Genderaktivisten in Argentinien

Bi, jung, arbeitslos kämpft

Seit die Krise in Argentinien auch den Mittelstand erfasst hat, entdecken Genderaktivisten neue Bündnispartner.

Für uns bedeutet Transvestit zu sein, in einer Krise zu leben, und das nicht erst seit dem Dezember des letzten Jahres. Für uns beginnt die Krise mit dem achten Lebensjahr.« Lohana Berkins, die Präsidentin der Alitt (Vereinigung für den Kampf für die Identität von Transvestiten und Transsexuellen) empfängt uns im Büro der Vereinigten Linken im Gebäude der Stadtregierung von Buenos Aires. »Aber erst in der Nacht des 19. Dezember hatten wir das Gefühl, dass die Leute gemeinsam mit uns gegen die Krise loszogen«, fasst Berkins die Veränderungen fast ein Jahr nach dem berühmten Kochtopfkonzert zusammen, das die Regierung Fernando De la Rúas hinwegfegte.

Natürlich spielten die Transvestiten beim Aufstand der Bevölkerung nicht die Hauptrolle, aber sie fühlten sich zum ersten Mal für wenige Stunden mit dem Rest der Gesellschaft verbunden. »Unser Leben bestand seit jeher darin, uns der Polizei allein entgegenzustellen. An jenem Tag begleiteten uns die andern. Als ich mit dem Topf auf die Straße ging, waren einige Genossinnen schon dabei, in ihren Vierteln Reifen anzuzünden, andere organisierten die Nachbarn. Wir sind Piqueteras der ersten Stunde.«

Für die argentinische Mittelklasse in Buenos Aires waren Straßenblockaden zwar nichts Neues, aber bis zu jenem Moment hatten sie selbst nichts damit zu tun, die Piquetes gehörten für sie zu den Demonstrationen der marginalisierten Gruppen in der Stadt und wurden als Fremdkörper wahrgenommen. »Am 20. Dezember stellten sich einige Genossinnen vor ein Piquete an einem Hotel im Zentrum. In einer Gegend, in der täglich Polizeirazzien unter den gleichgültigen Blicken der Nachbarn stattfinden. Die Besitzerin des Hotels drohte damit, die Genossinnen vertreiben zu lassen. Zum ersten Mal kamen die Nachbarn, um sie zu verteidigen und die Frau dazu zu bringen, sie nicht mehr zu belästigen. An jenem Tag waren viele, die in der ersten Reihe kämpften, Transvestiten. Als wir die Absperrungen erreichten, boten wir der Polizei die Stirn. Die ersten Tränengasgranaten trafen mich an den Brüsten.«

Die Militanz von Lohana Berkins war genau wie die vieler anderer Aktivistinnen unter den GLTTB (Gays Lesben Transvestiten Transsexuelle Bisexuelle) schon vor dem Aufstand im Dezember 2001 da. Viele Jahre arbeitete sie als Prostituierte; der Kampf gegen die polizeiliche Repression war eine Überlebensnotwendigkeit. Als Beraterin des Stadtabgeordneten und Vorsitzenden der Kommunistischen Partei (PC), Patricio Echegaray, setzt sie sich dafür ein, die systematische Kriminalisierung der Transvestiten, die Gesetze und Praktiken einer Politik des Ausschlusses, sichtbar zu machen.

Einen anderen politischen Ansatz verfolgt die relativ junge Gruppe Convocatoria GLTTB (Aufruf GLTTB). Drei ihrer Mitglieder, César, Walter und Rodrigo, alle zwischen 17 und 30 Jahre alt, erklären, dass ihre Aktivitäten bis vor ein paar Monaten vielseitig waren; man war immer der ganzen Palette gesellschaftlicher Probleme gegenüber aufgeschlossen. Trotzdem hätten sie bis zum Aufstand im letzten Dezember keine Form gefunden, um aus ihren Aktionen und Reflexionen eine Programmatik abzuleiten.

»Eigentlich existierten wir anfangs nur virtuell«, sagt Rodrigo, »wir lernten uns in einem dieser typischen schwulen Aufreißerchats kennen, und nach einer Weile stellten wir fest, dass einige sowohl schwul als auch links waren und wir uns ähnliche Fragen stellten. Damals richteten wir ein Diskussionsforum ein.« Bald merkten sie aber, dass sie sich persönlich treffen mussten. Der Mord an den beiden Piqueteros Maximiliano Kosteki und Darío Santillán im Juni war schließlich der Auslöser. Sie begannen damit, sich jede Woche zusammenzusetzen und organisierten sich als Gruppe.

Für Convocatoria kommt ihre Form, Politik zu machen, nicht aus den GLTTB-Bewegungen oder den traditionellen linken Parteien. Für sie ist die Abkehr von der Heteronorm unlösbar mit der Erfahrung verknüpft, in einem Land zu leben, in dem Arbeitslosigkeit, Marginalisierung, gesellschaftliche Ausgrenzung und extreme Kriminalisierung sich der ganzen jungen Generation bemächtigt haben.

»Wie können wir unseren Kampf ausschließlich auf unserem Schwulsein begründen, wenn der ganze Rest gerade in sich zusammenfällt? Wir sind eben nicht nur schwul, sondern auch jung, arbeitslos, unterbeschäftigt, Studierende. Deswegen repräsentieren uns die traditionellen Organisationen wie die Cha (Gemeinschaft Homosexueller Argentiniens) nicht.« Diese Gruppierungen begnügten sich mit einer schwulen Identitätspolitik im Rahmen der Möglichkeiten der neoliberalen Gesellschaft: »Schwul sein ist okay, solange du dich als Konsument innerhalb eines Marktes bewegst, zum Friseur gehst, ins Fitnessstudio, dir bestimmte Kleidung kaufst und den Schwulen aus den US-amerikanischen Serien gleichst.«

In Argentinien unter Carlos Menem war das für einige die Realität. Die Dollarparität begünstigte eine bestimmte Lebensweise und einen Kulturkonsum, was dann zum hegemonialen Modell vieler Jugendlicher wurde, sogar im Bereich der sexuellen Identität. »Aber mit der Abwertung zerplatzte diese Blase«, sagt César. »Denn wenn du das alles nicht mehr bezahlen kannst, wer bist du dann noch? Dann fällt dieser ganze Kampf um deine Identität in sich zusammen. Weiß und muskulös sein, in den Dark Room gehen, einen Drink und den Eintritt in die Schwulendisco zu bezahlen. Wie viel kostet das? 15 Steine. Klar, dass wir die jetzt nicht mehr haben.«

Ebenso wenig aufgehoben fühlen sich Walter, César und Rodrigo in jenen Gruppen, die sich traditionell für sexuelle Minderheiten einsetzen: »Wenn dem Kampf für bürgerliche Rechte der Vorrang eingeräumt wird, wenn er zum alleinigen Anliegen wird - nicht dass wir nicht auch daran interessiert wären -, dann werden viel grundlegendere Fragen beiseite gelassen. Zum Beispiel bin ich seit vier Jahren mit jemandem zusammen, aber was bedeutet es mir, ihn zu heiraten, wenn keiner von uns beiden Arbeit findet?«

Convocatoria trifft sich in den Räumen der Hijos (Kinder für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und das Schweigen), einer Gruppe, in der sich Kinder der während der letzten Militärdiktatur Verschwundenen organisieren, um die ungesühnten Menschenrechtsverbrechen anzuprangern. Auch wenn Convocatoria noch nicht innerhalb der Hijos organisiert ist, ihre räumliche Nähe zeugt schon von einer ähnlichen Perspektive, gerade hinsichtlich der von beiden verfochtenen Basisdemokratie, die eine unvoreingenommenere Bewertung der im Dezember 2001 entstandenen Nachbarschaftsversammlungen erlaube als die der hierarchischen linken Gruppen.

»Wir stehen in Kontakt mit einer Versammlung«, erzählt Walter. »Man hat uns dort sehr herzlich empfangen.« Von Anfang an habe es großes Interesse für ihren komplexen Ansatz gegeben. »Es war ein gegenseitiger Lernprozess: Mit den Nachbarn von gleich zu gleich zu sprechen und uns deren Neugier auszusetzen.«

Trotz all der Vorbehalte, die in den Versammlungen vorgebracht werden, sind die jungen Aktivisten von Convocatoria fest in der Überzeugung, dass diese sich ihrem Ideal der Basisdemokratie und der Berücksichtigung der ganzen Spannbreite sozialer Probleme annähern.

Die Differenzen zu den Positionen von Lohana Berkins und anderen Transvestiten sind nicht nur auf die verschiedenen Haltungen zu den bürgerlichen Rechten der GLTTB zurückzuführen. Die unterschiedliche Geschichte der Bewegungen und ihre Beziehung zur argentinischen Linken bildet die zentrale Achse der Auseinandersetzungen.

Der Antidiskriminierungsaktivist Flavio Rapisardi zeichnet in einem zusammen mit Alejandro Modaerelli verfassten Buch die Geschichte dieser Beziehungen auf. »Fiestas, baños y exilios. Los gays porteños en la última dictadura« (Feste, Bäder und Exile. Die Schwulen von Buenos Aires in der letzten Diktatur) ist eine minutiöse Rekonstruktion der verschiedenen Formen, die der Widerstand der GLTTB während der Militärdiktatur Ende der siebziger Jahre annahm, und der Aktivitäten des radikalisierten FLH (Bündnis der homosexuellen Befreiung), das einige Jahre vorher entstanden war.

Rapisardi meint, dass die große Menge der Gruppierungen innerhalb der Linken der siebziger Jahre eine Analyse ihrer Beziehungen zu den GLTTB kompliziert mache. Trotzdem könne man zumindest feststellen, dass alle diese Beziehungen konfliktreich waren, sogar im Fall der tolerantesten Gruppen. »Das beste Verhältnis gab es noch zur trotzkistischen Linken«, sagt er. »Es gibt Zeugnisse, die belegen, dass es diese Parteien zwar zuließen, dass schwule Aktivisten Diskussionsrunden bildeten, GLTTB-Zellen, gleichzeitig wurden sie aber wie missratene Kinder behandelt: Man schob sie in den Nebenraum ab.«

Die Pioniere der argentinischen Schwulenbewegung des FLH standen vor und während der Diktatur am Rand der Gesellschaft und unterhielten auch zur verstreuten lokalen homosexuellen Community, die ebenfalls von den »Säuberungen« des Staatsterrorismus betroffen war, nur spärliche Kontakte. Während der siebziger Jahre organisierten die Mitglieder der FLH, die nicht ins Exil gingen, unter härtesten Bedingungen klandestine Gruppen, in denen Deleuze, Guattari und Foucault gelesen wurden. Ihre Stimme war während jener Jahre viel zu leise, um vernommen zu werden oder in einen Dialog mit der hegemonialen Linken zu treten.

Nach der Wiedereinführung der Demokratie sammelte sich die Bewegung um die neu gegründete Cha. In ihr wurden die revolutionären Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung nicht mehr erhoben. Statt die Fundamente der Gesellschaft mit der sexuellen Befreiung zu unterhöhlen, forderte die Cha das Recht auf Identität und auf die zivile Ehe. Ein Rückschritt, der damit zu tun hat, dass auch die Welt um sie herum immer stärker vom Neokonservatismus geprägt wurde.

Dieser Diskurs wurde binnen weniger Jahren hegemonial und führte auch dazu, dass die sexuellen Minderheiten während der Aidskrise stigmatisiert wurden. Außerdem waren in Argentinien während der Diktatur tausende sozialer Aktivisten ins Gefängnis gesteckt oder ermordet worden, man hatte sie verschwinden lassen oder ins Exil verbannt. »Und was danach vor allem gefordert wurde, war die Abschaffung der Polizeigesetze, aber ohne das mit grundlegenderen Fragestellungen zu verknüpfen. Die Aktivsten der Cha forderten, dass man sie frei leben ließ.« In Zeiten einer guten wirtschaftlichen Konjunktur wurde die Erfüllung solcher Forderungen nach Rechten und Freiheiten schnell damit verwechselt, über einen eigenen Markt zu verfügen.

Der wirtschaftliche Wohlstand kam der Mittel- und Oberklasse in den Jahren 1991 bis 1995 zugute, als die neoliberale Utopie, von der Ersten Welt durch den IWF finanziert, sich zu erfüllen schien und Argentinien der Welt als das liberale Wunder vorgeführt wurde. In diesem Frühling des globalen Kapitalismus, in dem es einige sogar wagten, sich die Möglichkeit eines multikulturellen Staates vorzustellen, der seine Minderheiten respektiert, brachen die Transvestiten in die argentinische Homosexuellenszene ein. Als die Akzeptanz der Homosexuellen in Teilen der Massenmedien stieg und sich auch in einer liberaleren Politik des Staates gegenüber Schwulen und Lesben zeigte, wurden die Transvestiten zur Zielscheibe der polizeilichen und institutionellen Repression. Denn sie waren und sind von extremer Armut und gesellschaftlichem Ausschluss betroffen.

»Wir sind die zivilen Opfer«, fasst Lohana Berkins zusammen. »Wenn wir unsere Identität im Alter von ungefähr zwölf Jahren definieren, werden wir zuhause rausgeworfen, ebenso aus der Schule und aus allen Institutionen. Der einzige Ausweg ist die Prostitution. In Argentinien und in Lateinamerika bedeutet der Transvestismus dasselbe wie das Schwarzsein früher. Als Schwarzer wahrgenommen zu werden, bedeutete, für einen Sklaven gehalten zu werden, und als Transvestit wahrgenommen zu werden, bedeutet, als Prostituierte angesehen zu werden.«

»Erst die Transvestiten haben das Thema der Klasse aufgebracht«, so präzisiert es Flavio Rapisardi. »Zum Beispiel war die Politik der Cha bezüglich des HIV-Virus kaum an den Staat gewandt. Die ersten Kongresse der Cha verhandelten gesellschaftliche Probleme, verstanden sie aber als kulturelle Diskriminierung. Die Transvestiten dagegen kamen und sagten: 'Ich will, dass der Staat mir Arbeit gibt, Gesundheit, Wohnraum, Medikamente.' Das war eine frühe und grundsätzliche Absage an den Neoliberalismus.«

Die Ablehnung des Neoliberalismus ist eine Gemeinsamkeit der Aktivisten der GLTTB und der traditionellen Linken, die beide Gruppierungen dazu zwingt, ihre schlechte Beziehung zu überdenken. Die Frage ist, ob sich in all den Jahren etwas verändert hat. Rapisardi sagt: »Die Einbeziehung von Themen der GLTTB ist für die traditionelle Linke ein Akt des guten Willens. Sie nimmt diese Forderung als partikular wahr, und es erscheint ihr lediglich ratsam, sie zu akzeptieren.«

Auch Lohana spricht über die Schwierigkeiten im Umgang miteinander: »Als ich anfing, bei der Vereinigten Linken zu arbeiten, bestand meine erste Aufgabe darin, nicht mit aufs Foto zu kommen. Weil viele der Meinung waren, es genüge, einen Transvestiten dazuzunehmen und ein Foto zu machen.« Und indem sie die Heuchelei der politischen Korrektheit zurückweist, beharrt sie auf dem subversiven Potenzial ihrer Rolle. »Ich will nicht, dass meine Differenz normalisiert wird. Ich will nicht, dass man zu mir sagt: 'Ah, gut, sie ist Transvestit, also lassen wir sie eine Frau sein.'«

Diese Haltung spiegelt sich auch in der Arbeit Lohanas im Stadtparlament wider. »Ich will keine neuen Gesetze, ich denke eher daran, bestehende Gesetze, die uns kriminalisieren, abzuschaffen. Die Gefahr eines Gesetzes besteht immer darin, dass es dich staatlicher Normalisierung unterwirft. Wir glauben nicht an eine Versöhnung, wir glauben eher an den Wert der Differenz.« Das sehen auch die Aktivisten von Convocatoria so, die für das Recht eintreten, sich nicht zu definieren.

Lohana misstraut auch der akademischen Queer-Theorie.Dabei ist ihr das Milieu nicht fremd. »Ich lese, gehe auf viele Kongresse, höre die TheoretikerInnen und AktivistInnen. Aber immer habe ich den Eindruck, dass deren Theorien am Ende auf der Frage der Genitalien und der Begierde gründen. Männer, die andere Männer begehren, Frauen, die andere Frauen begehren.« Das komme auch einer Normalisierung der Identität gleich.

»Wir dagegen definieren uns durch unseren Körper und nicht durch unser Begehren. Deswegen ist es schwierig, uns irgendeiner Seite zuzuordnen. Ich will nicht ein Mann oder eine Frau sein, die einen anderen Mann oder eine andere Frau begehrt. Ich kann alles sein, was ich will. Ich kann lesbisch, bisexuell, heterosexuell sein. Ich bin Transvestit. Und auf diesen Kongressen fühle ich mich wie ein kleines Boot mitten im Meer; ab und zu erkenne ich mich wieder, und es zieht mich ans Ufer. Aber sofort wirft mich etwas, was gesagt wird, wieder auf die hohe See hinaus.«

Trotzdem sind diese neuen AktivistInnen der Überzeugung, dass sie ihre Anliegen nur innerhalb der Linken artikulieren können. Rapisardi glaubt fest daran, dass es eine Linke gibt, in der diese Debatte geführt werden kann. »In einer Versammlung der MTL - eine Piquetero-Organisation - sagte ein Frau aus einem Slum: 'Ich verlange die Schaffung einer Frauenkommission, weil es nicht sein kann, dass eine delegierte Frau nicht zu einem Treffen kommen kann, weil ihr Mann sie nicht lässt.' Die Abstimmung wurde nur knapp mit 35 gegen 32 Stimmen gewonnen. Und man muss dazu anmerken, dass es sich dabei um eine Versammlung von Delegierten aus 60 besetzten Häusern handelte. In den Achtzigern wäre sie verloren worden. Ich glaube, die Jüngeren sind eher empfänglich für das neue Denken, in der Tat wurde die Abstimmung durch sie gewonnen.«

Auch Lohana zeichnet ein Bild der Krise, das nicht mehr furchterregend und lähmend ist: »Mir erscheint die Krise als positiv. Wenn es nach mir ginge, sollte sie sich ruhig verschärfen, damit es alle Leute merken und auf die Straßen gehen.«

Übersetzung: Timo Berger