Die Kunst der Rezeption

Zwischen 1980 und 1987 entstand das gattungsübergreifende Gesamtwerk der Tödlichen Doris, zu dem auch Super-8-Filme gehören. dietrich kuhlbrodt über die ästhetische Strategie der Gruppe aus Berlin

Hallo, Wolfgang, war das nicht vor exakt zwanzig Jahren bei Heidi und Peter, im Merve Verlag in der Crellestraße? Die Geburtsstunde unserer Freundschaft? War es nicht die Release-Party deines Buches, der »Genialen Dilletanten« gewesen? Ich war solo hingegangen, ganz erfüllt, dass ich für die Merve-Zeitschrift Solo was geschrieben hatte. Und sehr gefestigt fühlte ich mich, dass bei Merve das damals noch Neue und Unheimliche, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari, das »Rhizom« also, in der Reihe »Internationale marxistische Diskussion« erschienen war. Und dann fand ich dich in einem Hinterraum der Dilletanten-Party solo auf einem Sofa sitzen, nein attraktiv gelagert, du hast mich angelächelt, und so beginnt eine Liebesgeschichte. Es war also anders, aber ich habe auf deinem Sofa Platz genommen, und du hast mir alles über die Tödliche Doris erzählt. Ich war überhaupt nicht mehr gefestigt. Das war etwas Neues und nicht geprintet. Und als ich etwas mehr von der tödlichen Doris mitbekommen hatte, rief ich den Feuilletonpapst der Frankfurter Rundschau an, den Herrn Schütte, und irgendwie muss ich den tödlichen Virus durchs Telefon weitergegeben haben, denn er fragte mich, wieviel Spalten ich brauche. Die hab ich dann gefüllt.

Beim »etwas mehr«, das ich von der Tödlichen Doris mitbekommen hatte, handelt es sich um das Material für die Nachkriegszeit. Wolfgang Müller zeigte es mir in seiner Wohnung in der Willibald-Alexis-Straße, zwischen Südstern und dem Flughafen Tempelhof. Das Material lag in Kästchen, beschriftet, auch in Klarsichthüllen, geheftet. Wolfgang Müller zeigte mir die Fotomatonbilder so liebevoll und vorsichtig, wie man sein Baby präsentiert. Die Leute, die neben dem Auto ihre Aufnahme zerrissen, zerknüllt oder weggeworfen hatten, waren ihm unbekannt. Doch kamen sie jetzt näher. Was verbargen sich für Geschichten hinter dem Bild? Warum war es weggeworfen worden? Was war daran falsch gewesen? Wie hätte das Bild, das einer von sich macht, richtig aussehen sollen? – Ich war beeindruckt. Ich hatte mehr als Exponate gesehen: eine Sammlung von Schicksalen? Ich war ergriffen.

Aber ich war weder im Kino gewesen, noch hatte ich einen Film gesehen, in Wolfgang Müllers Wohnung. Doch den Film gab’s schon, datiert auf 1979/80: »Material für die Nachkriegszeit (dramatisierte u. gekürzte Fassung)«. Ich glaube, es ist der erste Film der Tödlichen Doris überhaupt. Als ich ihn dann sah, sehr bald, war er für mich ein Dokumentarfilm: die Dokumentation einer Sammlung, die Dokumentation der Präsentation von Exponaten.

Eigentlich hatte ich etwas über neue Entdeckungen im Genre des experimentellen Films oder des Avantgardefilms schreiben wollen. Aber jetzt, nein damals begann mit dem »Material für die Nachkriegszeit« das Schubladensystem des Filmkritikers zu klemmen.

Höchste Zeit, etwas zu einem Tödliche-Doris-Phänomen zu sagen: der Suggestion und Aufforderung, selbst etwas mit dem Material anzufangen, das gezeigt wird. Klar, Martin Schmitz hat in seinem Verlag dankenswerter Weise sortiert und für die Nachwelt erhalten: »Die Tödliche Doris – Kunst«. Und jetzt »Die Tödliche Doris – Kino«. Und daneben die Printveröffentlichungen sowieso. Aber damit ist die Rezeption nicht zu Ende.

Es gibt offensichtlich Bedarf, das Sortierte wieder zu mischen, sich selbst einzubringen und den Gesamtkomplex Tödliche Doris mit eigenem Leben zu erfüllen. Weil die Tödliche Doris das weiß, hat sie die Teile ihres Kino, durch den Film »Die Gesamtheit allen Lebens und alles Darüberhinausgehende« sowohl getrennt als auch, vertrauend auf die Mitarbeit des Zuschauers, zusammengefügt, und der, der darüber spricht, braucht nicht auf Wahrnehmungswissenschaften zu rekurrieren. Er kann auf die Gesamtheit allen Lebens und alles Darüberhinausgehende verweisen.

Doris hatte im Mai 1985 den Raum 376/77 des Künstlerhauses Bethanien bezogen. Käthe, Nikolaus und Wolfgang malten dort die 44 Gemälde der Serie »Was neben der Gesamtheit allen Lebens und allem Darüberhinausgehenden noch geschah«. Hierfür steckte Doris zum allererstenmal Keilrahmen zusammen und bespannte sie mit preisgünstig auf dem Markt am Maybachufer erworbenen Nessel. Im Fachbereich 4 der Hochschule der Künste war sowas nicht zu lernen. Die Vorgeschichte zum Kino heute steht im Band »Die Tödliche Doris – Kunst«:

»Vielleicht klingt es unglaubwürdig oder mindestens etwas kokett, aber Keilrahmen waren zu dieser Zeit wirklich absurde und absonderliche Instrumente für uns. Genau wie Schlagzeug und Gitarre einige Jahre vorher, als wir den Entschluss fassten, eine Musikgruppe oder besser: eine Rockband zu gründen. Andererseits ist der Keilrahmen immer noch der normalste und naheliegendste Träger für ein Bildwerk oder Gemälde. So wie wir als Musikgruppe immer mehr Interesse an den gemeinen Rockmusikinstrumenten hatten – die Grundbesetzung bestand aus Bassgitarre, Schlagzeug und Gesang –, so setzte sich diese Normalität hier fort.

Einwände, dass der Gebrauch von Lack- oder Anstreichfarben Assoziationen in Richtung Arbeiter, Anstreicher oder Anti-Kunst wecken würde, verwarfen wir nach einer kleinen Bedenkpause. Auf die Grundierung aufgetragen, so ergaben die Vorversuche, sieht Lackfarbe gar nicht nach Fensterrahmen oder bemaltem Beistelltisch aus. Man macht sich einfach keine allzu großen Gedanken.«

Ich darf hier festhalten und insistieren: Doris sucht und findet schöpferische Nähe zum Rezipienten, indem sie sich als jemand gibt, der grade auch zum erstenmal den Akt gewagt hat. Die Debütantin spricht mit einem, der auch erst den Anfang macht – oder machen könnte. Zweitens ist es beruhigend zu wissen, dass der Akt normal ist. Und drittens braucht man nicht ans Über-Ich oder den Dogmatiker über uns zu denken; der leidigen Interpretationszwänge sind wir ledig; wir sind ganz unter uns, eine Gemeinschaft normaler Leute, nackt und unschuldig. 1987 spielen Nikolaus Utermöhlen und Wolfgang Müller nackt auf einer Bühne. In Warschau. Titel: »Auf dem Lande«.

Wenn Sie wüssten, was diese praktizierte Idylle für Schreiber wie Leser der Frankfurter Rundschau bedeutete, denen die Gewissheit antrainiert worden war: »Der Mensch ist ein Problem. Und wir müssen eine Lösung dafür finden«!

Statt sich mit Gewissheiten zu blockieren, hatten Doris’ Freunde was zu tun, nämlich sich zu vergewissern, was an ihrer Lokalität für Akte passierten, dann Doris zu kopieren, was nur logisch wäre, wenn ich Produzentin und Rezipientin auf ein und dasselbe Sofa setze, was ich freilich hier nicht meine, sondern den Fotokopierapparat in Doris’ Büro. Käthe Kruse erzählt vom Kunstkongress 88 in Hamburg:

»Ich habe unsere Aktenordner mitgenommen, wo die ganzen Rohentwürfe, Texte, Fotosammlungen von unseren Reisen, Partituren, Beschwerdebriefe, Ab- und Zusagen, Reste, Plakate – eigentlich alles, was es aus den sieben Jahren Tödliche Doris gibt – zusammengetragen sind. Angefangen habe ich natürlich mit dem Häuschen, eine zwei mal zwei Meter große Pappbude, aber nicht schäbig, eher etwas rustikal gebaut. Das Kopiergerät nahm viel Platz ein. Es wurde kopiert, es gab Gespräche, die ganz tolle Konzerte waren.« Und eine Säzzerbemerkung, weil Käthes Text 1988 in der taz gestanden hatte: »Mann, ist das ein tiefgründiger Dialog.«

Ja, das Gespräch war ein Konzert und kein Diskurs. Das ist es: Gebärde, Geste und Daheimsein. Wir lüften das Geheimnis von Doris’ Rezeption: Menschen wenden sich an Menschen, die sich von Hemmungen, wie sie die Studienräte der Frankfurter Rundschau oder der Hamburger Avantgardekünstler antrainiert hatten, befreit haben. Doris’ Humanität ist ihre Normalität. Fotokopieren muss man schon selbst, es ist vorbei damit, sich passiv zu verhalten und die Formeln von Avantgardelehrern aufzuschreiben. Wer produktiv rezipieren will, braucht dann irgendwann Käthes oder Doris’ Präsenz nicht mehr.

Wer hört, der produziert und ist sein eigener Chef; er ist dann auch Musiker, Doris gleich und bleibt Subjekt; wer hört, wechselt Tätigkeiten; auch Doris bleibt nicht beim Fach, sie bewirbt sich um einen Sitz im Berliner Senat, Wolfgang Müller zeichnet 1988 mit der Berufsangabe Weinhändler. Wer zu Doris aufs Sofa kommt, dem teilt es sich mit, wie wahr sie ist, je mehr sie gottweißwo debütiert. Die Wahrheit dieser Wahrnehmung findet sich darin, dass Doris in sich ihren festen Ort hat. Doris gibt durch ihre schiere Gegenwart ohne jeden Diskursaufwand die hilfreiche Antwort auf jene, die gern in andere Zeiten gucken und uns besorgt und betroffen machen wollen, weil überall Böses dräut.

Drum flink das Furcht einflößende Vokabular umgedreht: Doris hilft uns zu entglobalisieren, zu reterritorialisieren, zu entkontextualsieren sowie bitte das Fokussieren zu unterlassen und weiter nichts zu tun, als sich eine Fotokopie zu holen und sich nochmal aufs Sofa zu setzen. Doris’ Werte: die Gesamtheit ihres Lebens und alles Darüberhinausgehenden nebst allem, was bei Doris’ Rezipienten noch geschah.

Doris ist an einem Ort. Wo ich hinkommen möchte. Wo ich hinkommen möchte ist, Doris’ Lokalität als eine zu beschreiben, die mehr oder minder öffentlich ist. Das Lokal mag sonstwas sein: der Delphi-Palast 1983/84, die Insel Helgoland, eine Kunsthochschule, eine Weinhandlung, eine Galerie in der Manteuffelstraße, welche als Eisenbahnstraße rezipiert wird; auf dem Lande, welches in der Metropole Warschau gefunden wird; die documenta, ein Nest wo-auch-immer, egal, es ist der Platz der Fans oder der Kumpel oder der Zuschauer. Die Lokalität gehört denen, die da hinkommen.

Wir beschreiben momentan den Weg zu Doris’ Rezeption, also zu Doris’ Lokalitäten, wobei Doris selbstredend nicht geht, sondern schon da ist, denn die Tödliche Doris, und das ist ihre ästhetische Strategie, ist immer da, wo du sie nicht erwartest.

Besorgt wird heute Ausschau nach den Werten gehalten. Wo sind sie? Wer achtet sie? Und keiner guckt nach bei Heidi & Peter auf dem Sofa, im Kumpelnest unter die Kellerluke, im Sofortbild-Automaten hinter den Vorhang: dort ist sie zu finden, die Wahrheit der Normalität, die GNL, die Gemeinschaft Normaler Leute, die Doris 1982 sorgsam fotografisch dokumentiert hatte.

Doris ist keine Boy Group. Mir geht es nicht um die Objekte der Tödlichen Doris, auch nicht um ihre Auftritte, sondern um die Praktiken, deren sich ihre Fans bedienen, um sich autonom und kreativ das anzueignen, was ihnen in der jeweiligen Lokalität gefällt. Meine Lecture hat Doris’ Rezipienten zum Gegenstand, nicht unbedingt Doris’ Kunst. Und damit sind wir bei dem Punkt, den ich umständlich ansteuern wollte. Damit seine Besonderheit ersichtlich wird. Doris’ Besonderheit. Ich kann sehr wohl unbedingt über Doris’ Kunst reden, weil ihre Kunst die der Rezeption ist. Die Praktiken, sich etwas anzueignen: sie macht sie uns vor: Vorbild, Ermunterung und Ermutigung in einem. Wobei Aneignungsgut vorzugsweise dem Bereich von Kunst & Kultur entnommen wird, aber auch dem der Wirtschaft und des Weinhandels.

Was uns den Weg weist und was wir brauchen und gebrauchen, sind Gebrauchsanweisungen. Doris’ Kunst ist zu gebrauchen.

Die Gebrauchsanweisungen sind von Doris selbst ausprobiert; sie funktionieren; sie sind Kunst; man braucht sie nur zu befolgen; Künstler sein und Dilettant dazu. Doris hat zum Nutzen aller Leser des handlichen Buchs »Die Tödliche Doris Bd. 1« über die Praxis Auskunft gegeben, mit deren Hilfe man sich das Know How zur Produktion eines vermarktbaren Audiotapes aneignet. Es geht um »Chöre & Soli Live im Delphi-Palast«, vor allem aber um die Herstellung hierzu unerlässlicher sowie bestickter Kopfkissen:

»Nun hieß es, ein neues Musikstück zu komponieren. Der Nikolaus hatte dann die entscheidende Idee. Schon seit längerer Zeit experimentierte er mit den Kissen und Bezügen seines Betts und untersuchte dabei die unterschiedlichen Klänge, die beim Singen mit gleichzeitig vor dem Gesicht beziehungsweise Mund gepressten Kissen entstehen.

Natürlich kann man einen solchen Effekt recht unkompliziert mit den Mitteln moderner Studiotechnik erzeugen. Aber das abwechselnde Hineinsingen in Kissen ist ebenfalls sehr unkompliziert. Ein zusätzlicher Vorteil: Bei öffentlichen Auftritten ist es nicht nötig, dem jeweiligen Techniker am Mischpult genaue Anweisungen zu geben, die dann – das geschah erfahrungsgemäß bisweilen – doch nicht ausgeführt oder missverstanden wurden. Wie dem auch sei, ein Kissen ist viel zuverlässiger und praktischer als ein Mensch oder eine Maschine.

Schon schneiderte die Käthe Bezüge für vier Federkissen, die als Stimmenregulator dienen sollten. Wir stellten fest, daß sich auch auf einer Bühne durch diese Anwendung von Kissen eine ganz klare optische und akustische Unterscheidung zwischen gedämpften Chorpassagen und Solis sowie ungedämpften Chor- und Soliteilen für das Publikum ergeben müßte. Ganz wunderbar!

Natürliche hätte niemand ahnen können, dass die erste öffentliche Aufführung des Songs ›Maria …‹ vor einem zum Teil völlig betrunkenen und total undisziplinierten Publikum stattfinden würde. Die sorgfältig aufeinander abgestimmten Gesangspassagen gingen Sylvester 1983/84 im absoluten Gekreische und Getobe unter.«

Man wird nicht umhin können zu bemerken, dass mein Belegstück weniger über Rezeption als über Rezeptionskatastrophen Auskunft gibt. Und ich war dabei. Und wieder eine Rezeptionskatastrophe. Ein öffentliches Attentat auf Doris. Ich war daran insofern beteiligt, als ich zur Produktion einer im übrigen peinlichen NDR-Videonacht hinzugezogen war. Arglos war Doris der Einladung in die Hamburger Messehalle gefolgt. Live. Publikum. Marianne Rosenberg und Marianne Enzensberger sorgten mit ihren hellen grellen Chinesenstimmen für Jubel, dann traten die Drei von der Doris auf die Bühne, und welche Praktik wandte der stadtbekannte Avantgardekünstler und Innovationsrepräsentant, dessen Name mir soeben entfallen ist, an?

Er griff zu einem Trockenfeuerlöscher, der gleich rechts neben der Bühne hing, und sprühte den gesamten Inhalt in die offenen Münder der singenden Doris. Also viele Sekunden lang. Zu Hilfe eilen ging nicht, weil Doris im Chemikalienstaub verschwunden war. Sie war unsichtbar, aber ihre Stimmen, ungrell, unchinesisch, eher staubtrocken, erklangen tapfer, bis die Nebel sich legten.

Was sie gesungen hatten, war der Text gewesen, den die Tödliche Doris zum ersten Maal auf der von Nebel umwallten Insel Helgoland gesungen hatte. Vor zwanzig Jahren also war es, Zitat: »Als wir zurückkamen, war uns alles egal. Wir waren zum ersten mal im Fernsehen.«

Das lässt sich so leicht sagen: Doris befreit von Kontexten und zwanghaften Repräsentationen. In der NDR-Videonacht führte Doris’ menschenfreundliche Befreiungsdarbietung zum dorisverachtenden und menschenfeindlichen Anschlag eines rezeptionsgestörten Avantgardeprotagonisten. Doris’ liebevolle Zuwendung, ihr freundliches Angebot, zur gemeinschaftlichen Normalität von Produzent und Rezipient zu finden, ließ in einem der in Disziplinen denkenden Innovationsfetischisten auf völlig undisziplinierte Weise mörderischen Hass aufflammen.

Die Kehrseite ist, dass ich, wenn ich auch als Beschützer damals versagt habe, Doris noch lieber habe. Langsam wichen die Zwänge, die dem Gemeinschaftswerk von Produktion und Rezeption entgegenstanden. NIE MEHR KONTEXT! NIE MEHR KONTEXT! Einen Vortrag über die Tödliche Doris halten: das Letzte!