Am Straßenrand der Gesellschaft

Der Sommer ist vorbei, und damit auch die gute Laune so mancher Tramper. Doch Anhalter gibt es eh kaum noch. von jens thomas

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich schon nach zwei Stunden keinen Bock mehr. Ich stand damals auf einem Rastplatz kurz vor Kaiserslautern. Das ist etwa acht Jahre her, aber ich erinnere mich noch ganz genau, ich kam von Gießen und wollte per Anhalter mit einem Freund nach Frankreich. Am Anfang lief alles wunderbar. Kaum mehr als zehn Minuten mussten mein dreadlockiger Kumpel und ich warten. Doch dann blieben wir vor dieser elendsbeschissenen Raste stecken. Man konnte von dort in zig verschiedene Richtungen fahren. Zudem gab es da eine Shell-Tankstelle. Kurz vorher war der Öl-Skandal des Konzerns aufgeflogen: Shell trieb sein Unwesen in Nigeria, hielt sich nicht an dortige Umweltschutzbestimmungen und verseuchte das Nigerdelta. Darum kam an diesem Abend kein einziger VW-Kiffer oder sonst eine Schrottkarre vorbei, die so aussah, als würde sie uns wohl oder übel mitnehmen.

»Scheißdrauf«, versuchte ich mir ständig einzureden, Kinnlade hoch, immer positiv trampen! Aber es half nichts. Und so standen wir da, wie bestellt und nicht abgeholt, mit Chips in der einen Hand und Bier in der anderen. Ringe legten sich langsam unter unsere roten Augen, und wir wirkten dadurch auch nicht einladender. Schließlich standen wir die ganze Nacht, ganze elf Stunden.

Doch dann, gegen Morgen, wurden wir endlich mitgenommen. Ein Trucker fuhr ganz zufällig Richtung Metz. Das war doch mal was, genau unsere Richtung. Dann ging es auf einmal zack zack, mein Kollege und ich waren wieder munter, und ich dachte mir: Trampen ist eigentlich wie Angeln (obwohl ich zuvor noch nie geangelt hatte). Man wartet Stunden, bis irgendwann das gottverdammte Vieh anbeißt.

Nach über 25 Stunden hatten wir unser Ziel erreicht. Wir waren in Alencon und schielten über das Meer. Ein tolles Gefühl.

Trampen kann schon eine feine Sache sein. Und viele Anhalter werden solche, sicher aber auch ganz andere Erfahrungen gemacht haben.

Doch Tramper gibt es hierzulande immer weniger. Die Zeiten, in denen an beinah jeder Autobahnauffahrt langhaarige Daumenraushalter mit Pappschild und Rucksack auf kostenlose Mitfahrgelegenheiten hofften, sind vorbei. Ein paar Unverdrossene aber gibt es trotzdem noch, sie wird es immer geben. Einer von ihnen ist Veit Kühne, ein überzeugter Mitreisender und Mittzwanziger aus Dresden, ständig auf Achse. Veit Kühne hat sogar eine eigene Tramperhomepage.

Fragen wir ihn also selbst. Warum ist Trampen out? »Nein, Mann! Trampen ist nicht out, sondern mega-in. Ernsthaft: Es trampen zwar nicht mehr so viele Leute wie in den siebziger Jahren, aber es gibt noch eine kleine engagierte Gruppe in Deutschland. Wenn du es erst mal ausprobiert hast, wirst du sehen, wie einfach, schnell und interessant man in Deutschland trampen kann. Wir sind davon voll und ganz begeistert. Ich werde nie wieder Bahn fahren.«

Veit Kühne ist ein stolzer Tramper. Die Bahn könnte ihm da noch so freundlich mit Preisnachlass in den Arsch kriechen, seine Art zu reisen ist einfach unschlagbar billig. Und wer auf seiner Homepage landet, der wird rundum gut informiert. Von den »Goldenen Regeln fürs Trampen« (an Autobahn-Raststätten fragen, nicht mit Daumen-raus an der Straße stehen, nicht mehr als zwei Personen …) bis zu den »häufigsten Ausreden« (»Das Auto ist voll« – obwohl nur die Butterdose auf dem Beifahrersitz liegt, »da muss ich erst mal meine Frau fragen«) findet sich alles. Sogar lustige Geschichten, z.B. die Anekdote über eine Begegnung mit Joschka Fischer, lassen sich anklicken: »Das ist er also, der Joseph. Ein arrogantes Arschloch«, liest man dort. Und warum? Erst habe Joschka Fischer ihn nicht mitnehmen wollen, sagt Kühne, dann habe er sich nicht mal kurz mit ihm ablichten lassen. »Nee, nee, kein Foto, ich muss weiter«, habe der Politiker kurz angebunden gezickt, sei einfach eingestiegen in seinen Wagen und davongerauscht. So einer.

Veit Kühne hat auf seinen Reisen wohl so einiges erlebt. Auch wenn er Trampen »mega-in« findet, muss er zugeben, dass die heutigen Tramperzahlen zu wünschen übrig lassen. Also. Warum trampen die Leute heute weniger? Die Gründe dafür seien klar, meint der Filmemacher Andres Veiel (»Black Box BRD«): »Unsere Gesellschaft ist geprägt von Effizienzdenken. Heute hat keiner mehr Zeit zum Trampen.« Eine Theorie. Eine andere: »Mitfahrzentralen, Bahncards und Wochenend-Tickets haben das Trampen verdrängt«, meinte Henning Kober im Jetzt-Magazin. Wiederum andere wie Tim Rotter, ebenfalls von der Süddeutschen, glauben, »Abi und Auto« fielen heute zusammen. Darum verschwänden die Anhalter vom Seitenstreifen.

Alles wird irgendwie richtig sein. Denn alles wird im Zusammenspiel ein nicht allzu tramperfreundliches Gemisch ergeben. Die goldenen Tramperzeiten, da sind sich dann doch wiederum alle einig, sind vorbei.

Womit wir auch schon mitten im Stoff wären. Trampen passt einfach nicht mehr in die heutige Zeit der mobilen Gesellschaft. Die siebziger Jahre, in denen das Trampen groß wurde, zeugten von Aufbruchstimmung. Die »Bildungsexpansion« hierzulande, die zunächst in den Sechzigern einsetzte, hatte eine Intellektualisierung zur Folge. Das Denken sollte durch kulturellen Austausch befruchtet werden, Reisefieber wurde geweckt, Spontaneität galt als eine der obersten Prämissen. Mit Marcuse-Buch und Butterbroten wollte man die Welt erkunden.

Da bot sich das Trampen wunderbar an, denn Geld hatte das Jungvolk natürlich nicht. Trampen zeugte von Freiheitsstreben und symbolisierte, dass man sich um nichts Sorgen machte und seinen Horizont erweitern wollte. Es war die Zeit, so die These des Sozialforschers Ronald Inglehart, in der sich postmaterialistische Werte verbreiteten. Seit der Nachkriegszeit habe sich ein Wandel von »materialistischen zu postmaterialistischen Werten« vollzogen, materialistische Werte wie Sicherheit und Ordnung seien zu Gunsten von postmaterialistischen Werten – also Freiheit, Toleranz und Selbstverwirklichung – in den Hintergrund getreten. Inglehart führte dies auf die junge Generation zurück, die – im Wohlstand aufgewachsen – materiell saturiert sei und das Interesse an traditionellen politischen Werten und Zielen, etwa Sicherheit und materielle Versorgung, verloren habe. Kurzum: Wem es finanziell gut geht, der braucht sich um seinen eigenen Arsch keine allzu großen Gedanken machen. Für den zählen dann eben andere, existenziell nicht bedrohliche Dinge.

Das passte zur Tramperkultur: On-The-Road-Sein, komm ich heut nicht, komm ich morgen, so die Devise. Eine aus heutiger d.h. neoliberaler Sicht, in der Arbeit über alles gilt, desaströse Maxime. Die Freiheit ließ sich damals noch ausleben, weil eine konsumkritische Haltung in der Gesellschaft akzeptiert wurde oder sogar weit verbreitet war.

Seit das Arbeitsethos auch in der Jugend wieder aufgeflammt ist, passt ein beinhartes Effizienzdenken einfach nicht zum lockeren Tramperdasein. Denn wer zu spät kommt, den bestraft das Arbeitsleben. Arbeit muss heute immer schneller verrichtet werden, Zeitverluste sind tödlich.

Noch ziemlich entspannt ging es in den achtziger Jahren zu. Die Deutschen hatten vorwiegend Angst um die Umwelt. Auf diesem Fundament konnten die Grünen aus der Sponti-Bewegung erst entstehen. Und das Trampen passte wunderbar in jene Zeit. Es entsprach nicht nur dem Freiheitsstreben, auch dem Umweltschutzgedanken kam es entgegen. Zudem, und da wären wir bei der These von Henning Kober, haben sich bis heute etliche Transportmöglichkeiten etabliert. Die erste Mitfahrzentrale gab es 1956 in Frankfurt am Main, heute gibt es unzählige andere Angebote wie die Billigflüge. Warum also von Berlin nach Köln trampen, wenn man vielleicht Stunden im Regen steht, aber für 19 Euro fliegen kann?

Billigflüge und andere Schnäppchen locken die Tramper zunehmend von den Straßen. Aber eigentlich ist das Auto schuld am Niedergang der Tramper-Szene, die Gesellschaft ist durchmotorisiert. Aber das Trampen ist dennoch nicht völlig ausgestorben, wie man auf Veit Kühnes Homepage lesen kann. Deutschland sei ein tramperfreundliches Land, heißt es, und mit Ausnahme Spaniens klappt es in europäischen Regionen wohl recht gut. Die aktuelle Tramperhochburg ist Osteuropa. Dort gehört das eigene Auto nicht zur Grundausstattung des Menschen, außerdem sind die Bahnverbindungen vergleichsweise schlecht.

Viele aber haben einfach Angst, zu Wildfremden ins Auto zu steigen und auf diese Weise um die Welt zu ziehen. Trampen wird zunehmend als Sicherheitsrisiko angesehen. Das weiß auch Veit Kühne. Es sei die »Angst-Zentriertheit unserer Gesellschaft«, die Leute das Trampen meiden lässt. Völlig zu Unrecht, findet Veit Kühne. Trampen sei eine recht sichere Sache.

Und wie sieht es in anderen Ländern aus? In Monaco braucht man den Daumen erst gar nicht in die Luft zu strecken, da ist es verboten. In Kuba dagegen mit dem am besten ausgebauten Straßennetz Lateinamerikas sind staatliche Fahrzeuge sogar verpflichtet, Tramper mitzunehmen, sofern sie Platz haben. Kontrolliert wird alles durch so genannte amarillos, gelb-uniformierte Staatsangestellte, bewaffnet mit Schreibblöcken, die an den Zu- und Ausfahrten von Städten sowie an verkehrsreichen Kreuzungen stehen, um die Namen von Reisewilligen säuberlich aufzulisten.

Dieses Glück hat der Autostopper hierzulande nicht. Wenn auch mehr Glück als früher. Im Dritten Reich wurde das Trampen nämlich oppositionellen Jugendlichen wie den Edelweißpiraten, so genannten »wilden Gruppen«, untersagt. Eingeführte Fahrtenerlaubnisscheine sollten diese Verbote durchsetzen, der HJ-Streifendienst kontrollierte. Den Edelweißpiraten aber war das egal, sie missachteten das und trampten trotzdem. Dabei trugen sie spezielle Fahrtenkleidung, die Jungs kurze Hosen, Halbschuhe, weiße Strümpfe, Kletterweste und Schottenhemd. Die Mädchen dagegen weiße Blusen, blaue Röcke und weiße Söckchen.

Heute dagegen sollte das Outfit doch eigentlich egal sein, sollte man meinen. Aber auch im Tramperbusiness lohnen heute eher durchdachte Marktstrategien. Befragt man diejenigen, die einen mitnehmen, platzt es nicht selten aus ihnen raus, dass man irgendwelche Abgesifften nun mal nicht mitnimmt. Der Lotterlook wirkt abschreckend, ein Schlipsträger mit Minilaptop am Straßenrand mag da schon eher vertrauenswürdig erscheinen.

Veit Kühne ist dennoch zuversichtlich, er glaubt an die Tramperkultur. Es müssten einfach mehr Infos gestreut werden, meint er, dann gingen die Leute auch wieder vermehrt auf die Straße. Und meine Beobachtung, dass Trampen out ist, sei ja nicht gerade originell. Das sage mittlerweile fast jeder.

Der Tramper: Veit Kühne betreibt unter http://trampen.veitkuehne.de eine Anhalter-Seite: »Ich trampe seit den Osterferien 1996, also seit ich 17 bin. Seitdem hab ich auf diese Art und Weise etwa 150 000 Kilometer in 40 verschiedenen Ländern zurückgelegt, bin ein begeisterter Tramper geworden.«