Im Khat-Krankenhaus

Der Bürgerkrieg in Somalia hat das Land und seine Menschen in eine Depression gestürzt. Aber manchmal äußert sich die Verzweiflung auch im Grinsen eines Psychiaters. von peter böhm

Ich hatte zwei Fragen, die am besten ein Psychotherapeut oder ein Psychiater beantworten konnte, und da war es nahe liegend, ins staatliche Krankenhaus in Hargeisa zu gehen und nach der psychiatrischen Abteilung zu fragen. Es liegt an der Ausfallstraße zur äthiopischen Grenze, und von außen konnte man nicht darauf schließen, wie ärmlich die medizinische Versorgung darin war. Die meisten Gebäude waren einstöckige, lang gezogene Baracken in einer Anlage mit Bäumen und Sträuchern. Es herrschte viel Betrieb. Überall gingen oder standen Leute, die so aussahen, als würden sie Patienten besuchen. Ich wurde in ein Büro geschickt, in dem eine Sekretärin gerade ihre morgendliche Schreibarbeit erledigte. Sie bot mir einen Stuhl an und bat mich, auf Dr. Mohamed Abdurrahman, den Chef der psychiatrischen Abteilung, zu warten.

Ich dachte mir, es hat sicher mit dem Bürgerkrieg zu tun, dass sich so viele Leute in Somalia für verrückt halten, und ich wollte wissen, welchen Einfluss die Droge Khat auf die Psyche hat. Mir war klar, dass er beträchtlich sein musste. Denn der Bürgermeister von Burao hatte mir schon im Winter 1998 in grellen Farben geschildert, was passiert, wenn ein paar Tage lang kein Khat-Flugzeug in seine Stadt kommt. Burao liegt etwas abseits der gängigen Straßen und Flugrouten. Die Männer treten aus ihren Häusern, berichtete er, und sie fangen an zu diskutieren, was zu tun sei. Fast zwangsläufig kommt es zum Streit an solchen Tagen, und ohne Verletzte geht es nur in den selteneren Fällen ab. Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Würde es sonst, wenn in den anderen Städten die Khat-Ladung angekommen ist, ein solches Tohuwabohu geben? Und jeder, der schon einmal in Somalia war, weiß, dass der Khat auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Bürgerkrieg hatte. Es gibt eigentlich keinen Milizionär, der nicht kaut.

Dr. Mohamed war ein Mann in den frühen Vierzigern, mit kurz geschnittenem Haar und einer beginnenden Glatze. Er trug Jeans und T-Shirt, aber keinen weißen Arztkittel. Er begrüßte mich sehr freundlich, fast überschwänglich und führte mich in das Büro des Chefarztes. Meine Frage, welche Folgen der Bürgerkrieg auf seine Arbeit hat, schien ihn zu belustigen. Er lachte. »Die Kinder haben Alpträume, zwanghaft wiederkehrende Erinnerungen. Der Bürgerkrieg ist eine niederschmetternde Erfahrung. Die Leute werden gewalttätig, haben schwere Depressionen. Jeder hat irgendwelche Folgewirkungen. Viele Leute sind noch immer im Krieg. Sie laufen mit einem Besenstiel in der Stadt herum und schießen auf jeden, der ihnen über den Weg läuft.« Dr. Mohamed sprach, als zählte er die Zutaten für ein leckeres Gericht auf. Er schien die Frage für unnötig, die Antwort für selbstverständlich zu halten. Als ob man danach überhaupt fragen müsste! Schnell war er mit seinen Gedanken schon wieder woanders und fragte mich, aus welchem Land ich stamme.

Dr. Mohamed übertrieb nicht. Psychische Störungen wegen des Bürgerkrieges sind in Somaliland sehr weit verbreitet. Das konnte Dr. Hussein Bulhan bestätigen. Er wurde in den Vereinigten Staaten als Psychiater ausgebildet, hat dort unterrichtet, praktiziert jedoch seit einigen Jahren in Hargeisa. Eigentlich jede Großfamilie in Somaliland hat einen solchen Fall zu beklagen, sagte er mir. In vielen Häusern müssten gewalttätige Patienten an Fensterkreuzen und Möbeln angebunden werden, um sich selbst und ihre Familien zu schützen.

Dr. Mohamed hatte inzwischen hinter dem großen Schreibtisch an der Stirnseite des Büros Platz genommen. An der Wand hinter ihm hing ein großes Porträt des somaliländischen Präsidenten. Daneben das Poster eines dieser bei den Somalis beliebten, realistisch gemalten Bilder. Zwei Säuglinge waren darauf zu sehen. Einer streckte dem Betrachter proper und gut gelaunt eine Injektionsspritze entgegen. Als Dr. Mohamed gerufen wurde, musste er noch mehr Leuten Bescheid gesagt haben. Denn nach und nach kamen nun mehr Ärzte und Krankenhausangestellte in das Büro. Nach zehn Minuten waren der Konferenztisch und die abgenutzten Sofas an den Wänden fast vollständig besetzt. »Hier ist jemand, der etwas über die Folgen des Bürgerkrieges wissen will«, rief Dr. Mohamed lachend in die Runde – als sei es besonders witzig, dass sich jemand für seine Arbeit interessiert – und forderte seine Kollegen auf, von ihren Erlebnissen zu berichten. Dr. Omar aus der chirurgischen Abteilung erzählte vom 31. Mai 1988, einem Tag der schweren Bombardierung von Burao. Dr. Mohamed probierte währenddessen in dem durch Jalousien abgedunkelten Büro seine Sonnenbrille aus. »Die Artillerie beschoss die Stadt von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Ich arbeitete in einem Feldlazarett der Rebellen, draußen im Busch. Es gab zwei Fliegerangriffe auf die Stadt.« Der eine Bügel der Brille war offensichtlich abgebrochen. Er fiel herunter. Dr. Mohamed schielte zur Freude seiner Kollegen durch die schief sitzende Brille. »Bei einem wurde meine 16jährige Schwester getötet«, fuhr Dr. Omar fort. »Sie wurde unter den Trümmern einer Hütte in unserem Hof begraben. Dort liegt sie noch immer.«

Offensichtlich war damit zum Thema der Kriegsfolgen alles gesagt, denn Dr. Mohamed erklärte nun der Runde, dass ich ein Journalist aus Deutschland sei und dass ich noch mehr Fragen hätte. Also fragte ich, welche Folgen der Khat-Genuss auf die Psyche hat. Das Thema schien viel mehr Spaß zu machen. Jeder wollte nun mitreden, weil fast alle kauten, und wenn einer der Ärzte eine der Folgen erwähnte, dann sagte jemand sofort unter den Lachern aller: »Ja, das kenne ich!« Sie nannten folgende Wirkungen: Euphorie, kein Appetit, keine Müdigkeit, Schüttelfrost, sexuelle Erregung, aber keine Potenz, Selbstüberschätzung, Schlafstörungen, akustische Halluzinationen, Alpträume und Depressionen. Es sei nicht selten, dass starker Khat-Genuss auch Psychosen auslöse, sagte Dr. Mohamed und brach in ein wieherndes Lachen aus: »Es gibt viele Leute in Hargeisa, bei denen das einfach nur nicht diagnostiziert wurde.«

Nuredin hatte mir auf der Fahrt zum östlichsten Punkt vom »Somalischen Film« erzählt, vom unter jungen Männern in Bosasso weit verbreiteten Verfolgungswahn. Also fragte ich die Runde, ob die Ärzte diesen Begriff auch kannten. Sie kannten ihn nicht. Aber nach meiner Erklärung, was damit gemeint ist, sagte Dr. Mohamed, das Phänomen sei in Hargeisa unter dem Namen »Bah« bekannt. Wie? »Bah, Bah, Bah!«, antwortete er in seiner ungeduldigen Art. »Das Wort für Plastiktüte. Wegen des raschelnden Geräuschs, das sie macht und das man hinter sich zu hören glaubt.« Und einer der Verwaltungsangestellten platzte zur großen Heiterkeit der Runde heraus: »Das hatte ich gestern erst, als ich abends nach Hause ging, dass ich glaubte, es verfolgt mich jemand, es ist jemand hinter mir her.«

Zwar hatte ich in Nairobi, wo man die Zweige billig kaufen kann, schon einmal Khat gekaut. Nicht oft jedoch und auch nur wenig jeweils. Aber nun wollte ich darüber schreiben und hatte mir deshalb vorgenommen, die Droge noch einmal zusammen mit somalischen Vielkauern zu probieren. Ich hatte gehofft, dafür eine Gruppe von Milizionären zu finden. Aber als ich nun in dem Büro saß, war mir klar, dass ich dafür keine besseren Leute finden konnte als diese Ärzte. Dr. Mohamed schien sich zu freuen. Er versprach, eine Runde zu organisieren. Dann lud er mich noch ein, die psychiatrische Abteilung anzuschauen.

Wir gingen in die Männerabteilung. Sie war durch eine Mauer vom restlichen Krankenhaus getrennt. Die zwei Gebäude jedoch sahen ebenso flach und leicht gebaut aus wie die anderen des Hospitals. Im Hof war eine Art Pavillon, ein auf Metallsäulen errichtetes Dach. Auf dem Betonboden lagen einige Patienten auf dünnen Bastmatten, und zwei hatten Matratzen. Ihre Füße waren mit Ketten an den Säulen festgemacht. Ein Patient schlurfte in sich zusammengesunken über den Hof. Seine Kette und das dazugehörige Vorhängeschloss zog er am Fuß hinter sich her. Unter dem Vordach der zwei Gebäude waren noch mehr Patienten an Gitterfenstern angekettet. Auch in diesen Räumen sah man den nackten Estrich und ein paar Matratzen. Viele Patienten standen an den Fenstern, hielten sich mit ihren Händen an den Gittern fest und stierten mit leerem Blick in die Unendlichkeit. Ihre Ketten glänzten im morgendlichen Sonnenlicht. Sie sahen neu aus, so wie man sie in Deutschland in einem Eisenwarenladen kaufen würde, um seine Gartentür oder sein Fahrrad abzuschließen. Dr. Mohamed hatte seine gute Laune nicht verloren. Er führte mich herum und stellte mich den Pflegern und Patienten vor. Inzwischen hatte er eine verwaschen blaue Baseballmütze mit der Aufschrift »Bulls« – nicht »Chicago Bulls« – aufgesetzt und eine dieser naturfarbenen Ledertaschen über die Schulter gehängt, wie man sie in Deutschland in den Siebzigern trug. Als ich nach den Ketten fragte, sagte er, für gewalttätige Patienten seien sie einfach notwendig. Oft würden die von der Polizei gebracht, manchmal aber auch von Angehörigen, die sich nicht mehr zu helfen wissen. Viel konnte Dr. Mohamed seinen Patienten nicht bieten. Vor kurzem hatte eine Hilfsorganisation ein bisschen Haldol gespendet, ein auch in Europa gängiges Medikament. Aber ansonsten müssen die Verwandten die Arznei selbst mitbringen. Im Moment habe er insgesamt gut 100 Patienten in seiner Abteilung, sagte Dr. Mohamed, legte seinen Kopf in den Nacken und lachte, dass man seine großen Zähne sah: »Aber draußen gibt es noch Tausende mehr.«

Am nächsten Morgen bin ich noch einmal ins Krankenhaus gegangen, um zu fragen, ob der Termin für die Khat-Runde schon feststeht. Aus Zufall traf ich Dr. Mohamed gleich draußen auf dem Gelände. Er trug wieder dieselben Sachen, Jeans, T-Shirt, seine »Bulls«-Mütze, die ins Orange spielende Ledertasche und die zerbrochene Brille auf der Nase. Er sprudelte wieder vor guter Laune und lachte wieder ein bisschen zu überdreht. Ich könnte kein Detail nennen, das mir besonders auffiel. Es muss der Gesamteindruck gewesen sein, das Bizarre, das von ihm ausging, das ausschlaggebend war. Denn plötzlich erinnerte er mich an eines dieser Originale, wie man sie manchmal durch deutsche Kleinstädte ziehen sieht, oder wie sie in Zeitungsredaktionen auftauchen, mit Ordnern, in denen sie einem detailgetreu die große CIA-Verschwörung nachweisen können. Am Anfang erscheint noch alles leicht und klar – bis einen das große Befremden beschleicht. Vieles irritierte mich an Dr. Mohamed, sein ausgeprägter Zynismus, und dass er kein Mitleid für seine Patienten zu empfinden schien. In diesem Moment konnte ich den Gedanken nicht loswerden, dass er nicht der Leiter der psychiatrischen Abteilung, sondern einer ihrer Patienten war.

Natürlich war die Vorstellung abgeschmackt. Aber sie hätte einiges erklärt. Vielleicht hatte Dr. Mohamed ja in der Abteilung gehört, dass ein Journalist gekommen ist, um mit dem Chefarzt zu sprechen, und hatte sich einfach für ihn ausgegeben. Möglich war das. Patienten in der Psychiatrie sind ja oft sehr intelligent. Vielleicht hatten die Ärzte aus den anderen Abteilungen die Komödie mitgespielt. Das hätte die Ausgelassenheit der Runde erklärt. Nach all dem, was ich in Somalia erlebt hatte, war ich einfach nicht sicher, ob die Krankenhausangestellten das nicht für einen ganz besonders gelungenen Scherz hielten. Oder waren sie vielleicht selbst Patienten, die bei dem Streich mitgespielt hatten? Und die Pfleger in der psychiatrischen Abteilung waren vielleicht gar keine Pfleger! In diesem Moment war ich völlig unsicher, was ich denken sollte, und ich beschloss, mit Dr. Mohamed auf jeden Fall auf der Hut zu sein, um mich nicht zum Gespött des gesamten Krankenhauses zu machen.

Er führte mich wieder zielstrebig in die psychiatrische Abteilung und begrüßte die Pfleger. Gestern hatte einer der Patienten, als er uns sah, die Hacken zusammengeschlagen, und mehr gestammelt als geredet, er habe in Kuwait gedient. Dr. Mohamed forderte ihn mit einem Grinsen in meine Richtung auf: »Aber sagen Sie doch, unter wem?« »Unter General Colin Powell«, sagte der alte Mann schüchtern. Er hatte wieder Haltung angenommen. Und dann zu mir gewendet: »Den kennen Sie doch, oder?« Und auch noch ein weiterer Patient behauptete, er habe im Golfkrieg gekämpft. »Es gibt viele somalische Söldner«, sagte Dr. Mohamed, wohl weil er meine Zweifel bemerkte. Und dann gingen wir hinaus, und ich fragte ihn, ob er die Zustände in seiner Abteilung nicht schlimm finde. Natürlich ist die Behandlung in vielen öffentlichen Krankenhäusern in Afrika nicht besonders gut. Das Geld ist überall knapp, und dass Patienten auf dem Boden liegen oder zwei in einem Bett, kommt schon einmal vor. Aber die neuen, glänzenden Ketten, mit denen die Patienten in seiner Abteilung gefesselt waren, hatten mich schockiert, und ich wollte ein Wort des Mitleids von ihm hören. Aber er sagte ohne erkennbare Gefühlsregung: »Es ist wie in jeder Abteilung des Krankenhauses. Wenn sie operiert werden wollen, müssen sie einen Angehörigen mitbringen, der ihnen Blut spendet.« Und als wir vor das Haupttor des Krankenhauses traten, stand da ein alter Mann mit verschlissenen Kleidern und struppigen grauen Haaren. Dr. Mohamed begrüßte ihn und sagte zu mir auf Englisch, aber so, dass es der Mann hören musste: »Wir gingen früher zusammen in die Schule. Aber dann hatte er ein kleines psychisches Problem.« Dann kriegte Dr. Mohamed sich wieder fast nicht ein, fügte aber schließlich versöhnlich hinzu: »Aber jetzt arbeitet er im Krankenhaus.«

Also gut. Inzwischen war geklärt, dass Dr. Mohamed kein Patient sein konnte. Zwei Tage lang hätte er die Komödie nicht spielen können. Aber gestern hatte ich nicht gewusst, was er damit meinte: »Aber jetzt arbeitet er im Krankenhaus.« Stimmte das? Die Kleidung des alten Mannes sah nicht danach aus. Oder war er vielleicht einer von Dr. Mohameds Patienten, und der hatte nur wieder einen seiner Witze gemacht? Wenn ja – das wusste ich jetzt zumindest –, dann ging mir Dr. Mohameds Humor etwas zu weit.