Das Ende des Ramadam

Die Tage des Mehlbreis

Am Ende des Ramadan füllen sich in Tanger die Wartezimmer der Ärzte und die Bars.

In den letzen vier Wochen gab es in der Innenstadt von Tanger täglich am Spätnachmittag ein Verkehrschaos. Die Polizisten, sonst in ihren weißen Plastikwintermänteln stoisch und kompromisslos, waren restlos überfordert. Sie standen zwar an jeder größeren Kreuzung, aber ihren Anweisungen folgte kaum jemand. Ob Autofahrer oder Fußgänger, jeder machte, was er wollte, und jeder versuchte, schneller zu sein als der andere. Klar, es gab unschöne Reibereien, böse Worte und viele Kratzer im Autolack.

Ähnlich chaotisch ging es wohl in allen anderen arabischen Städten zu. Der Magen diktierte den Leuten das Tempo, die seit der Morgendämmerung nichts mehr gegessen, nicht mal einen Schluck Wasser getrunken hatten. Es war schließlich Ramadan, der heilige Fastenmonat des Islam, in dem jeder Moslem 29 bzw. 30 Tage (Mondkalender) lang tagsüber nichts zu sich nehmen darf. Deshalb raste kurz vor Sonnenuntergang rund eine Milliarde Moslems in der ganzen Welt mit leerem Bauch nach Hause an den gedeckten Tisch.

In Tanger markiert ein Kanonenschuss den offiziellen Zeitpunkt des Sonnenuntergangs und gibt das Startzeichen zum Fastenbrechen. Ein Kanonenschlag, den man in der Stadt gut hören kann, da die Straßen bereits menschenleer sind. Bis auf die wenigen Nachzügler, die mit Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt jagen, sitzt alles bereits um diese Zeit zu Hause am Tisch, schlürft dann Harera, eine Suppe aus Tomaten mit Kichererbsen, Nudeln, Linsen, und isst dazu Datteln und Sbakia, ein süßes Honiggebäck. Draußen lärmen nur noch die Spatzen, die in den Bäumen flattern und sich gegenseitig was vorzwitschern. Ansonsten herrscht Totenstille.

Mit diesem Spuk ist es nun vorbei. Heute werden die Vertreter der obersten religiösen Behörde von Marokko versuchen, die Mondsichel (Hilal, nicht zu verwechseln mit dem Neumond) am Himmel zu orten. Die Mondsichtung, ungefähr 15 Minuten nach Sonnenuntergang, die oft nicht einfach ist, bestimmt das Ende und den Beginn des Fastenmonats. Da das islamische Jahr ein Mondjahr und um rund elf Tage kürzer als das Sonnenjahr ist, kann der Ramadan in allen Jahreszeiten liegen.

Im Ramadan ist das gesellschaftliche Leben vollkommen anders organisiert. Alle Geschäfte, Büros, öffentlichen Ämter, Apotheken und Arztpraxen öffnen ein, zwei Stunden später als sonst. Um 16 Uhr ist alles wieder dicht, die Rolläden werden heruntergelassen. Restaurants und Cafés sind tagsüber ganz geschlossen, sie öffnen erst gegen sieben Uhr abends. Bars und Geschäfte, in denen man Alkohol kaufen kann, schließen normalerweise drei Tage vor und öffnen erst wieder drei Tage nach dem Ramadan. Für Europäer, die einen Kaffee oder ein Bier trinken wollen, gibt es ein Café, das tagsüber geöffnet ist, und zwei Bars im Zentrum, die Alkohol ausschenken. Für Marokkaner ist jeglicher Verzehr von Lebensmitteln und auch das Rauchen von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang verboten. Der Genuss von Alkohol sowieso, 30 Tage nonstop. Wer erwischt wird, dem droht eine Gefängnisstrafe.

Der Schriftsteller Mohammed Choukri (»Das nackte Brot«) saß deshalb schon einmal im Knast. Jetzt bleibt er während des Ramadan zu Hause, verlässt kaum seine Wohnung. Er ist nicht der Einzige, der gegen das Fastenverbot verstößt. Wer Geld hat, kann sich sogar ein Appartement mieten, Köchin inklusive, wo er in der Fastenzeit tun und lassen kann, was er will.

Kamal, ein 40jähriger Anwalt aus Tanger, der unter Hassan II. wegen politischer Aktivitäten einige Male im Knast landete, hält auch nichts von religiösen Vorschriften. Mittags geht er nach Hause zum Essen und auch tagsüber kehrt er in die eigenen vier Wände zurück, um eine Zigarette zu rauchen oder einen Kaffee zu trinken. »Ich bin schließlich Atheist. Ich mache mir aus Religionen nichts. Ich halte sie für eines der Grundübel der Menschheit. So etwas wie die Fastenzeit dient doch nur der sozialen Kontrolle der Gesellschaft.«

Früher sei das in Marokko anders gewesen, meint er. »In den achtziger Jahren machte kaum jemand an der Universität Ramadan. Essen, Trinken, Rauchen waren das Normale. Wer fastete, fiel auf und war ein Außenseiter. Damals waren die Sozialisten und Kommunisten noch stärker. Heute dominieren mehr und mehr islamistische Strömungen.« Früher habe man an den Sozialismus als Möglichkeit geglaubt, die Unterdrückung zu überwinden, sagt er etwas wehmütig. Heutzutage werde der Islam immer mehr als Befreiungsideologie verstanden. »Das ist das große Dilemma. Der Islam als Ideologie, nicht als Religion. Ich finde das furchtbar.« Kamal hat wenigstens eine eigene Wohnung, wo er unbeobachtet ist. »Würde ich noch zu Hause bei den Elteren wohnen oder wäre verheiratet und hätte Kinder, ginge das nicht, untertags rauchen, essen, trinken. Das gäbe riesige Probleme.«

Am Abend, gegen acht Uhr, drängen die Menschen mit vollem Magen wieder auf die Straßen. Sie gehen spazieren, meistens auf dem Boulevard Pasteur, der großen Flaniermeile von Tanger, die sich vom Zentrum der Neustadt bis an die Strandpromenade hinunterzieht. Die Geschäfte sind wieder offen und quillen über vor neugierigen Kunden. Einkaufen kann man bis weit nach Mitternacht.

Im Laufe des Ramadans verschiebt sich das normale Tagesgeschehen immer mehr in die Nacht hinein. Nach dem Fastenbrechen, etwa um halb sechs, gibt es gegen 23 Uhr ein ausgiebiges Abendessen. Sehr oft auch noch ein zweites um ein Uhr morgens. Das Frühstück dann um vier Uhr, kurz bevor die Kanone wieder donnert und den Beginn des neuen Fastentages signalisiert. In den ersten Tagen des Ramadan gehen die Menschen noch relativ früh schlafen, stellen sich den Wecker für das Frühstück und das frühmorgendliche Gebet. Nach ein, zwei Wochen legen sich besonders junge Leute kaum mehr ins Bett. Sie bleiben auf, treffen Freunde, sitzen mit der Familie oder versacken vor dem Fernseher. Nebenbei wird fleißig gegessen oder genascht. Sie gehen um fünf, sechs oder sieben ins Bett und verschlafen so die Fastenzeit. Rechtzeitig zur Suppe, gegen halb sechs, sind sie wieder auf dem Damm.

»Für die marokkanische Wirtschaft«, sagt Hicham (28), ein arbeitsloser Biochemiker und Ökonom, dessen Vater Imam ist, »hat der Ramadan eine große sozioökonomische Bedeutung. Es wird viel mehr als normal konsumiert. Die Marokkaner geben sehr viel Geld für den Ramadan aus. Besonders fürs Essen, das ist klar«, sagt er schmunzelnd. »Alles ist auch teurer im Ramadan. Besonders z.B. Tomaten, die man für die Harerea, (die Suppe, die täglich zum Fastenbrechen gegessen wird) braucht, kosten dann das Doppelte, neun oder zehn Dirham pro Kilo. Religion ist natürlich auch wichtig, ohne Zweifel.« Aber in erster Linie sei Ramadan ein Familienfest mit gutem Essen. »Ich bedaure das«, fügt er mit lakonischem Unterton an.

Tatsächlich kann vom Fasten im Ramadan keine Rede sein. Es wird zwar im Laufe des Tages nichts gegessen, um so mehr jedoch abends und in der Nacht. Und dann möglichst nur das Feinste vom Feinsten. Viel Fleisch, viel Fisch und viel süßes Gebäck. Gutes Essen während des Ramadan ist nicht nur hier in Marokko ein Statussymbol. Deshalb ist der Ramadan so kostspielig. Fleisch und Fisch sind in Marokko im Vergleich zum Gemüse sehr teuer. Viele Familien sind deshalb knapp bei Kasse, weil alles in den Kochtopf wandert.

Natürlich gibt es auch Ausnahmen wie Neschma (23), die als Sekretärin arbeitet und sich abends auf ein Glas Milch, ein paar Datteln und etwas Brot beschränkt. Sie hält sich an das Beispiel »ihres« Propheten Mohammed, der zum Fastenbrechen nur ein paar Datteln und ein paar Schluck Wasser zu sich genommen haben soll, bevor es ab in die Moschee zum Beten ging. »Ich finde diese Vielesserei nicht gut. Das hat mit unserer Religion nichts zu tun. Fasten heißt wenig essen und nicht mehr. Für mich ist ein Kaffee im Ramadan schon etwas Besonderes.«

Hassan (36), der Geschäftsführer des kleinen Bakal (Lebensmittelgeschäft) bei mir um die Ecke, gibt unumwunden zu, dass fast jeder während des Ramadan ein paar Kilo zunimmt. Schmunzelnd schlägt er sich dabei ein paar Mal auf den Bauch. »Bei mir ist das natürlich nicht anders. Umgekehrt wäre es natürlich besser«, meint er breit grinsend. »Aber dann wäre das Geschäft lange nicht so gut«, fügt er plötzlich wieder mit ernster Miene hinzu.

Nicht nur für ihn ist der Ramadan ein gutes Geschäft. Sämtliche Firmen, von Maroc Telecom bis Danone, haben ihre speziellen Ramadan-Angebote. Im marokkanischen Fernsehen laufen Ramadan-Werbespots. Die Printmedien haben Ramadan-Beilagen, in denen für Supermärkte, Elektrogeschäfte usw. geworben wird. Das funktioniert wie in Deutschland mit den Weihnachtsangeboten von Aldi oder Karstadt.

Die Ernährungsgewohnheiten im Ramadan sind sehr ungesund, gibt Dr. Mohammed Diaaz (52), ein Allgemeinmediziner in Tanger, ohne Umschweife zu. »Wer den ganzen Tag nichts isst und trinkt, sich dann abends vollstopft, überlastet den Organismus, was auf Dauer zu Schäden führen kann.« Je länger der Ramadan dauert, desto voller sind die Wartezimmer der Ärzte. »Patienten mit Magenproblemen, Herz- und Kreislaufbeschwerden, hohen Zucker- und Fettwerten sind die Regel«, erläutert Dr. Diaaz. »Viele akute Fälle, wie Magenbeschwerden oder Übelkeit, landen oft nicht beim Hausarzt. Sie werden in der Notabteilung des Krankenhauses behandelt.«

Fasten muss während des Ramadan jeder. Ausgenommen sind Kranke, Reisende, alte Menschen, Kinder und Frauen während der Menstruation oder der Schwangerschaft. Verzichtet werden muss untertags nicht nur aufs Essen und Trinken, sondern auch auf jede Form von Sexualität. Ein Kuss zur Begrüßung ist erlaubt, aber keine Zärtlichkeiten, die Leidenschaft hervorrufen könnten.

Obendrein ist jede verbale Entgleisung und jede physische Aggression untersagt. Karim (24), ein Student des Goethe-Zentrums in Tanger, mit dem ich jeden Samstag in einer Fußballmannschaft spiele, ist ganz bestürzt, als auf dem Platz nebenan einige Spieler zu streiten beginnen und sich gegenseitig laut beschimpfen. So etwas dürfe man im Ramadan ganz und gar nicht tun. »Ich höre schlechte Wörter«, sagt er in seinem Anfängerdeutsch. »Diese sind verboten. Man muss versuchen, ruhig zu bleiben, tolerant und freundlich. Diese Menschen wissen nicht, was Ramadan ist.«

Ich sage zu ihm, das sei wohl ein generelles Problem. »Die wenigsten halten sich doch hundertprozentig an die Vorschriften. Das ist doch wohl ganz menschlich?« Etwas indigniert bringt er ein zögerliches »Ja« heraus. »Aber man soll es doch zumindest versuchen. Ramadan ist ein heiliger Monat. Der Monat, in dem Allah dem Propheten die 114 Suren des Korans gab. Ein Monat der Disziplin, in dem man mit sich selbst, mit der Welt und Gott ins Reine kommt.«

Später erklärt er mir dann noch, was jeder mir über den Ramadan, oft auch ganz unaufgefordert, erzählt. »Fasten ist sehr gesund. Man muss eben richtig fasten. Jeder soll nachempfinden, wie es armen Menschen geht, die nichts zu essen haben und hungern.«

Karim, der hofft, bald in Deutschland Informatik studieren zu können, nimmt die ganze Sache mit der Religion, mit seinem Gott, wie jeder Moslem immer betont, sehr ernst. Er gehört zu dieser neuen Generation von Jugendlichen, die ihre Identität aus der Religion beziehen. Ein traditionelles Glaubenssystem, das sich gegen die westliche Stigmatisierung »Mensch zweiter Klasse, Dritte Welt, Marokko« zu behaupten versucht. Karim ist stolz, ein Moslem zu sein und zur großen Gemeinschaft der Glaubensbrüder in aller Welt zu gehören.

Er ist gleichzeitig sichtlich betrübt, weil er weiß, dass die Wirklichkeit ganz anders aussieht. Mehr Einheit und weniger Widersprüche wären ihm offensichtlich lieber. Besonders im heiligen Ramadan, der nicht nur hier in Marokko so etwas wie Weihnachten in Deutschland ist, mit dem Unterschied natürlich, dass er einen ganzen Monat dauert. Viele wissen nicht so recht, warum, wieso, aber die meisten machen einfach mit. Sinnentleerte Rituale, würde ein Ethnologe das wohl nennen.

Besonders irritierend findet Karim die vielen Interpretationen des Islam, ganz abgesehen von den nationalen Unterschieden. »So viele Leute machen aus meiner Religion ihre persönliche und auch ihre ideologische Geschichte. Allen voran der Westen, der überhaupt keine Ahnung hat«, meint Karim verbittert und spricht damit aus, was wohl fast jeder Marokkaner denkt. »Manchmal lachen wir uns kaputt, wenn wir im Goethe-Institut deutsches Fernsehen gucken. Alles über Islam oder Palästina ist pure Manipulation. Es ist schon komisch«, erklärt er weiter, »wir hier in der Dritten Welt sind besser informiert als die Deutschen.«

Er meint damit in erster Linie den TV-Sender Al-Jazeera, der fast in jedem marokkanischen Café zu sehen ist. Er liefert Bilder, die im Westen nie gezeigt werden und die dort auch kein Mensch sehen will. Geschockt waren Karim und seine Klasse, als sie die Nachrichten über einen Selbstmordattentäter der Hamas sahen, der sich und die Insassen eines Busses in Jerusalem in die Luft gejagt hatte. Die Mädchen waren den Tränen nahe. »Wie kann man das tun? Mitten im Ramadan und so viele Kinder?« sagte Lubna, ein 18jähriges Mädchen, das kurz vor ihrem Abitur steht. »Der Selbstmordattentäter kommt nicht in den Himmel oder ins Paradies«, fügt eine andere Studentin hinzu, »sondern direkt in die Hölle.« »Im Ramadan«, erklärt Youness (23), Student der Informatik, führt man keinen Krieg und tötet niemanden. Schon gar nicht Kinder oder Frauen, die wie alte Menschen nie Opfer sein dürfen. »Das kann jeder im Koran nachlesen.«

Die Verhaltensregeln im Ramadan sind genau festgelegt. Nicht nur wer zu fasten hat, wann und wie, sondern auch, was zu tun ist im Falle von Verfehlungen, absichtlichen wie unabsichtlichen. Wer sich absichtlich erbricht, muss einen Tag nachfasten, wer unabsichtlich zu früh zu essen beginnt, ebenso. Eine unabsichtliche Ejakulation hat keine Auswirkungen, eine absichtliche, auch durch Masturbation, dagegen schon. Nachfasten ist auch in diesem Fall angesagt.

Nach dem Aid Es-Seghir, wie das Ende der Fastenzeit heißt, sind alle Cafés, Restaurants und Bars wieder geöffnet. Für ein, zwei Tage spürt man noch eine ausgelassene Stimmung. Besonders in den Bars der Stadt, wo die Kellner froh sind, endlich wieder Geld zu verdienen. Die Stammgäste nehmen wieder ihre Plätze ein, als wäre nichts gewesen, und geben sich mit den anderen Gästen ein paar Tage lang den Rest, bis sie ihren Nachholbedarf gestillt haben. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit. Mit Bier und Wein, alles aus marokkanischer Produktion.