Inszenierter Mythos

Die Tour de France und die Medien kommen ohne einander nicht aus. Von Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp

Ihre Dramen haben den größten Thrill, ihre Tragik ist endlos tief und ihre Helden verbreiten den größten Glamour. Sie ist die älteste der großen Rundfahrten, und ihr Name ist ein Begriff, der selbst sportlichen Laien etwas sagt. Wie Wimbledon im Tennis und der Ironman im Triathlon ist die Tour de France der Megamythos ihrer Sportart, eine zentrale Institution, der alles andere nachgeordnet ist.

»Le Tour« lehrt, dass der Rang einer sportlichen Veranstaltung keineswegs ausschließlich von den Leistungen der Athleten abhängt. Sie muss vielmehr Stoff für große, universell verständliche Geschichten bieten, und sie braucht Leute, die diese Geschichten erzählen. Bei der Tour, die von den Redakteuren einer Sportzeitung erfunden wurde, hat dieses Wechselspiel von Beginn an funktioniert. Der Sport garantierte den Wert des Berichts, und der Bericht vervielfachte den Wert des Sports.

Die Tour wurde zum roten Faden der Radsportgeschichte. Der wichtigste Grund für den Erfolg der Veranstaltung liegt in ihrer ständig weiterentwickelten Fähigkeit, die Menschen richtig anzusprechen. Die Rundfahrt war von Beginn an als eine Plattform für das Außergewöhnliche, für das Mystische, für das Legendäre konstruiert worden, und sie fand immer Mittel, diesen Anspruch umzusetzen, selbst wenn er selten so eindeutig formuliert wurde.

Der menschliche Körper und sein Leiden, der Kampf gegen die geografische Natur der Strecke, die geformte und bebaute Landschaft als Abbild kollektiver Geschichte – dies waren und sind die großen Zusammenhänge, aus denen die Tour ihre Identität macht. Es handelt sich hierbei zwar um existenzielle Angelegenheiten, aber die Tour entzieht sie dem Privileg der Philosophen und holt sie auf eine spezielle Art in den Alltag hinein. Wer einem Radprofi beim Erklimmen des Mont Ventoux zusieht, der erhält, zumindest vermeintlich, einen unmittelbaren Eindruck vom körperlichen Leiden und vom Kampf des Menschen gegen die Natur.

Als die Tour de France 1903 erstmals ausgetragen wurde, gab es bereits einige regelmäßig stattfindende große Straßenrennen. Es handelte sich hierbei um Wettkämpfe, die fast durchweg von Berufsfahrern bestritten wurden. Der amateuristische und olympische Gedanke des »Dabeisein ist alles« konnte sich im Radsport nie durchsetzen. Schon sehr früh forcierten die Unternehmen der Radindustrie im Wettbewerb um die Dienste der besten Sportler eine Professionalierung.

Einen weiteren wichtigen Grund für die rasche Durchsetzung des Profitums nennt der Sporthistoriker Rüdiger Rabenstein: »Als die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit bei Radrennen erprobt werden, stellt sich heraus, dass solche physischen Belastungen über Jahre nur von Berufsfahrern erbracht werden können.« Für die Radprofis entwickelte sich die Tour im Laufe der folgenden Jahrzehnte zur wichtigsten Bühne für die eigene Leistungsfähigkeit. Sie funktionierte ein wenig wie eine Börse, die den aktuellen Tauschwert für die Dienste der Profis reguliert.

Ansprechende Leistungen bei der Tour wurden und werden von Geldgebern und Sponsoren sorgfältiger registriert als andere Auftritte, und wer hier über längere Zeit Format zeigt, wird zum Star – fast unwiderruflich. Von den Siegern ganz zu schweigen. Der hohe Stellenwert, den die Rundfahrt für die Radprofis hat, erklärt zweifellos auch jene Schummeleien, Betrugsversuche und Dopingaffären, die zu einem festen Element der Tourgeschichte wurden.

Dass die Tour für fast alle Radprofis zum bedeutendsten Ereignis im Jahreskalender wurde, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Journalisten und ihrer Medien. Die Rennfahrer profitieren von der Arbeit der Berichterstatter, und die Berichterstatter von der Mühe der Profis. Insofern darf man hier getrost davon sprechen, dass Sport und Medien einen Verbund bilden, dessen Partner voneinander abhängig sind. Die Tour wurde von Sportjournalisten initiiert, 100 Jahre lang standen ihr Sportjournalisten als Direktoren vor, und bis heute ist sie stets das Eigentum von Medienunternehmen gewesen.

Die Tour de France bietet, wie andere große Sportereignisse auch, den Journalisten jene Stoffe, die TV-Zuschauer und Zeitungsleser wollen: Spannung, Konflikte und Helden, mit denen man sich identifizieren kann. Dafür bekommt der Sport von den Medien immer mehr Aufmerksamkeit und immer mehr Geld. Zur Jahrtausendwende wurde der Etat der Tour de France bereits zu 30 Prozent aus den Einnahmen für die TV-Übertragungsrechte bestritten. Bei der Verwertung der Rundfahrt vollbringen die Medien eine doppelte Vermittlungsleistung: Sie machen die Tour beim Publikum beliebt, und diese immer neu entfachte Popularität bewegt Sponsoren und Unternehmen dazu, das Ereignis als Werbeplattform zu nutzen.

Bereits in ihren ganz frühen Jahren wurde die Tour de France zu einer Arena für die Fahrradindustrie, die vor dem Siegeszug des Automobils ein bedeutender Wirtschaftszweig war. Siege bei der Tour nutzten dem Ruf der eigenen Marke, und so waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg ganze Werksteams in der Rundfahrt unterwegs. Als der Einfluss der Fahrradindustrie zu groß wurde, führte Tour-Gründer Henri Desgrange im Jahr 1930 Nationalmannschaften ein und animierte gleichzeitig mit großem Erfolg branchenfremde Unternehmen, die bis heute vor dem Peloton fahrende Werbekolonne für einen PR-Auftritt zu nutzen.

In den folgenden Jahrzehnten wuchs der Anteil der Sponsorengelder und Werbeeinnahmen stark an. Der Etat von über 50 Millionen Mark wurde im Jahr 2000 zu 60 Prozent aus solchen Mitteln bestritten. Im Jahr darauf schrieb der Spiegel, das Rennen sei »Frankreichs größte, lauteste und älteste PR-Maschine«. Der Artikel trug die treffende Überschrift: »Das Geschäft mit dem Mythos«.

Die Tour de France wird, wie anderer Spitzensport auch, mit positiv besetzten Werten in Verbindung gebracht. Dazu gehören Leistungswille, Dynamik, Jugendlichkeit, Individualität, Askese, Zielstrebigkeit und Teamwork. Als zu Beginn der neunziger Jahre die deutsche Telekom als Sponsor ins Profigeschäft einstieg, verlautbarte ihr Marketingdirektor, man wolle mit Werten wie »Wettbewerb«, »Innovation« und »Technik« identifiziert werden.

1997 schalteten die Hauptsponsoren der Tour – Coca-Cola, Fiat, die Großbank Crédit Lyonnais und die Supermarktkette Champion – in französischen Zeitungen eine groß aufgemachte Anzeige: »Um Hunderte von Millionen Menschen auf der ganzen Welt ein immer größeres und leidenschaftlicheres Spektakel erleben zu lassen, haben die vier großen Namen, die den Club du Tour de France bilden, ihre Kräfte vereint, damit auch 1997 die schöne Liebesgeschichte weitergeht.« Diese kitschige Beschwörung großer Emotionen macht vollends deutlich, weshalb die werbende Wirtschaft die Ressource Hochleistungssport seit etwa 20 Jahren immer stärker nutzt.

Die Verbindung zwischen den Unternehmen und dem Komplex aus Sport und Medien ist dabei so eng geworden, dass man von einer Schicksalsgemeinschaft sprechen kann. Als im Juli 2002 der Crédit Lyonnais beschloss, ihren Vertrag als Sponsor des Gelben Trikots um sechs Jahre zu verlängern, fügte ihr Kommunikationsdirektor hinzu: »Wir haben nach dem neuen Vertrag das Recht auszusteigen, wenn spektakuläre Dopingfälle passieren, die das Image der Tour beschädigen.« Eine Klausel, die die gegenseitige Abhängigkeit exemplarisch darstellt.

Nicht zufällig wurde die Tour de France in einer Zeit erfunden, in der das Sportpublikum geradezu rekordsüchtig war. Sobald ein sportliches Ereignis den Anschein einer sensationellen, gefährlichen oder gigantischen Herausforderung hatte, war ein Massenpublikum zur Stelle. Ein Beispiel aus dem Radsport sind die populären Steherrennen auf der Bahn, die nach 1890 auf Nonstop-Fahrten von 48 und sogar 72 Stunden Länge ausgedehnt wurden. Eine Rekordsucht, in der sich die Gedankenwelt der rasant expandierenden kapitalistischen Industriegesellschaft sehr hübsch spiegelt.

Nachdem sich die Tour als sportliches Ereignis etabliert hatte, war es bald ihre eigene Tradition, die die Zuschauer an die Strecke, an die Rundfunkempfänger und später vor die TV-Geräte trieb. Niemand wollte die erhabenen Momente verpassen, von denen die Reporter kündeten. »Pathos ist Pflicht bei der Tour de France. Kein anderes Sportereignis lebt von seiner Aura aus Leiden und Legenden wie die dreiwöchige Hatz über Frankreichs Straßen: einsamer Kampf harter Männer gegen Schneestürme, wunde Hintern, bleierne Beine und gegen Sturzwunden, in dem Schweiß und Straßendreck brennen. Le Tour – unbrechenbar wie das Wetter im Himalaya, unheimlich wie die Suche nach Atlantis, unbarmherzig wie eine Expedition zum Pol«, so beschrieb der Spiegel einmal die Attraktivität des Rennens.

Diese Notiz deckt sich mit den Erkenntnissen der Soziologen. Was die Zuschauer zum Hochleistungssport zieht, ist zum einen die Spannung und der ungewisse Ausgang des Wettbewerbs, zum zweiten die Gelegenheit zur Heldenverehrung, die durchaus auch einem Verlierer gelten kann, und zum dritten die Chance, eigene Affekte auszuleben.

Das alles hat die Tour de France im Angebot, und darüber hinaus jenen Kick, den der Sportsoziologe Gunter Gebauer so beschreibt: »Heute will der Zuschauer Leidenschaften aller Art sehen, vor allem den Ausdruck von Freude, das Schauspiel des bewegten Gesichts und die Zelebrierung des Triumphes. Das Innere muss sichtbar gemacht werden.«