Verduftet

Aus Protest gegen Hugo Chávez meldeten viele Unternehmen in Venezuela Konkurs an. stefanie kron und simón ramírez voltaire (Fotos) berichten aus einer Parfümfabrik ohne Chef und Arbeit

Eingerahmt von zwei selbst gemalten Transparenten baut sich Joel Mata Lanz vor dem Eingang des mehrstöckigen Fabrikgebäudes auf. »Wir haben hier Rohstoffe, Transportmöglichkeiten, Arbeitskräfte und eine Vertriebsstruktur«, erklärt er und rückt entschlossen die Sonnenbrille auf seinem Basecap zurecht. »Wenn der Präsident uns nicht bald eine Lösung anbietet, nehmen wir einfach die Produktion wieder auf. So wie die Arbeiter der besetzten Fabriken in Argentinien.«

Mata Lanz sieht aus wie ein Preisboxer. Doch er ist Duftmischer. Vor sieben Jahren begann er, im Labor der Parfümfabrik Cristian Carol Eau de Cologne, Cremes, Salben und rezeptfreie Medikamente herzustellen. Später arbeitete er im Vertrieb des traditionsreichen Kosmetikherstellers, der in dem quirligen und etwas heruntergekommenen Geschäftsviertel Quinta Crespo in Caracas seit über 50 Jahren seinen Sitz hat. Säcke mit Bohnen, Reis, Seife und Zahnpasta stapeln sich in den Lebensmittellagern, die die Avenida Baralt, die Hauptverkehrsader von Quinta Crespo, säumen. Davor sind Stände aufgebaut, an denen Obst, Gemüse, Raubkopien von Musik-CDs, Unterwäsche und Handtücher mit Hulk- oder Spiderman-Motiven angeboten werden. Die neueste Geschäftsidee im informellen Sektor haben Handy-Besitzer entwickelt. Sie vermieten auf der Straße ihre Taschentelefone und unterbieten sich gegenseitig in den Tarifen.

Es ist ein Donnerstag Anfang Oktober und schon 10 Uhr morgens. Beim Betreten der Parfümfabrik ist von der hektischen Betriebsamkeit draußen allerdings nichts mehr zu spüren. Im Eingangsbereich stehen ein paar Männer und Frauen, blättern in der neuesten Ausgabe der regierungsnahen Lokalzeitung Vea oder unterhalten sich leise. Die Türen zu den Labors und Maschinenräumen im ersten und zweiten Stock sind mit Absperrband verklebt. In den Lagerräumen türmen sich Bottiche mit Cremes und Pakete mit Parfümflakons und Kopfschmerztabletten. Es riecht wie in einer Arztpraxis. Die 47jährige Paola Famosa ist sichtlich sauer. Sie zerrt einen Karton aus dem Regal und reißt ihn auf. »Statt verkauft zu werden, gammelt das alles hier seit Monaten vor sich hin. Und wir wissen nicht, wovon wir leben sollen, wir haben seit Juni keine Löhne mehr gesehen, dürfen aber die Arbeit auch nicht wieder aufnehmen«, erzählt die allein stehende Mutter von zwei Kindern im Teenageralter. »Dieser Betrieb liegt still, weil der Staat nicht handelt.«

Cristian Carol ist eines von zahllosen venezolanischen Unternehmen, die seit Anfang des Jahres von ihren Besitzern aus Protest gegen die sozialreformerische Politik des Präsidenten Hugo Chávez geschlossen wurden. Sie waren im Dezember des vergangenen Jahres dem Aufruf des Managements der nationalen Erdölgesellschaft PDVSA und des unternehmerfreundlichen Gewerkschaftsdachverbandes CTV gefolgt, der Regierung Chávez die industrielle Produktion im Land zu stoppen. Nachdem ein militärischer Putsch der Opposition gegen Chávez im April 2002 gescheitert war, sollte nun mit einem ökonomischen Staatsstreich die Regierung zum Rücktritt gezwungen werden. Hunderttausende Arbeiter im ganzen Land standen so eines Morgens vor verschlossenen Werkstoren. Drei Monate dauerte der so genannte Streik, bevor ein Gericht die Sabotageaktion der Unternehmer für illegal erklärte. Unter anderem konnte nachgewiesen werden, dass die CTV ohne die mehrheitliche Zustimmung der von ihr als Basis deklarierten Arbeiter den Ausstand durchgesetzt hatte.

»Es war ein Zwangsstreik!«, kommentiert Mata Lanz. »Wie sollst du arbeiten, wenn die Besitzer die Fabriktore schließen? Und dann behaupten sie, die Arbeiter würden streiken. Es gibt hier einen politischen Krieg gegen die Arbeiter.« Während die Produktion paralysiert war und Benzin, Gas und Lebensmittel knapp wurden, schafften viele Fabrikbesitzer ihr Kapital ins Ausland. Als Reaktion erließ die Regierung ein Gesetz, das den Umtausch der venezolanischen Währung in US-Dollars stark limitiert. Gleichzeitig forderte Chávez mit markigen Sprüchen wie »Erobert die Fabriken« die von der CTV frustrierten Arbeiter zur Besetzung der lahm gelegten Betriebe auf und forcierte den Zusammenschluss der unabhängigen Betriebsräte zu einem neuen Gewerkschaftsverband. So entstand die Nationale Einheit der Arbeiter, die UNT, der inzwischen die Hälfte der Beschäftigten im Erdölsektor und 20 Prozent aller Lohnabhängigen angehören.

Paola Famosa steht etwas verloren an dem langen Tresen der großräumigen Caféteria von Cristian Carol und wärmt Kaffee in der Mikrowelle auf. An den Wänden hängen Transparente der neuen Gewerkschaft UNT. »Wir sind hier schon seit drei Jahren als Betriebsrat organisiert, weil wir gesehen haben, dass die CTV sich immer mehr zu einer Vertretung der Unternehmer entwickelt hat«, berichtet sie. »Meiner Meinung nach haben viele Fabrikbesitzer den Protest gegen Chávez und den Streik vom Dezember nur als Vorwand genommen, um Leute wie uns loszuwerden, unsere guten Arbeitsverträge aufzulösen und neue Leute zu viel schlechteren Bedingungen anzustellen.« Famosa erzählt, dass sie seit 13 Jahren in der Parfümfabrik arbeitete und lange Zeit sehr zufrieden mit ihrer Anstellung war. Die über 100 Beschäftigten verfügten über Kollektivverträge, die ihnen Sozialleistungen und gleiche Löhne zwischen umgerechnet 300 und 600 Dollar je nach Dienstalter zusicherten. Zum Vergleich: Ein Arzt verdient im Schnitt rund 400 Dollar.

Auch die Besitzer der Parfümfabrik, Henry Pauli und Chaques Alexander, hatten sich am Unternehmerstreik beteiligt, während die Mehrheit der Beschäftigten sich hinter die Regierung stellte und Tag für Tag vor dem Eingang für ihr Recht auf Arbeit demonstrierte. Nachdem der Streik für illegal erklärt worden war, musste der Betrieb seine Tore wieder öffnen und Löhne auszahlen, die Produktion und der Vertrieb wurden allerdings nicht mehr aufgenommen. »Wir verbrachten zwei Monate, ohne etwas zu tun, ohne zu arbeiten, weil die Grundstoffe angeblich knapp geworden waren«, erinnert sich Famosa. Im Mai hätte dann eine Verlängerung der Arbeitsverträge angestanden. Auf einer Betriebsversammlung erklärte der Geschäftsführer, die Firma könne die Verträge nicht verlängern und müsse Leute entlassen. Als Begründung führte er an, dass Chávez den Erwerb von Dollars verboten hätte. Das Unternehmen habe deshalb kein Geld, um die notwendigen Grundstoffe für die Herstellung der Kosmetikprodukte aus den USA und aus Europa zu importieren. »Das wollten wir nicht akzeptieren, denn wir wussten, dass es noch genügend Rohmaterialien gab, um mindestens zwei Jahre weiter zu produzieren«, sagt Famosa.

Am 30. Mai meldeten Pauli und Alexander Konkurs an und verschwanden. Mata Lanz sitzt mit ein paar Kollegen an einem der langen Tische in der Cafétaria. Die Gruppe diskutiert die Lage, seine Stimme hallt in dem ansonsten fast leeren Raum. »Am Tag nach der Bankrotterklärung standen wir vor dem Arbeitsministerium und protestierten dagegen. Denn wir haben Beweise dafür, dass es ein betrügerischer Konkurs war!« Mata Lanz redet sich in Rage. »Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie hier fässerweise die Rohstoffe und Chemikalien rausgeschleppt wurden. Die beiden Besitzer haben außerdem noch drei weitere Betriebe, darunter ein Transportunternehmen, das große Umsätze einfährt. Sie haben das Vermögen dieses Betriebes einfach auf die anderen umgeschrieben.« Trotzdem erkannte ein Verwaltungsrichter wenige Tage später den Konkurs als legitim an. Während die Verwaltungsangestellten mit den Besitzern verschwanden, besetzten Famosa, Mata Lanz und rund 60 weitere Arbeiter von Cristian Carol das Fabrikgebäude. Seit Monaten kommen sie Tag für Tag hierhin, trinken Kaffee, lesen Zeitung und beraten über das weitere Vorgehen. Die UNT bezahlt ihnen ein Frühstück und ein Abendessen. »Unsere Lage ist prekär«, stellt Mata Lanz fest. »Ich habe vier Kinder zu versorgen. Einige von uns haben ihre Söhne und Töchter schon aus den weiterführenden Schulen genommen, weil sie die Fahrtkosten und die Unterrichtsmaterialien nicht mehr bezahlen können.« Die Besetzer haben allerdings nicht vor, aufzugeben und sich woanders eine Arbeit zu suchen. »Wenn wir jetzt gehen«, sagt Mata Lanz, »kommen die Besitzer in zwei Wochen wieder, machen den Laden wieder auf, stellen Leute für miserable Löhne an, und schließen Arbeitsverträge ab, die nach drei Monaten auslaufen. So war es in anderen Fällen.«

Die Mehrheit der Belegschaft von Cristian Carol sei außerdem über 40 Jahre alt und weiblich, fügt Famosa hinzu. »Wer gibt uns noch zu einer akzeptablen Bezahlung Arbeit?« Über 60 Fabrikbesitzer meldeten nach dem gescheiterten Unternehmerstreik Konkurs an. Marcela Maspero, Mitglied der nationalen Koordination der UNT, sieht in dem von der CTV unterstützten Unternehmerstreik und der nachfolgenden Konkurswelle vor allem einen Versuch, die Arbeitsbeziehungen in Venezuela nachhaltig zu deregulieren. »Die CTV und der Unternehmerverband arbeiten mit Unterstützung der korrupten Richter des Verwaltungsgerichtes seit Monaten daran, uns in prekäre, informelle und flexibilisierte Arbeitsverhältnisse zu zwingen«, bringt sie die Situation auf den Punkt. Anders als die Besetzer verschiedener Fabriken in Argentinien nach dem dortigen Wirtschaftskollaps im Dezember 2001 haben die Aktivisten von Cristian Carol bisher keine Kooperative gegründet, um die Arbeit in Eigenregie wieder aufzunehmen. »Obwohl die Kapazitäten da wären«, wie Mata Lanz versichert. »Aber das hier ist kein Kampf wie in Argentinien, wir haben hier kein ökonomisches, sondern ein politisches Problem. Hier hören die Fabrikbesitzer nicht mit der Produktion auf, weil sie pleite sind, sondern weil sie ein Problem mit der Regierung haben und ihre Privilegien bedroht sehen«, erklärt er. Der Fall des Keramikwerkes Zanón im argentinischen Patagonien ist dafür ein gutes Beispiel. Dort warteten eines Morgens über 300 Beschäftigte vergeblich auf den Geschäftsführer. Er tauchte seither nicht mehr auf, weil die Besitzer die seit Monaten ausstehenden Löhne nicht zahlen konnten oder wollten.

Die Eigentümer meldeten allerdings auch keinen Konkurs an und die Arbeiter konnten in einem rechtsfreien Raum die Produktion zunächst in Selbstverwaltung wieder aufnehmen. Die Strategie der venezolanischen Unternehmer hingegen, die Produktion mit einem Zwangsstreik zu sabotieren oder Konkurs anzumelden und dann wie Pauli und Alexander zu verschwinden, bindet der Regierung die Hände, weil Verhandlungen zur Klärung der Eigentumsverhältnisse nicht möglich sind. Und die Enteignung von Privatbesitz durch den Staat ist auch in der neuen bolivarischen Verfassung von 1999 nicht vorgesehen, obwohl sie von der venezolanischen Opposition gerne als kommunistisch kritisiert wird. Zudem sind die staatlichen Institutionen politisch gespalten, vor allem im Justizapparat gibt es nach wie vor viele Richter, die hinter den Unternehmern stehen und falsche Konkurserklärungen absegnen.

Auch Mata Lanz sieht das Dilemma der Regierung. »Wir dachten, dass wir hier nicht einfach eine Kooperative gründen und anfangen können zu arbeiten. Denn wir können den Besitzer der Fabrik nicht enteignen. Die Regierung müsste das tun. Aber dann hieße es vor allem im Ausland wieder, dass Chávez ein Diktator und Kommunist sei, der die Leute enteignet. Die Besitzer müssten sich bereit erklären, die Fabrik dem Staat zu übereignen, damit er uns hier eine Genossenschaft gründen lässt. Aber Pauli und Alexander sind nicht zum Dialog bereit.« Nach Monaten des Wartens auf eine Entscheidung, meint Mata Lanz, würden unter den Besetzern von Cristian Carol allerdings auch zunehmend kritische Stimmen gegenüber der Regierung laut. Man fühle sich allein gelassen und vergessen. »Als der Streik begann und die Unternehmen die Fabriktore schlossen, sagte der Präsident: Wenn die Besitzer die Produktion anhalten, müssen die Arbeiter die Fabrik übernehmen und weiter produzieren. Aber wir haben bis heute keine juristische oder finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten.« Die ausweglos erscheinende Situation der Besetzer hat in den vergangenen Wochen zur Radikalisierung ihrer Haltung gegenüber der Regierung geführt.

Mitte September gründeten die Beschäftigten von Cristian Carol zusammen mit den Arbeitern von fünf weiteren besetzten Fabriken, darunter ein wichtiger Zulieferbetrieb für PDVSA sowie ein großer Papierhersteller mit über 3 000 Arbeitern, ein Komitee zur gegenseitigen Hilfe. Am zweiten Oktober tritt das Kommitee mit Unterstützung der UNT, erstmals öffentlich in Erscheinung. Etwa 60 Fabrikbesetzer sammeln sich vor dem Gebäude des Parfümunternehmens auf der Avenida Barult. Der kleine Protestzug setzt sich zum Miraflores, dem Sitz des Präsidenten, in Bewegung. Man will den Präsidenten zum schnellen Handeln bewegen und ihm eine gemeinsame Petition geben. Sie zeigt zugleich die Grenzen des so genannten bolivarischen Prozesses und der Umverteilungspolitik von Chávez auf. Die zentrale Forderung: die Verstaatlichung der besetzten Fabriken, ihre Übergabe an die Besetzer und die Gründung von selbst verwalteten Kooperativen.

An diesem Tag werden die Demonstranten nicht zu Chávez vorgelassen, sondern von einem Regierungssprecher abgefangen. Er verspricht die Gründung einer Kommission aus Abgeordneten, Juristen, Besetzern und Gewerkschaftern, die sich mit den Fällen der stillgelegten und besetzten Fabriken befassen soll. Am Nachmittag kann eine Gruppe von Journalisten auf einer internationalen Pressekonferenz dem Staatschef dann doch noch die Petition überreichen. Als er sie entgegennimmt, macht der Präsident, der gerne von Revolution spricht, ein ernstes Gesicht. »Das ist ein besonderes Problem, dessen wir uns bewusst sind. Wir können allerdings nicht außerhalb der gesetzlichen Grundlage handeln und Privatbesitz enteignen.«