Wir sind frei

Über das Leben und den Kampf des Anarchisten Buenaventura Durruti für die unfertige Wahrheit. von alfred hackensberger

Wir haben seinen aufrichtigen Worten gelauscht, aus denen die Tapferkeit des Löwen spricht, der Scharfblick des alten Militanten des sozialen Kampfes und die heiteren Funken der Jugend. Schon immer besaß er den Ruf und die Fähigkeit eines gestählten Kämpfers – seine gewohnte Umgebung ist die des rauen schwierigen Kampfes. Seine Stunde hat geschlagen in Spanien – im tragischen Panorama des gegenwärtigen Krieges musste er sich zwangsläufig hervortun, durch all das, was er ist und was er wert ist. (…) Im eisernen Blick glänzt schon der Sieg. Er hat uns Hoffnung mitgebracht, Hoffnung und viel Optimismus« (Organ der Gewerkschaft CNT vom 6. Oktober 1936 über einen Besuch von Buenaventura Durruti in Madrid).

Schon zu Lebzeiten war Buenaventura Durruti eine mythische Figur der Revolution, der mit seiner »Lederjacke und seiner Bergsteigermütze das großartige Bild eines Guerilleros« (CNT) abgab. Bis heute verbindet man mit seinem Namen den Freiheitskampf des spanischen Volkes gegen den Faschismus in den Jahren 1936 bis 1939. Nicht nur von den Nostalgikern der Revolution wird dabei gerne übersehen, dass der Anarchist bereits drei Monate nach dem Beginn des spanischen Bürgerkriegs getötet wurde. Reichlich Nährstoff für die zeitgenössische Mythologisierung Durrutis lieferte dann »Der kurze Sommer der Anarchie« (1972) von Hans Magnus Enzensberger. Der dokumentarische Roman ist eine spannende Montage von Originaldokumenten, die sich auf die ersten drei Monate des Bürgerkriegs konzentriert, die aber den biografischen Werdegang Durrutis eher am Rande behandelt. Das Buch ist Resultat einer Recherche, die Enzensberger 1971 begann, als er im Auftrag eines deutschen Fernsehsenders einen Filmbeitrag über Durruti produzieren sollte. Nachdem Enzensberger sehr wenig Material gefunden hatte, riet man ihm im Amsterdamer Institut zur Geschichte der Arbeiterbewegung, sich doch an einen Mann namens Abel Paz zu wenden. Dieser werde ihm sicherlich weiterhelfen können.

Abel Paz wurde 1921 in Almeria geboren und hatte als Jugendlicher im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Anarchisten gekämpft. Er kannte Durruti, Ascaso, Oliver und viele andere Anarchisten. Bereits seit 1962 arbeitete er an einer Biografie Buenaventura Durrutis. Paz unterstützte Enzensberger, gab ihm Material, Fotos und Interviewtipps. Doch an das Versprechen, das er Enzensberger abverlangte, nämlich nichts zu publizieren, hat sich dieser bekanntlich nicht gehalten.

1971 hatte Abel Paz nach fast zehnjähriger Arbeit seine Biografie über Durruti gerade abgeschlossen, in der das Schwergewicht auf dem Leben des Anarchisten vor der Revolution lag. Die Materiallage zu Beginn war denkbar dürftig, da Durruti die meiste Zeit seines Lebens im Untergrund oder auf der Flucht im In-und Ausland verbracht hatte und es kaum schriftliche Zeugnisse von und über ihn gab. Zudem lebte Abel Paz in Frankreich im Exil und konnte nicht ins faschistische Spanien reisen. Trotzdem hatte er als Anarchist und ehemaliger Spanienkämpfer einen großen Vorteil. Die ansonsten pressescheuen Weggefährten Durrutis vertrauten und unterstützten ihn, wo es nur ging. 1972 erschien die Biografie in gekürzter Fassung auf Französisch, und dann endlich 1978, drei Jahre nach Francos Tod, auch in seinem Heimatland Spanien. Auf Deutsch war das Buch erst 1994 erhältlich und war dann schnell vergriffen.

Nun ist im Hamburger Verlag Edition Nautilus unter dem Titel »Durruti – Leben und Tode des spanischen Anarchisten« eine Neuauflage erschienen. Ganze 730 Seiten umfasst das Buch, mit 166 Fotos, reichlich Anmerkungen und Bibliografie. Ein wahrer Wälzer, von dessen Materialfülle man sich im ersten Moment fast erschlagen fühlt. Zudem schildert Abel Paz, der sich weniger als Schriftsteller denn als Dokumentarist begreift, das Leben Durrutis, die historischen Episoden und Hintergründe so detailliert, dass es manchmal sehr mühevoll und ermüdend wird, das Buch Seite für Seite zu lesen. Zum Glück kann man darin auch einfach nur rumblättern, sich die zum Teil seitenlangen Interviews und Dokumente zu einem Thema herauspicken oder auch nur einzelne Passagen und Kapitel lesen. Gegliedert ist das Ganze in drei Teile, wobei die ersten beiden, »Der Rebell« und »Der Kämpfer«, die Zeit von Durrutis Geburt bis zum Beginn des Spanischen Bürgerkriegs (1896–1936) beschreiben und erst im letzten Teil, »Der Revolutionär«, auf die sonst so populären und beliebten drei Monate vor seinem Tod (19. Juli bis 20. November 1936) eingegangen wird.

Insgesamt ist es eine ebenso faszinierende wie lehrreiche Dokumentation einer individuellen Lebensgeschichte, die zugleich die Chronik einer mittlerweile zu Ende gegangenen Epoche ist, in der die entrechteten Menschen in Europa für ihre Ideale auch gewaltsam eintraten und sich nicht mit Kompromissen zufrieden gaben. (Die 1910 gegründete anarchistische Gewerkschaft CNT trat offen für die Revolution ein und handelte deshalb auch keine Tarifverträge oder Sozialleistungen aus.) Die Biografie Buenaventura Durrutis ist allerdings weniger eine politische Geschichte als eine menschliche. Es ist eine Geschichte der Solidarität, des gegenseitigen Vertrauens und Respekts sowie des Glaubens an eine selbst organisierte Welt ohne staatliche Autorität. »Inmitten des großartigen Szenarios, in dem Durruti agierte«, schreibt Abel Paz im Vorwort seines Buches, »haben wir versucht, seine menschliche Seite aufzuzeigen, die für ihn charakteristische Leidenschaft, mit der er sich hineingestellt sah in eine Gesellschaft, aus der er hervorgegangen war und die er aus dem brennenden Wunsch heraus bekämpfte, sie radikal zu verändern.«

Von Jugend an beteiligt sich Buenaventura Durruti, der einer Arbeiterfamilie aus Leon entstammt, an den sozialen Kämpfen, die in Spanien zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl auf dem Land wie in der Stadt an der Tagesordnung sind. Die Lebensbedingungen, besonders für die Landbevölkerung, sind miserabel. 85 Prozent des Bodens sind Eigentum von wenigen Großgrundbesitzern und wohlhabenden Bauern, während zwei Millionen Landarbeiter gar nichts besitzen.

Durruti organisiert Streiks, legt Bomben, beraubt Banken und desertiert, als er 1917 den Einberufungsbefehl erhält. »Ich hatte wenig Lust, dem Vaterland zu dienen, aber selbst diese wenige Lust nahm mir ein Unteroffizier, der die Gemusterten herumkommandierte, als wären sie schon in der Kaserne. Als ich das Musterungsbüro verließ, sagte ich mir, jetzt hat Alfons XIII. mit einem Soldaten weniger zu rechnen und mit einem Revolutionär mehr«.

Am 13. September 1923 beginnt die Diktatur Primo de Rivieras, die Verfassung wird außer Kraft gesetzt, und Durruti muss ins Exil nach Frankreich. Von da an geht es mit seinem Freund Francisco Ascaso um die halbe Welt. Stationen ihrer langjährigen Reise sind Kuba, Mexiko, Chile, Argentinien. Als »Los Errantes« (»Die Umherirrenden«) führen sie immer wieder Expropriationen durch, um ihre Genossen in Spanien finanziell zu unterstützen. Es ist ein rastloses Leben, ständig auf der Flucht vor der Polizei, und sie können es nur mithilfe der Unterstützung der Genossen durchstehen.

1926 kehren sie nach Paris zurück, um einen Anschlag auf den spanischen König Alfons XIII. durchzuführen. Zur besseren Tarnung steigen die Revolutionäre in den besten Hotels ab. »Das ist die Eigentümlichkeit der Spanier«, schrieb Nino Napolitano, ein enger Freund von Durruti und Ascaso. »Sie führen sich wie die großen Herren auf – um nicht zu sagen, wie die spanischen Granden –, selbst wenn sie Proletarier sind. Auch unsere beiden Genossen besaßen dieses Talent und machten davon ausgiebig Gebrauch. Um das Netz der Polizeiagenten zu umgehen, besuchten sie Örtlichkeiten, an denen die oberen Zehntausend der französischen Hauptstadt zusammenkamen. Sie spielten Tennis in einem Club und hatten sich sogar ein Luxusauto gekauft«.

Doch auch diese Tarnung hilft nichts, am Tag des Anschlags werden sie verhaftet und erst ein Jahr später, nach einer groß angelegten Kampagne französischer Anarchisten, mit der Auflage, Frankreich in 15 Tagen zu verlassen, wieder freigelassen. In dieser kurzen Schonzeit haben Durruti und Ascaso noch Gelegenheit, ihren revolutionären Kollegen aus der Ukraine, Nestor Machno, kennenzulernen, der vor den »Roten« nach Paris geflüchtet ist. Die Marxisten in Moskau dulden keine anarchistische Ukraine und haben alle Andersdenkende einfach niedermetzeln lassen. Beim Abschied sagt Machno zu den beiden Spaniern: »Machno ist noch nie einem Gefecht ausgewichen; falls ich noch am Leben bin, wenn das euere beginnt, habt ihr in mir einen Kämpfer mehr.« Machno erlebte die spanische Revolution nicht mehr, er stirbt im Juli 1934 an den Spätfolgen der Verwundungen, die er sich im Kampf gegen die »Bolschewiki« zugezogen hat.

1928 führt Durrutis und Ascasos Weg heimlich nach Deutschland, das zu dieser Zeit noch »das einzige Land Europas war, in dem die anarchistische Bewegung eine gewisse organisierte Stärke hatte.« (Abel Paz) In Berlin finden sie Unterschlupf bei Augustin Souchy, später helfen Rudolf Rocker und Erich Mühsam, die Grandseigneurs des deutschen Anarchismus. 1929 beschließt man, die spanischen Herren besser wieder nach Belgien zu bringen, von wo aus sie nach Mexiko reisen sollten. Im Januar 1930 überrascht sie der Sturz der Diktatur Primo de Riviera. Parteien und Gewerkschaften sind wieder zugelassen. Am 15. April 1930 kehren Durruti und Ascaso endgültig wieder nach Barcelona zurück, um die Revolution anzukurbeln. Ihre Odyssee hat ein Ende.

Während in Deutschland Hitler bereits an der Macht ist, gewinnt in Spanien am 16. Februar 1933 die Front Popular, eine Linkskoalition, die Wahlen und löst die alte Rechtsregierung ab. Für die Anarchisten ist es jetzt klar, ein Putsch des Militärs ist nur eine Frage der Zeit. Waffendepots werden angelegt, Verteidigungsmaßnahmen ausgearbeitet und revolutionäre Aktionen ausgeführt: Kirchenbrandstiftungen, Generalstreiks, Attentate und Bombenanschläge sind an der Tagesordnung.

Am 19. Juli 1936 ist es dann so weit. Franco putscht in den marokkanischen Enklaven Ceuta und Melilla und macht sich mit seinen marokkanischen Söldnern auf den Weg nach Spanien.

Was zuerst als Verteidigung der Republik gedacht war – wenn dir die Wirklichkeit nicht mehr gefällt –, endet kaum einen Tag später in einer sozialen Revolution. Banken, Klöster, Gefängnisse werden gestürmt, Geld und Kirchen verbrannt, Großgrundbesitz in selbstverwaltete Kollektive umgewandelt, Milizen aufgestellt, der Staat existiert nicht mehr. »Armee und Polizei waren als Institutionen verschwunden«, schreibt Abel Paz über den 20. Juli 1936. »Soldaten, Polizisten und Arbeiter bildeten einen einzigen Block. Überall flammte spontan der Geist der Solidarität und der Brüderlichkeit auf.«

Durruti arbeitet als Delegierter im neuen Zentralkomitee der Milizen, was ihm als Mann der Tat schnell überdrüssig wird. Er quittiert, stellt seine eigene Division auf, die Kolonne Durruti, und zieht an die Front nach Aragonien. In seiner Truppe gibt es keine Dienstgrade, keine Rangabzeichen, nur Delegierte, die gemeinsam beschließen.

Niemand versteht sich als Soldat, jeder definiert sich als sozialer Revolutionär. »Wir hatten keinen General«, schreibt der deutsche Schriftsteller Carl Einstein über seine Zeit in der Kolonne. »Die Kameraden kamen zu Durruti ins Zelt. Er erklärte ihnen den Sinn seiner Maßnahmen und diskutierte mit ihnen. Durruti befahl nicht, er überzeugte. (…) Durruti, dieser außergewöhnlich sachliche Mann, sprach nie von sich, von seiner Person. Er hatte das vorgeschichtliche Wort ›ich‹ aus der Grammatik verbannt. In der Kolonne Durruti kennt man nur die kollektive Syntax.« Sein Führungsstil und natürlich auch die militärischen Erfolge der Kolonne machen Durruti populär. Er lehnt alle militärischen Auszeichnungen kategorisch ab, besitzt nur das, was in einer kleinen Tasche Platz hat, lehnt alle Vergünstigungen ab. Er erscheint absolut glaubwürdig und seine Haltung ist ein Beispiel für den »Geist der sozialen Revolution«. Symptomatisch für Durrutis Einstellung ist das, was er einem Militärstrategen erwidert, der mit dem Führungsstil in der Kolonne nicht einverstanden ist: »Ziel unseres Kampfes aber bleibt der Sieg der Revolution. Und das bedeutet nicht nur den Sieg über den Feind, sondern auch, dass er durch eine radikale Veränderung des Menschen errungen werden muss. Damit diese Veränderung Wirklichkeit wird, muss der Mensch lernen, wie ein freier Mensch zu leben und sich wie ein freier Mensch zu verhalten – dabei entwickeln sich die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung und selbstbestimmte Persönlichkeit.«

»Die radikale Veränderung des Menschen« bedeutet hier das Wagnis zur offenen Auseinandersetzung ohne verbürgte Wahrheit, die die Menschen nur gemeinsam finden können und von der man vorher nicht weiß, wie sie später aussieht. Mit Marxismus, einer der vielen existierenden deterministischen Theorien, hat das natürlich nichts zu tun. Kein Wunder, dass die spanischen wie russischen Kommunisten ihre anarchistischen Genossen zu eliminieren versuchten. »Marxismus ist eine artifizielle Theorie aus einem bestimmten historischen Moment«, erklärt Abel Paz im Interview. »Dieser Moment ist nun vorüber und die Theorie nicht mehr gültig. Der Anarchismus dagegen ist für immer gültig, weil er der Esprit der Revolte ist, der in der menschlichen Seele existiert.«

Abel Paz’ Biografie von Buenaventura Durruti ist kein abwägendes Werk über eine historische Figur. Es ist ein Plädoyer für den Anarchismus am Beispiel Durrutis und des spanischen Volkes. Dennoch ist es keine Beweihräucherung der anarchistischen Bewegung. An einigen Stellen übt Paz sachliche Kritik und räumt auch die üblichen Verschwörungstheorien über die Ermordung Durrutis aus. Er präsentiert die verschiedenen und widersprüchlichen Todestheorien und überlässt dem Leser das Urteil.

Persönlich hält Abel Paz aber die Tatbeteiligung der Stalinisten für die wahrscheinlichste, da sie im ganzen Land unliebsame Anarchisten reihenweise ermordeten und Durruti eben einer der bekanntesten war.

Für Abel Paz, der eigentlich Diego Camacho heißt, aber seinen »nom de guerra« bevorzugt, da er immer im Kampf sei, immer in Aktion, ist Durruti ein Musterbeispiel für eine menschliche Haltung, die man sich bewahren sollte, und sei es bis in den Tod.

Nach dem Spanischen Bürgerkrieg teilt Abel Paz das Schicksal vieler Genossen und verbringt drei Jahre in einem französischen Konzentrationslager. 1942 gelingt ihm die Flucht, und er schließt sich sofort den antifaschistischen Guerillas el maquis in den Bergen an. Schon im Dezember 1942 wird er verhaftet und verbringt 11 Jahre in spanischen Gefängnissen. 1953 geht er ins Exil nach Frankreich und kann erst 19 Jahre später nach dem Tod Francos zurück nach Barcelona, wo er heute noch lebt. Auch mit 83 Jahren ist Paz, der sich nicht als politischer Mensch definiert, sondern sich nur als ein menschliches Wesen bezeichnet, immer wieder unterwegs auf Lesereisen und Vorträgen in Europa. Für ihn gibt es kein Ende des Kampfes, auch wenn es heutzutage noch so aussichtslos erscheint. »Für mich gibt es zwei Wege, die Freiheit zu leben: spirituell und materialistisch. Materialistisch fühle ich mich nicht frei, weil ich, wohin ich auch gehe, mich unterdrückt fühle. Innerlich dagegen fühle ich mich frei, weil ich gegen die ganze Scheiße bin. Niemand kann mir sagen, dass ich das alles akzeptieren muss. Der Fakt des Protestes gegen all diese Ungerechtigkeit ist schon ein Fakt, frei zu sein.«

Abel Paz: Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten. Edition Nautilus, Hamburg 2003, 730 S., 25 Euro