für die Entwicklung der heute noch bestehenden Praktiken. Anfang des 11. Jahrhunderts sei das Kalachakra nach Tibet gelangt, wo es zahllose Umformungen und Erweiterungen erfahren habe. Besonders die Sekte der Gelbmützen, als deren Oberhaupt der jeweilige Dalai Lama firmiere, habe sich seit je mit Exegesen des Kalachakra befasst. Die heute gültige Fassung stamme im Wesentlichen aus dem frühen 18. Jahrhundert. Aha. Aber worum geht es inhaltlich?

An jedem Morgen der zwölftägigen Veranstaltung fanden Zusammenkünfte ohne den Dalai Lama statt. Kollektiv und genau nach der Maßgabe eines vorsitzenden Lamas wurden rituelle Verbeugungen, Niederwerfungen und Opferungen durchgeführt, begleitet von endlosen Mantren-Rezitationen in Sanskrit: »Om a a am ha ha ham hah hoh phrem dasha-paramita paripurani svaha.« Oder auch: »Om sarva tathagata anutarra bodhi alamkara vastra puja megha samudra spharana samaya shri ye hum, om vajra raksha, ham, om vajra ushnisha hum phat.«

Die Teilnehmer, viele in Meditationshaltung auf dem Boden sitzend, murmelten die Mantren mit oder taten zumindest so. Viele ließen sich einfach davon berieseln. Es folgten unzählige Selbstverpflichtungen, etwa das Gelübde, den Anweisungen eines Lama nicht zuwiderzuhandeln. Ansonsten finde man sich unweigerlich in einer der 16 Höllen wieder, gevierteilt und am Spieß gebraten. An den ersten sechs Abenden gab es zudem Vorträge von »Linienrepräsentanten« anderer tibetisch-buddhistischer Schulen und Sekten.

Zentrale Bestandteile des Rituals waren die allnachmittäglichen Sitzungen mit dem Dalai Lama. Von seinem Thron herab gab er in tibetischer Sprache Belehrungen und Anweisungen zum Besten, anschließend wurde das Ganze in zäher Übersetzung ins Deutsche übertragen; anderssprachige Teilnehmer bekamen Übersetzungen per Kopfhörer zugespielt. Seine Redepausen überbrückte der »Ozean der Weisheit« mit autistisch anmutendem Hin- und Hergeschaukel sowie gelegentlich eingestreuten Hanswurstiaden. Ab und an beugte er sich kichernd so weit zur Seite, dass es aussah, als fiele er jeden Augenblick von seinem Hochsitz herunter. Große Aufregung jeweils bei seinen Paladinen, anschließend großes Gelächter: Haha, unser göttlicher Scherzbold.

Die Belehrungen des Dalai Lama im ersten Teil des Programms drehten sich um die buddhistische Weltanschauung, um Wiedergeburt, Karma, Alchemie, Astrologie sowie auch und insbesondere um ein korrektes Sexualverhalten. Dringlichst zu vermeiden bei sexueller Interaktion sei der »orgastische Abfluss«, sprich: die Ejakulation. Warum, sagte »Seine Heiligkeit« nicht.

Schon zu Beginn der Veranstaltung hatte eine Gruppe von Mönchen begonnen, aus buntem Sand ein so genanntes Mandala zu erstellen, eine Art Grundriss für einen zu visualisierenden gigantischen Palast. Dieser Palast, am ehesten vorstellbar als ein riesiges Legogebäude in Form einer vierstöckigen Stufenpyramide, wurde im zweiten Programmteil vom Dalai Lama in allen Einzelheiten beschrieben, auf dass die Teilnehmer ihn vor ihrem geistigen Auge entstehen lassen konnten.

Das Gebäude umfasse im Erdgeschoss eine Grundfläche von exakt 350 mal 350 Metern. Die höheren Stockwerke seien jeweils halb so groß wie die darunter liegenden, sodass das Obergeschoss immerhin noch eine Grundfläche von rund 15 000 Quadratmetern aufweise. 720 Wesenheiten hielten sich darin auf, die je verschiedene Aspekte des Buddhabewusstseins darstellten: Mitgefühl, Weisheit, Vollkommenheit etc. In sämtlichen Details wurden diese Wesen nun vom Dalai Lama skizziert, mit der Anweisung an die TeilnehmerInnen, sie sich bildlich vorzustellen, allesamt mit mehreren Köpfen und Armen sowie den verschiedensten Attributen, und sich mit ihnen zu identifizieren.

Im Zentrum des obersten Geschosses sollte, auf einem Juwelenthron sitzend, Kalachakra visualisiert werden, der Gott der Zeit und Vernichtung - nämlich der Dalai Lama selbst -, in sexueller Vereinigung mit seiner Gefährtin Vishvamata. Kalachakra, schwarz von Gestalt, habe vier Gesichter, ein weißes, ein rotes, ein schwarzes und ein gelbes. An der Stirn jedes Gesichts zeige sich je ein weißes OM-Zeichen, ein rotes AH an der Kehle, ein blaues HUM auf der Brust, und ein gelbes HOH am Nabel. Auf dem Kopf trage er eine goldene Tiara, um den Hals eine Girlande aus Totenköpfen.

Er habe insgesamt 24 Arme, mit Händen in rot, blau, schwarz, gelb und grün, in denen er todbringende Waffen halte: mithin Schwert, Dreizack, Keule, Lanze und Axt; dazu das so genannte Diamantzepter, ein tantrisches Symbol für den Phallus, sowie eine Glocke, das Symbol der Vulva. Mit seinen beiden Hauptarmen umfasse er Vishvamata, die, von safrangelber Farbe, ebenfalls vier Gesichter, aber nur acht Arme habe. In den Händen halte sie u.a. ein Hackmesser und eine mit Blut gefüllte Schädelschale. Beide trampelten auf besiegten Feinden bzw. deren Göttern herum.

Nach endlosen Ehrerbietungs- und Hingabezeremonien waren nun »Lichtstrahlen vom Herzen Kalachakras« zu visualisieren, die »uns in seinen Mund ziehen. Wir schmelzen zu einem Tropfen, gehen durch sein Vajra-Organ (Penis) hindurch und gelangen in den Lotosschoß (Vagina) Vishvamatas. Dort entstehen wir zunächst als ein weißes OM, dann als ein weißer Lotos, und schließlich als ein weißer Vajra-Körper, mit überkreuzten Beinen sitzend, drei Gesichtern und sechs Armen und eine rote Pandarvasin (Gefährtin) umarmend, die ebenfalls drei Gesichter und sechs Arme hat«. Undsoweiterundsofort, über zwölf Tage hinweg.

Die TeilnehmerInnen aus über 50 Ländern verfolgten die Anweisungen »Seiner Heiligkeit« mit Ehrfurcht, viele schliefen allerdings auch ein. Die Möglichkeit einer Nachfrage oder Diskussion war ohnehin nicht vorgesehen. Jeden Nachmittag hielt der Dalai Lama seine dreieinhalb- bis vierstündigen Unterweisungen ab, anschließend verschwand er, eskortiert von seiner Gefolgschaft und einer Schwadron an Leibwächtern, in sein Sechssternehotel in der Grazer Innenstadt.

Und wozu das Ganze? Zwölf Tage Psychiatrie? Nein, wer das gesamte Ritual durchlaufe und sämtliche erforderlichen Gelübde ablege, so der Dalai Lama, erwerbe die Berechtigung, als »Shambhala-Krieger« wiedergeboren zu werden, um in einem apokalyptischen Endkampf, prophezeit für das Jahr 2424, die Feinde des Buddhismus vernichtend zu schlagen. Diese Feinde seien, in Kurzform, jene, deren Führer »Adam, Henoch, Abraham, Moses, Jesus ... Mohammed und Mathani« heißen, sprich: die Angehörigen jeder Religion semitischen Ursprungs. Als Hauptgegner werden die Anhänger des Islam herausgestellt. Der Feldherr dieses Endkampfes, einer Art buddhistischen Jihads, werde ein gewisser Rudra Chakrin sein, wiederum niemand anderer als der Dalai Lama selbst in künftiger Inkarnation. Nach der Vernichtung aller Feinde werde der ersehnte buddhokratische Frieden anbrechen.

Die Frage ist nun, was es den Rest der Welt angeht, wenn in der steirischen Provinz ein paar tausend Spinner dem Dalai Lama huldigen und unter seiner Anleitung und für viel Geld, immerhin 350 Euro, irgendein durchgeknalltes Ritual inszenieren. Eigentlich nichts. Egal, ob da eiligst noch Cat Stevens als Sondergast eingeflogen wurde, um zu zeigen, dass das Kalachakra keineswegs antiislamisch sei. Stevens nennt sich bekanntlich seit geraumer Zeit Yussuf Islam und bereist als Islamgelehrter die Lande.

Vordergründig stellte das Grazer Kalachakra-Ritual nichts anderes dar als just einen weiteren Aufguss aus Religionsversatz, Folklore und offener Psychiatrie, wie er auf Esoterikmessen landauf und landab zu finden ist. Bei genauerer Betrachtung allerdings muss die versteckte politische Propaganda auffallen. Und natürlich der Umstand, dass diese Massenkonditionierung mit komplett irrationalem Schwachsinn von höchsten gesellschaftlichen und politischen Kreisen ausdrücklich gefördert wurde. Die Universität Graz verlieh dem Dalai Lama gar ihren »Menschenrechtspreis«.