Krieg im Reisebus

In Kaschmir herrscht ein leiser Krieg. Eine Fahrt durch eine kriselnde Region. von oliver carlo errichiello

Seit fünfzehn Jahren herrscht Krieg in Kaschmir. Bis in die achtziger Jahre hinein war die Region ein touristisches Zentrum Indiens. Heute wandern auf den ehemals gut besuchten Trekking-Pfaden Bergaffen, Minenleger und Gebirgsjäger.

Und vielleicht auch Ossama bin Laden, sagen Einheimische.

Der Principal Highway zwischen Jammu und Srinagar. 305 Kilometer. 32 Stunden Fahrt von Delhi aus. Die Straße vor uns: zweispurig, aber schmal. Fahrer benötigen eine spezielle »Mountain licence«, um die kurvenreiche, schlecht ausgebaute Strecke befahren zu dürfen. Es ist die einzige Verbindung über Land zwischen der Sommer- und der Winterhauptstadt der indischen Provinz Jammu und Kaschmir. Den »Garten Eden« oder die »Schweiz des Ostens« erblickten die Briten zu Kolonialzeiten in dem Bundesstaat. Vielleicht, weil Kaschmir nie zum Empire gehörte.

Entlang der Straße stehen rau zusammengezimmerte Buswartehäuschen aus kantigem dunkelbraunem Holz und dünnem Wellblech, auf die grünlich gepinselt wurde: »Dedication from the 3rd Army Corps to the people of …« Irgendwann passiert der Bus ein akkurates Patchwork aus Terrassen mit Reispflanzen. Frauen bearbeiten gebückt die triefige Erde. Das hallende Singen der Feldarbeiterinnen übertönt das Geräusch des Dieselmotors.

Im Bus: die völlige Abwesenheit des Westens. Moslemische Kashmiris, keine Hindus, sind die Passagiere. Die wenigen Frauen sitzen gemeinsam vorne. Dösen sie im tranigen Schütteln des Busses, so bedecken sie ihre Gesichter mit luftigen Schleiern. Die Musikanlage berieselt die Insassen mit geistlichen Gesängen, die manchmal kurz aussetzen, wenn der Bus über ein besonders tiefes Schlagloch fährt. Wir halten zum Beten.

Mein Sitznachbar liest den Koran in einer englischen Ausgabe. Irgendwann spricht er mit mir. Ibrahim redet das erste Mal in seinem Leben mit jemandem aus dem Westen. Wir unterhalten uns tastend: über die Temperaturen von 49 Grad, die Delhi mit einem milchigen Smogschleier noch unerträglicher machen. Er fragt mich nach meinen Eltern. Wir lachen über einen nicht funktionierenden Ventilator in unserer Sitzreihe. Schwitzen verbindet.

Wir seien anders als in den Filmen, sagt er nach einigen Stunden und einer geteilten Zigarette. Wie die in den Filmen denn sind, sagt er mir nicht. Er ist ein freundlicher Mensch. Jemand, mit dem man Adressen austauscht, um sich Postkarten zu schicken. Ich frage ihn nach dem Leben in Kaschmir. Er redet nun sehr leise, legt lange Pausen zwischen die Sätze. Ibrahim scheint meine Reaktionen auf seine Worte abwarten zu wollen, bevor er weiterspricht.

Ibrahim ist 29 Jahre alt und von Beruf Informatiker. Er lebt in Delhi, weil es in Kaschmir keine Arbeit gibt. Auch in der Hauptstadt war es schwer genug, ein Unternehmen zu finden, dass ihn einstellte. »Die Inder«, sagt er belustigt, »misstrauen mir.« Man hat ihn gefragt, warum Kaschmiris Hindus umbringen und ob er für Pakistan sei. Er ist dennoch in Delhi geblieben, denn er hat keine Wahl. »Ich will irgendwann einmal heiraten. Dafür brauche ich Geld.« Pause. »Nach allem, was in meiner Heimat geschieht, haben sie jedoch vielleicht irgendwann allen Grund, mir zu misstrauen …« Darf ein Mensch, der mir sympathisch ist, der seine Wasserflasche mit mir teilt, der mir Fotos seiner lächelnden Familie zeigt, der mir einen guten Preis für mein Rastessen aushandelt, darf ein solcher Mensch einen solchen Nebensatz sagen?

Das Erste, was nach dem Passieren der Provinzgrenze auffällt, sind eine Plakatwand mit dem Slogan »Proud to be Indian« und Militärposten am Straßenrand. »Die Fahrwege sind seit einigen Jahren noch schmaler geworden«, sagt Ibrahim. »Egal, wie und wo – alle 300 Meter finden sich mindestens zwei indische Soldaten mit einem Mörser in ihrer Mitte. Manchmal wird einer von einem Laster überfahren.« Unabsichtlich? »Manchmal.« Stille. »Die Soldaten erschießen auf jeden Fall den Fahrer – wenn er nicht rechtzeitig flieht.« Der Highway werde geschlossen, sobald Unruhen sind. »Dann kommt keiner mehr raus.«

Die Natur ist weise. Denn manchmal bietet sie dem Menschen ein sinniges Schauspiel: Bergaffen sind von den umliegenden Höhen zum Highway heruntergekommen und haben zwischen den Militärposten ihre eigenen Stützpunkte errichtet. Sie sitzen da und hoffen auf Nahrungsreste, die ihnen die Fahrer der Autos oder die Soldaten erheitert zuwerfen. In der Nacht fällt es schwer, Mensch und Tier auseinander zu halten.

Für Indien soll Kaschmir mit seiner zu 70 Prozent muslimischen Bevölkerung der vitale Beweis sein, dass sämtliche Gruppen in einem Staate friedlich leben können. Deshalb machte sich der erste Premierminister des unabhängigen Indien, Jawaharlan Nehru, der aus der Kaschmir-Region stammte, vehement für die Eingliederung dieses de facto unabhängigen Staates in die indische Union stark. Kaschmir sollte die lebendige Antithese der Abspaltung sein, die zur Gründung Pakistans führte.

Doch in Kaschmir herrscht Krieg. Ein leiser Krieg. Ein Krieg, den die (selbst ernannte) »bevölkerungsreichste Demokratie der Welt« offiziell nicht kennen will. Für einige Menschen begann dieser Krieg 1983 mit einem Kricketspiel, dem Volkssport der Kaschmiris. Während eines Matches zwischen Indien und den West Indies buht das Publikum im Stadion von Srinagar die indische Mannschaft aus und wedelt mit etwas, was man in indischen Regierungskreisen als pakistanische Flaggen zu erkennen glaubt.

1988 explodiert die erste Bombe. Damit beginnt der bewaffnete Kampf. Zuerst vermutet man die Machenschaft einer radikalen Minderheit. Aber ein freies, ein unabhängiges Kaschmir ist das einzige Gesprächsthema. Aus Worten werden Taten. Bald beginnen Menschen, zu Tausenden zu demonstrieren. Sie ziehen durch die Straßen und vor die Büros der Uno mit einem einzigen Slogan: »Azadi Kaschmir! Freiheit für Kaschmir.« Der alte Konflikt zwischen Pakistan und Indien um Kaschmir wird von dem neu entstehenden um die Unabhängigkeit ergänzt.

Eine Volksabstimmung, bereits 1947 beschlossen, soll den Status von Kaschmir bestimmen. Wissenschaftler und politische Beobachter gehen davon aus, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen nennenswerten Einfluss Pakistans auf die Unabhängigkeitsbewegung gab. Stattdessen handelt die indische Regierung: Auf friedliche Demonstranten wird geschossen. Menschen sterben. Die Bezirksregierung wird aufgelöst und unter direkte Kontrolle eines eingesetzten Bezirksgouverneurs gestellt.

Die Jungen gingen. Den gefährlichen Weg über die Berge in die Trainingscamps im pakistanisch besetzten Teil Kaschmirs. In den Teil, der sich selbst »Azad Kaschmir« (freies Kaschmir) nennt und doch nur ein politisches Anhängsel Pakistans ist. Viele kamen bei der gefährlichen Wanderung um. Andere bei Gefechten mit den indischen Soldaten. Statt der Gruppen, die bisher den Freiheitskampf für ein unabhängiges, säkulares Kaschmir geführt hatten, übernahmen zunehmend pro-pakistanische Gruppen die Widerstandsbewegung, die ihre radikalen islamistischen Ansichten in eine Region implementieren wollten, in die der Glaube durch Mission und nicht durch das Schwert gelangt war.

Der Widerstand verkam mehr und mehr zu einem politischen Mittel Pakistans, seinem Erzrivalen Indien tausend blutige Wunden zu versetzen. Und so wurde der Konflikt tatsächlich zu dem, was die Welt bereits zu Beginn darunter verstehen wollte: ein simpler Grenzkonflikt zwischen Pakistan und Indien. Während die indische Seite die Aufstände in Kaschmir als pakistanische Umsturzversuche sieht, sind sie für Pakistan ein Jihad. Ein Krieg für den Glauben und gegen ein Land, welches die Glaubensbrüder quält. Auf der Strecke blieben die Kaschmiris und mit ihnen eine Wahrheit, die sich darauf beschränkt, das ganze Elend eines aussichtslosen Waffengangs zu benennen.

Hätte ich auf den Taxifahrer in Delhi hören sollen? Auf meine Bemerkung, dass mich meine Reise bis nach Kaschmir führen werde, stoppte er unvermittelt, drehte sich hektisch um und sagte ernst: »Don’t go! Don’t go!« Ungefragt fuhr er mich in ein Reisebüro: »He will confirm not to go!« Er irrte: Trotz des Krieges ist Kaschmir für Touristen nahezu unbeschränkt zugänglich. Für die indische Politik wären Reisebeschränkungen und Sperrzonen das Eingeständnis eines Krieges, der in offizieller Sicht des Staates überhaupt nicht existiert. Dabei sind die indische Regierung und kaschmirische Hoteliers eine zweckmäßige Allianz eingegangen. In Delhi finden sich überwiegend kaschmirische Reiseagenten, die Touristen mit preiswerten Angeboten geschickt in ihre leeren Hotels dirigieren. Deren Besitzer sind allerdings (inoffiziell) verpflichtet, jedem Touristen einen »Guide« permanent an die Seite zu stellen. Dieser Guide ist nichts anderes als ein Bodyguard. Individuelle Ausflüge werden strikt unterbunden: »It’s far too tense here for you to stay. Who is protecting you?« Zu viele Westler wurden in den letzten Jahren entführt und umgebracht.

Als ich meinen Sitznachbarn Ibrahim auf die Gewalt gegenüber Touristen anspreche, beginnen seine Augen zu strahlen, und er lehnt sich wissend in seinen unbequemen Sessel zurück: »In diesen Zeiten gehören zur größten Gruppe aller Touristen Israelis. Das sind gar keine Touristen, sondern Geheimagenten des Mossad, die ihr Know-how der indischen Armee beibringen …« Ich weiß, dass er glaubt, was er sagt. Wir sitzen die letzten Stunden unserer Reise stumm nebeneinander.

Der Blick aus dem eng-vergitterten Busfenster: die silbernen Ausläufer des Himalaja. Hunderte Meter in der Tiefe die grau-blauen Bergflüsse, die sich träge in das melancholische Gestein fräsen. Nur selten werden sie von Brücken gekreuzt. Dörfer verlieren sich in dem gewaltigen Massiv. Auf den Bergkuppen konkurriert das Weiß des Schnees mit dem Weiß der Wolken.

In Srinagar werde ich von einem Bodyguard noch aus dem Bus abgeholt werden, der mich in mein Hotel bringt und mich auch sonst nicht aus den Augen lässt. Wir werden Ausflüge »to very beautiful places« unternehmen – vorbei an Panzern, Straßenkontrollen und getarnten Unterständen, während über uns Hubschrauber kreisen. Unterdessen werden wir wilde Pferde am Fuße von Gletschern streicheln, Fotos von rohen Gipfeln aufnehmen, an der Uferpromenade von Srinagar spazieren, vorbei an mit MPs ausgestatteten Soldaten, die rührend auf die vielen Hochzeitspaare Acht geben, deren Reise vom indischen Staat subventioniert wurde.

Am Ende eines Tages höre ich in einer gelben Dschunke sämige Balladen von Richard Marx, während man mich über den Dal-See paddelt. Irgendwann werde ich in meinem Zimmer sitzen und eine Explosion und Feuergefechte hören. »Don’t worry«, wird mein Guide dann sagen, »das sind nur Verrückte! Da passiert nichts.« Das »virtuelle Gefängnis« ist schwer zu ertragen. Ich werde abreisen.

Ich bin zurück in Delhi. In der Indian Times, der nationalen Tageszeitung, lebt das erfolgreiche Indien. Die Schlagzeilen beherrscht der Tod eines Kindes, das in einem Hotelpool durch Unachtsamkeit des Bademeisters ertrunken ist. Während ich die Zeitung im Taxi durchblättere, schaue ich kurz hoch und sehe andere Kinder auf dem Mittelstreifen einer Hauptstraße schlafen. Wahrscheinlich haben sie dort Ruhe vor hungrigen Ratten. Auf Seite zwei: Todesanzeigen. Ein Leutnant sei »im Kampf gegen Terroristen in Kaschmir gefallen«, steht dort. Er war einer von 700 000 indischen Soldaten in einer Region mit zwölf Millionen Einwohnern. Folgt man dem unabhängigen Kaschmir Media Service, der auf Basis indischer Medienanalysen die Geschehnisse statistisch festhält, so ist er seit 1989 der 86 058ste Tote.