Legostein in der Lagune

Schon im zweiten Golfkrieg kam dem US-Marinestützpunkt Diego Garcia eine entscheidende strategische Bedeutung zu. von alfred hackensberger

Am 2. März könnte es so weit sein. Dann ist im Irak der Mond bis 4 Uhr morgens nicht zu sehen. Ein schwarzer Nachthimmel, für die US-Streitkräfte optimale Kampfbedingungen. Besonders für die Luftwaffe, die ihren Angriff auf den Irak in absoluter Dunkelheit starten möchte. Innerhalb von 48 Stunden werden dann rund 3 000 Cruise Missiles vom Boden, von Schiffen und Flugzeugen auf den Irak abgeschossen. Vorrangige Ziele sind Kommando- und Kontrollzentren, Radar- und Kommunikationseinrichtungen, vermeintliche Produktionsstätten von chemischen und biologischen Waffen, Scud-Stellungen, die Republikanische Garde und Einrichtungen der regierenden Baathpartei.

Zum Raketenbeschuss kommen die Angriffe von B-52, B-1 und B-2 Bombern, von F-14, F-18 Kampfflugzeugen sowie des unbemannten Predators, der im Jemen vor einigen Monaten ein Auto mit mutmaßlichen Al-Qaida-Leuten in die Luft jagte. Nicht zu vergessen natürlich die neue Mikrowellenwaffe, die mit elektromagnetischen Impulsen die Elektronik des Gegners in Bunkern, Häusern und Fahrzeugen lahm legen kann. Die »ultra-wideband (UWB) e-bomb« wurde zwar noch nie erprobt, soll aber, wie es immer so zynisch heißt, »geringe Kollateralschäden verursachen«. Da ihr Einsatz jedoch auch für eigenes militärisches Gerät gefährlich werden könnte, verschickt man sie auf einer »wide range cruise missile«. Eine dafür prädestinierte Abschussbasis ist der US-Marinestützpunkt Diego Garcia, eine rund 3 000 Meilen vom Irak entfernt gelegene Insel mitten im Indischen Ozean.

Diego Garcia? Kaum einem wird dieser Name etwas sagen. Auch dann nicht, wenn man erfährt, dass diese Insel, sieben Grad südlich des Äquators und 1 200 Meilen nordöstlich von Mauritius, zum Chago-Archipel mit 65 weiteren Inseln gehört. Dabei spielt dieses kleine, ringförmige Koralleninsel eine entscheidende strategische Rolle für die gesamte Golfregion. Diego Garcia ist der einzige US- Marinestützpunkt, von dem aus die Angriffe während der Operation »Desert Storm« durchgeführt wurden. Im Golfkrieg diente die Insel als wichtige Auftankstation. Normalerweise mussten die B-52-Bomber, laut US-Luftwaffe mit einer Reichweite von 8 800 Meilen, von ihrer Basis in Barksdale, Louisiana, einen 35stündigen Nonstopp-Flug in den Irak und wieder zurück in die USA hinlegen. Mit einem Zwischenstopp auf Diego Garcia sparte man sich rund 4 000 Meilen oder neun Flugstunden. Aber auch im Oktober und November letzten Jahres starteten von hier aus B-1 und B-52 Bomber, um Afghanistan zu bombardieren. 1998 schoss man gut 100 Cruise Missiles in Richtung Irak ab. Und schon zur Zeit des Kalten Krieges diente diese abgelegene Insel als Horch- und Beobachtungsposten, um ein Auge auf die Sowjetunion zu werfen.

Die Küstenlinie von Diego Garcia, das aus der Luft wie ein Miniaturafrika aussieht, ist rund 40 Meilen lang und umschließt eine 6,5 und 13 Meilen große Lagune, die nach Nordwesten geöffnet ist. Vorgelagert sind drei kleine Inseln, die wie Fußstapfen wirken. Die Amerikaner nennen sie »Footprints of Freedoom«. Aber mit Freiheit hat das, was von dieser Insel ausgeht, nun wirklich nichts zu tun. Gerade heute, im Falle eines Angriffs auf den Irak, ist Diego Garcia mit seiner rund 3 200 Mann starken Belegschaft ein logistisch und strategisch wichtiger Stützpunkt. Nicht nur für den Abschuss der neuen Mikrowellenbomben, sondern auch für herkömmliche Cruise Missiles und die US-Bomberstaffeln. Wie damals bei »Desert Storm«, als ein Strategic Air Command Bombardment Wing eingerichtet worden war, das Personal des Stützpunkts verdoppelt wurde und das Frachtaufkommen im Vergleich zu »Friedenszeiten« um 2 000 Prozent stieg. Von und über Diego Garcia wird auch der Nachschub für einen Feldzug mitorganisiert, bei dem es nicht schnell genug gehen kann. Spätestens Anfang April soll er schon wieder zu Ende sein. In dieser Zeit steigen die Temperaturen in der Wüste auf 40 Grad, was dem Menschen und seiner Maschine erhebliche Probleme bereitet. Die Soldaten müssen ein ums andere Mal in ihre Schutzanzüge hüpfen, in denen sie sich bei 40 Grad wie in einer Sauna fühlen dürften; die Hubschrauber fliegen nicht so effizient in dünner heißer Luft; und mehr Wasser wird natürlich auch verbraucht, das für 250 000 Leute erst einmal herangekarrt werden muss.

Für das US-Militär ist Diego Garcia ein Idealfall. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Kuwait, Bahrein, Jordanien oder der Türkei ist man auf der Insel völlig unter sich. Es muss niemand um Nutzungsrechte, um Fluggenehmigungen gebeten werden, keine andere Regierung kann Auflagen stellen. Zudem besteht keine Gefahr, dass die Bevölkerung vor den Kasernentoren protestiert, Soldaten und Zivilangestellte der US-Armee angriffen oder sogar getötet werden, wie zuletzt zweimal in Kuwait und mehrfach in Afghanistan. Auf Diego Garcia, mitten im Indischen Ozean, Tausende Meilen ab vom Schuss, fern jeglicher Öffentlichkeit, kann das US-Militär tun und lassen, was es will. Militärisches Sperrgebiet im Niemandsland. Außer den Bediensteten der US-Regierung darf niemand die tropische Insel betreten. Andere Bewohner des Atolls gibt es nicht mehr.

Die Wohnbevölkerung von Diego Garcia und der anderen 65 Inseln des Chagos-Archipels hatte man in der Zeit von 1965 bis 1973 kurzerhand deportiert oder sie einfach nach Reisen nicht mehr auf die Inseln zurückgelassen. Nach dem CIA World Factbook existieren offiziell »keine indigenen Einwohner« dieser Insel, die bereits Anfang des 15. Jahrhunderts von einem portugiesischen Schiff entdeckt und sehr wahrscheinlich nach seinem Kapitän oder dem Steuermann, benannt wurde. »Es gab 1 200 Landarbeiter«, heißt es im Factbook, »die man als Chagossianer oder Ilois bezeichnete, und zwischen 1967 und 1973, hauptsächlich nach Mauritius, aber auch nach den Seychellen umsiedelte, zu der Zeit, als die US-Militäranlagen gebaut wurden.«

Tatsächlich waren es nicht nur »1 200 Landarbeiter«, sondern rund 3 000 Einwohner, die auf diesem idyllischen Atoll und den dazugehörigen Inseln lebten. Nachfahren französischer Kolonisten und ihrer Sklaven aus Moçambique, Madagaskar und Senegal. Diese Sklaven waren es, die nach dem Abzug der Franzosen im Zuge der Napoleonischen Kriege (1814) die Kokosnussplantagen und die dazugehörige Ölproduktion übernahmen. Die Kokosnussplantagen blieben über 170 Jahre der Haupterwerbszweig der Insel. Rund vier Millionen Nüsse jährlich, aus denen Schmiermittel und Öl für Lampen produziert wurden. Die Plantagenzeit endete mit der Ankunft der Amerikaner.

In einer Studie von Shirley DeWolf, »People of the Chagos Islands Claim their Right to Go Home« heißt es: »Seit der Ankunft der ersten Siedler um 1760 entwickelten fünf Generationen von Chagos-Bewohnern ein gemeinsames Erbe, Kultur, Sprache, Geschichte und eine eigene Identität. Sie wurden die indigene Bevölkerung der Chagos-Inseln.«

Bis November 1965 gehörte das Chagos-Archipel zu Mauritius und wurde von einem britischen Gouverneur verwaltet. Bei den damals beginnenden Gesprächen über die Modalitäten der Unabhängigkeit Mauritius’ schloss Großbritannien die Chagos-Inseln aus und gab ihnen kurzerhand einen neuen Namen: »British Indian Ocean Territory« (Biot). Zu diesem Territorium annektierte man noch drei weitere Inseln, die eigentlich zu den Seychellen gehörten. Am 12. März 1968 wurde Mauritius schließlich unabhängig. Ohne die Chagos-Inseln, versteht sich. Die Uno verurteilte dies, Mauritius protestierte vehement, aber ohne Erfolg, und ließ sich dann mit drei Millionen britischen Pfund abfinden. Großbritannien wusste genau, was es tat. Es hatte die Chagos-Inseln bereits drei Jahre zuvor in einem Geheimabkommen für die nächsten 50 Jahre an die USA verpachtet, die mit Diego Garcia »eine strategische Verteidigungslücke schließen wollten«, schrieb der britische Guardian. »Damals hatten sie zwischen dem Mittelmeer und den Philippinen keinen Stützpunkt«. Als Gegenleistung bekam Großbritannien von den Amerikanern einen Rabatt von elf Millionen Dollar auf Polaris, ein damals neues nukleares Waffensystem. Der Pachtvertrag endet 2016 und kann um weitere 20 Jahre verlängert werden. Diese Option werden die USA sicher wahrnehmen, haben sie doch alleine im Jahr 1986 rund 500 Millionen Dollar zum Ausbau dieses Stützpunktes investiert.

Über die neuen »Besitzverhältnisse« wurden die Einwohner der Chagos-Inseln weder befragt noch informiert. Man stellte sie vor vollendete Tatsachen, deren bittere Konsequenzen sie im Lauf der Zeit noch »erfahren« mussten. »Es war normal«, erzählt Fernand Mandarim, ein ehemaliger Bewohner von Diego Garcia in der Studie von Shirley Wolf, »dass man manchmal mit dem Schiff nach Mauritius fuhr, um einzukaufen oder zum Arzt zu gehen. Als ich mit meiner Frau, 1966, nach einem dieser Ausflüge, von Mauritius wieder nach Hause wollte, hieß es, dass das Schiff keine Passagiere mehr befördere. Wir warteten auf das nächste und übernächste. Es kamen mehr und mehr Chagossianer an, aber niemand konnte mehr zurück.« So erging es vielen, die ihre Insel für einen Kurzbesuch verließen. Die auf den Inseln verbliebenen Bewohner wurden bis 1973 sukzessive nach Mauritius und den Seychellen verschifft. Sie durften nur den persönlichen Besitz mitnehmen, der in eine kleine Tasche passte. »Einige versuchten«, so berichtet Shirley Wolf in ihrem Buch, »die Geburts- und Sterberegister der Inselbevölkerung mitzunehmen. Aber diese wurden konfisziert. Während der Überfahrt begingen einige Chagossianer Selbstmord. Familien wurden getrennt nach Mauritius und den Seychellen gebracht.«

Obwohl die Bevölkerung systematisch umgesiedelt wurde, »gab es keinerlei Hilfestellung bei der Wiedereinbürgerung noch einen Plan zur Integration in das ungewohnte urbane Leben auf Mauritius« (Shirley Wolf).

Die Neuankömmlinge werden als Fremde auf Mauritius nicht akzeptiert und landeten auf der untersten sozialen Stufe. Auch heute noch sind rund 40 Prozent arbeitslos, und die meisten leben im Elendsviertel zwischen den Docks und dem Friedhof von Port Louis, der Hauptstadt von Mauritius. 1978, zwölf Jahre nach den ersten Deportationen, zahlte die britische Regierung 650 000 Pfund an Mauritius als Hilfe für die Umsiedlung der Chagossianer. »Die Entschädigung wurde in Form von kleinen Grundstücken geleistet, die viele sofort wieder verkaufen mussten, um die Schulden zu bezahlen, die sich über ein Jahrzehnt angehäuft hatten. Als Gegenleistung für die Entschädigung musste jeder Begünstigte ein Dokument unterschreiben, in dem sie/er auf das Recht der Rückkehr zu den Chagos-Inseln verzichteten«, so Shirley Wolf.

Heute umfasst die Zahl der Chagossianer auf Mauritius und den Seychellen rund 5 000 Menschen, wovon nur noch rund 500 ehemalige Bewohner der Inseln sind. Viele Möglichkeiten haben sie nicht, Mauritius zu verlassen. Sie besitzen einen Pass des British Indian Ocean Territory, der mehr oder weniger nutzlos ist, da Großbritannien ihnen die britische Staatsbürgerschaft verweigert und ein Visum verlangt. Die Chagossianer wollen am liebsten zurückkehren, auch wenn sie ihre alte Heimat nur vom Hörensagen kennen. »Wir gehören nicht hierher«, sagt ein junger Chagossianer, der auf Mauritius geboren ist. »Wir wollen alle nach Hause. Wir sind eine matriarchalische Gesellschaft mit unserer eigenen Kultur und Identität. Das System von Mauritius ist nicht bei unserer Integration förderlich. Ich sehe viele soziale Probleme, die in unserer Gesellschaft Fuß fassen. Weil wir uns nicht integrieren können, gibt es Probleme wie Alkoholismus und Gewalt, Zeichen des Zusammenbruchs traditioneller Werte. Wir wollen unser Recht auf Heimat und unsere Freiheit«, heißt es bei Shirley Wolf.

Nationale Anklänge, die man allerorten von Minoritäten hört, die lange Zeit exiliert oder unterdrückt wurden. Indigener Stolz als identitätsstiftende Maßnahme.

Große Hoffnungen weckte ausgerechnet der britische High Court in London. Am 3. November 2000 bestätigte er nach einer Klage von Olivier Blancourt, 38, dem Vorsitzenden der Chagos Refugee Group, die unrechtmäßige Deportation der Chagossianer. »Nach Einsicht der unter Verschluss gehaltenen Akten wird deutlich, dass bei den getroffenen Maßnahmen die normalen Grenzen überschritten wurden. (…) Man kann nicht ersehen, dass die Umsiedlung Menschen aus einem Land, zu dem sie gehören, ein Beitrag zum Frieden des Territoriums, zu Recht und Ordnung und zu einer guten Regierung beiträgt.« Letztlich war das aber nur eine halbherzige Entscheidung, da gleichzeitig auch der besondere militärische Status Diego Garcias anerkannt wurde. Die Implikation, dass die Menschen von Chagos wieder auf ihre Inseln zurückkehren könnten, erwies sich als Trugschluss. Auch zu den von Diego Garcia weiter entfernten Inseln erlauben die Amerikaner keinerlei Zugang. Aber zumindest erlaubte das British Foreign Office Olivier Blancout als Vorbereitung zum Gerichtsverfahren, sein »Heimatland« zu besuchen. Ihm und seiner elfköpfigen Familie war es wie so vielen anderen ergangen. Sie hatten 1968 seine kleine Schwester zum Arzt nach Mauritius gebracht. Nachdem sie dort gestorben war, wollte die Familie wieder zurück, »aber uns wurde erklärt, das ginge nicht mehr, weil das Land den Amerikanern für eine US Militärbasis gegeben wurde«. Jetzt konnte Blancout endlich »Blumen auf die Gräber seiner Großeltern legen«. Was er sonst noch vorfand, war nicht viel: baufällige Häuser, zerstörte Infrastrukturen, überwuchert von 30 Jahren tropischem Pflanzenwachstum.

Man kann verstehen, dass die Leute von Chagos auch nach 30 Jahren erzwungenem Exil, wieder zurück auf ihr idyllisches Atoll wollen: in ihre Häuser, zu den Kokosplantagen, zu ihrer Lagune, zu einem selbstbestimmteren Leben, fernab des urbanen Zivilisationsstresses. Doch dieser Traum liegt nach wie vor in weiter Ferne. Gerade jetzt, wo die Amerikaner in der Golfregion begonnen haben, unliebsame Regierungen zu beseitigen und für sie dabei Diego Garcia ein strategisch wichtiger »Legostein« ist. Mindestens für die nächsten 33 Jahre, so lange läuft offiziell noch der Pachtvertrag, müssen die Chagossianer mit ihren Elendsquartieren auf Mauritius noch vorlieb nehmen. Dagegen lebt das amerikanische Militär sehr gemütlich auf seiner Trauminsel. Es gibt u.a. einen Golfplatz mit neun Löchern, ein Bowling Center, Kino, Open-Air-Disco, ein Cybercafé. Und wer sich beim Schwimmen, Schnorcheln oder Surfen im Meer (»the most beautiful ocean waters in the world«) nicht der Gefahr von Haien aussetzen will, der springt einfach in den »Olympic-sized swimming pool«. So steht es jedenfalls auf der Website der US-Navy zu Diego Garcia. Derartig »relaxed« können die Soldaten bestimmt besser ihrer großen militärischen Pflicht zur Verteidigung der freien Welt nachkommen.

Wer oder was sind da schon ein paar Chagossianer? Schließlich müssen die Soldaten einen Krieg führen. Das ist doch etwas ganz anderes.

Diego Garcia. Das Südseearchipel hat sich für die USA bereits im Golfkrieg und im Afghanistankrieg als nützlich erwiesen. Auch im Irakkrieg würde dem Marinestützpunkt eine strategisch wichtige Bedeutung zukommen.