Final Butterfahrt

Polen ist der EU beigetreten. Die bei Berlinern so beliebten Schiffstouren mit zollfreiem Einkauf im Stettiner Haff sind damit Geschichte. von oliver numrich

Es ist 6.15 Uhr, Berlin, Kudamm, Ecke Kranzler. Auf dem viel besungenen Trottoir stehen die Ausflügler in kleinen Grüppchen im Nieselregen und warten. Ihr Durchschnittsalter liegt deutlich über 60, das Durchschnittsgewicht etwa 20 Kilo über dem Ideal. Als die grün-blauen Holiday-Busse anrauschen, bilden sich sofort Schlangen vor den Einstiegsluken. Von hinten wird kräftig geschoben und gemotzt: »Macht mal voran da.« Als ein greises Mütterchen mit Gehstuhl und schiefer Perücke sich seitlich heranpirscht, stützt eine Mitreisende den Arm gegen die Buswand und versperrt ihr den Weg: »Wir warten hier alle.« Minuten später quält sich die resolute Butterreisende selbst den Einstieg hinauf, und als sie auf halber Strecke das Gleichgewicht verliert, müssen die grauhaarigen Hintermänner sie abstützen und pressen und schieben sie in den Doppeldecker.

Den an der Bordpentry lehnenden Busfahrer juckt das nicht, er guckt dem Treiben ungerührt zu. Bei ihm muss jetzt und hier am Einstieg der Fahrpreis von 5,99 Euro bezahlt werden. Wer sechs Euro gibt, kriegt keinen Cent zurück. Im Preis enthalten sind nicht nur der Bustransfer zum Anleger in Ueckermünde und die Schiffsrundfahrt im Stettiner Haff. Es sind auch ein Begrüßungsdrink, ein Mittagessen an Bord und ein mysteriöses »Reederei-Geschenk« angekündigt. Dass den Fahrgästen Geschenke versprochen werden, kennt man eigentlich nur von Verkaufsfahrten, und es könnte ein Hinweis für den kritischen Geiz-Touristen sein, dass es hier nicht vordringlich um landschaftliche Naturschönheiten geht. Tatsächlich bekommt das Busunternehmen von der Reederei pro Fahrgast eine Kopfpauschale und kann die Tour so preiswert anbieten. Die Reederei ihrerseits holt sich das Geld von den Reisenden im Duty-Free-Shop zurück. Denn mitnichten ist das Stettiner Haff das Ziel der Beschaffungstour, die sich als Ausflug tarnt. Ziel ist einzig der Spätkauf mit der verlockenden steuerfreien Warenpalette. Was in den fünfziger Jahren bei der Einführung des zollfreien Einkaufs ein erfreulicher Nebeneffekt war, ist für meine nikotinsüchtigen Mitreisenden einziger Grund der Reise.

Nachdem ich mehrmals von Senioren abgedrängt wurde, besteige ich den Bus und ahne, warum es so lange dauert: Der schnauzbärtige Fahrer durchkämmt bei jedem Neuzugang eine mehrseitige Namensliste und hakt ab oder sagt: »Nee, se sitzen im andern Bus.« Denn in diesen letzten Tagen der Butterfahrt, starten vier voll besetzte Fahrzeuge Richtung Nordost-Vorpommern. Pechvögel müssen mehrmals anstehen, bis sie den vorgesehenen Sitzplatz erreichen; so was sagt einem auch keiner vorher. Mir wird »7A« im Oberdeck des »Komfortreisebusses mit WC« zugewiesen. Dort ist es klaustrophobisch eng, denn nach vorne scheint der Bus sich noch zu verjüngen, wird immer niedriger. Auf dem Platz neben 7A sitzt bereits die voluminöse Dame mit dem Absperr-Arm. Sie trägt eine Capri-Jeans, aus der champagnerfarbene Stützstrümpfe ragen, liest B.Z. und füllt ihren Reiseplatz komplett aus. Dass während der Fahrt die Sitze am Gang noch fünf Zentimeter zur Seite geschoben werden können, hilft überhaupt nichts, versperrt lediglich den einzigen Fluchtweg. Wie blanker Hohn erscheint die neue Busgurtpflicht – es gibt ohnehin kein Entrinnen. Auf 6C wird derweil eine mitgebrachte Frikadellenbox geöffnet, die sofort ihr kräftiges Zwiebel-Fett-Aroma verströmt, und unter den Mitgliedern einer kleinen Reisegruppe, bestehend aus drei Ehepaaren, herumgereicht. Hinter mir auf 8A und B wird ohne Unterlass gestritten.

»Wenn du nur einen Tag den Schnabel halten würdest und nicht rummotzen, das wär’ was. Sage ich mal was…«

»Du meckerst ja immer!«

»Wenn ich mal was sage, dann…«

»Das hab ich nicht verstanden. Ich möchte dich mal sehen, wenn du immer ›häh‹ zu mir sagst.«

»Häh, was sag ich?«

»Du guckst jetzt aus dem Fenster und sagst kein Wort mehr…«

Es sind vor allem Leute mit wenig Geld, die diese Tour mitmachen. Sie wirken so, als seien sie schon oft zu kurz gekommen in ihrem Leben.

Nach einer kurzen Begrüßungsdurchsage, in der sich unser Chauffeur als Dieter vorstellt und den weiteren Reiseverlauf skizziert, plärren gruselige Radiosender aus dem Hifi-technisch top ausgestatteten Luxusbus, erst Spree-Radio, dann Antenne Brandenburg, danach die von Mecklenburg-Vorpommern. Bei allem Ungemach wird Service im Bus ganz groß geschrieben. Auf Knopfdruck quält sich die burschikose Hostess Heike, 50, schwarze Lederhose, durch die Reihen und erfüllt dem Komfortreisenden fast jegliches Begehr: Bier gibt es, Wasser und Kaffee. Letzterer wird aber erst ab Autobahn serviert, denn in der Stadt schwankt es im Oberdeck wie auf einem Hochseekutter.

Es ist acht Uhr, als bei ihr die ersten drei Berliner Pilsener-Flaschen für drei Euro geordert werden. 7B isst derweil Dosen-Waffelröhrchen von Lidl und schwelgt mit der anderen Gangseite in Lutschbonbon-Phantasien; Süßwaren wie gefüllte Fasermint-Schokolade, Riesentafeln Milka oder englisches Weingummi sind Butterfahrt-Klassiker. Im Bus der Nikotinreisenden herrscht totales Rauchverbot, deshalb steht nach kurzer Fahrt die erste Zigarettenpause an: Alle fahren die Sitze nach innen, stehen mit eingezogenem Kopf im Gang und drängeln wieder, diesmal nach draußen. Zäh tröpfelt der Tross die Treppe herunter, zweiteilt sich in Richtung Rasthof-Windfang und Pachttoilette. Zwar steht auch eine bordeigene Toilettenkammer zur Verfügung, jedoch würde kaum ein Mitfahrender hineinpassen. Nach einer hastigen Kippe in morgendlicher Kühle geht es weiter. Hinter der Autobahn kommen wir an vereinzelten Plattenbauten, einem Baumarkt-Center und einer scheinbar endlosen Reihe Kasernen vorbei. Die letzte Strecke kurvt der Omnibus durch die waldige Ueckermünder Heide, als Dieter ein verlockendes Angebot macht: »Auf der Rückfahrt bieten wir wieder unsere leckere Wurscht an. Die Heike kommt jetzt mal und fragt, wer alles ne schöne, dicke Wurscht haben möchte, damit wir das passgenau vorbereiten können. Kostet 1,30.« Gegen 9.30 Uhr erreichen wir Ueckermünde. »Und wir sind wieder mal die ersten«, verkündet Dieter stolz per Durchsage. Die Fahrgäste trampeln und tuscheln anerkennend: »Ja, die anderen sind noch nicht da.« Jeder weiß: Der erste Bus zu sein, bedeutet freie Platzwahl an Bord der Fähre. Das ist jetzt, wo die letzten Duty-Free-Dampfer auch schon mal überbucht sind und Sitzplätze fehlen, besonders wichtig. Mit der strengen Warnung, auf der Heimreise im Bus keine Fischbrötchen zu essen, entlässt uns Holiday-Dieter in die Arme der Mitarbeiter der Reederei Peters, von denen uns zwei direkt vor dem Bus erwarten. Jetzt erhalten wir die vier verschiedenen Gutscheine für Schifffahrt, Begrüßungsdrink und so weiter. Die Pappbilletts sind schon reichlich abgegriffen, zum Glück treten sie mit uns zu ihrer letzten Reise an. Die Beamten in der winzigen Zollbude in der kleinen Hafenbucht lassen die Alten anstandslos ausreisen. Nur der Ausweis eines 30jährigen Mannes und meiner werden für ein paar Minuten von den Beamten einbehalten und durch den Computer gejagt. Offenbar besteht für uns beide kein Haftbefehl und wir dürfen einschiffen auf der MS Ute.

Die 20jährige Ute ist 38 Meter lang, zwölf Meter breit, hat einen Tiefgang von 2,50 Metern und eine Motorleistung von zweimal 419 Kilowatt. In zwei Raucher- und einem Nichtrauchersalon befördert sie 300 Personen. Im Eingangsbereich stehen Geldspielautomaten, im unteren Salon für die Raucher spielt ein Alleinunterhalter »Man müsste noch mal 20 sein, Junge, was wär’ das schön…«. An zwei Tresen gibt es Bier für 1,50 Euro, Kaffee für 1,40 Euro, beides plus 50 Cent Pfand. Trinkgelder sind die Ausnahme. Die Reederei Peters hatte neben der Ute noch das gleich große Schwesterschiff Liivi Laht im Rennen. Beide sind zum 1. Mai verkauft, fast alle Angestellten zum selben Stichtag beim Arbeitsamt angemeldet. Das Ende ist nahe, und deshalb wird nicht mehr investiert: Ute wirkt runtergewirtschaftet, die einfachen Holzstühle haben keine Kissen, Nikotinschwaden durchwandern alle Räume, viele Fensterscheiben, durch die wir das Stettiner Haff genießen sollen, sind blind.

Ich bekomme einen Platz im kargen Nichtrauchersalon, der von den ältlichen Drogenkurieren bevorzugt wird, die Zigaretten für andere beschaffen. Mit mir am Tisch sitzt ein Pärchen, das sich auf den ersten Blick von den anderen abhebt: Beide um die 60, aber er trägt ein Hemd und sie Goldschmuck und Lippenstift. Trotzdem genießen beide mit Hilfe von Gutschein Nr. 2 einen violetten, süßlichen Pflaumenschnaps als Begrüßungsdrink. Dazu wird von vielen Fahrgästen ein frisches Matjesbrötchen als passend empfunden.

Während der Fahrt ärgert sich das Snob-Pärchen mit dem Kreuzworträtsel der Bild-Zeitung: »Was ist denn Apfelwein?« – »Sze, ih, de, er, e.« – »Und hier, Gestalt der deutschen Heldensagen? Siegfried passt nicht.« Während wir gemächlich über die Uecker in Richtung Haff gondeln, komme ich ins Gespräch mit meinem Sitznachbarn Werner. Der Witwer ist 87 und aus Berlin, reist mit seiner Altersheimfreundin Gerda, 85. Früher war Werner BVG- und Taxifahrer in Berlin, heute bezahlt ihm das Sozialamt die Heimunterbringung. Er nimmt jede Woche an ein oder zwei preiswerten Ausflugsfahrten teil, im Moment konzentriert er sich ganz auf die letzten Butterfahrten, um noch so viele Zigaretten wie möglich ranzuschaffen. Dabei ist er selbst Nichtraucher, aber er vertickt den zollfreien Tabak an abhängige Mitbewohner weiter und macht damit pro Stange zwischen acht und zehn Euro Gewinn.

So hat er die Fahrtkosten samt Matjesbrötchen wieder raus, und trotzdem sind die Rauchwaren für die Heimbewohner immer noch billiger als am Kiosk. Damit ist jetzt Schluss. Zwar könnte Werner sich darauf verlegen, zukünftig mit polnischen Zigaretten zu handeln, die preiswerter sind als die deutschen. Aber in diesem Fall macht den Preisunterschied nicht die Steuerersparnis, sondern die Qualität aus. Werden jetzt Tabakwaren aus deutscher oder wenigstens westeuropäischer Produktion auf den Ausflugskuttern verkauft, sind die Zigaretten aus Polen und den anderen osteuropäischen Staaten von anderer Güte. Seinen Kunden, erzählt Werner, schmeckten die polnischen Zigaretten nicht. Außerdem geht das Gerücht, man bekomme von ihnen Ablagerungen in der Speiseröhre, die operativ entfernt werden müssten. Deutsche Glimmstengel sind natürlich gesünder…

Als wir die Ueckermündung verlassen, öffnen sich endlich die Türen zum Kleinpreisparadies, und es bildet sich eine Schlange quer durch den Raum. Auch Werner und ich stellen uns an, um nichts zu verpassen. Es geht eine steile Treppe hinunter im Heck des Schiffs. Hinter mir wartet eine vielleicht 70jährige Frau. Stufe um Stufe fällt sie voran, im schmerzverzerrten Gesicht steht: »Auch ich habe ein Recht auf billige Zigaretten.« Denn auch die Lahmen und Fußkranken müssen die letzten Meter selbst zurücklegen – es ist wie eine peinigende Wallfahrt. Endlich darf ich einen Einkaufskorb nehmen. Im fensterlosen Intershop werden die Duty-Free-Klassiker in aschfahlem Neonlicht präsentiert. Gleich am Eingang liegen Hunderte der begehrten Zigarettenstangen in Metallregalen. Eine Stange West kostet zehn Euro, Marlboro zwölf, No-Name-Zigaretten gibt es ab acht.

Pro Kopf dürfen 200 Zigaretten zollfrei eingeführt werden, also eine Stange. Dazu kommen die Stangen, die Werner auf nicht rauchende Begleiter verteilt, und die losen Zigarillo-Schachteln, die er in Jacken- und Hosentaschen schmuggelt. Auch ich nehme eine Stange von ihm auf mein Kontingent. Es folgen Spirituosen und Bier, Schokoladen und Gummibärchen in Großpackungen, ein paar Produkte aus dem Bereich der Nahrungsmittelergänzung wie Magnesium-Sprudeltabletten für 51 Cent und als kaum beachtete Bückware kurz vor der Kasse Seife, Kaffee und die Namenspatronin: Markenbutter. Ich kaufe ein Fläschchen Danziger Goldwasser für 6,90 Euro. An der Kasse gibt es für den Gutschein Nr. 3 das Reederei-Geschenk: eine Dose Wiener Würstchen von Aldi. Der Parfüm-Shop im Oberdeck erfreut sich dagegen keiner großen Beliebtheit. Bei Bedarf eilt eine Mitarbeiterin aus der Kombüse herbei, um Düfte vorzuführen. Pour homme gibt es auch nur noch Aftershaves. Wer was von Gucci kauft, kriegt den Tester gleich mit dazu, denn der wird nicht mehr gebraucht. Aber kaufen tut dann doch keiner, trotz Preissenkungen. Also hetzt die patente Verkäuferin wieder zurück und kümmert sich als Köchin ums Mittagessen.

Gegen 11.30 Uhr ist es an der Zeit, den letzten verbliebenen Gutschein bereitzuhalten. Das Mittagessen wird aufgetragen. Es gibt für jeden einen Teller mit einem Königsberger Klops, zwei Kartoffeln und einem Klecks Weißkohlsalat. Als dem Mütterchen mit Gehstuhl serviert wird, ruft sie »Bitte einpacken!« – »Eingepackt wird nicht«, schallt es vom Steward zurück. »Ich darf kein Rind und kein Schwein essen!« erklärt sie in den Raum, als er längst wieder zum Nachschub zu holen verschwunden ist. Trotzdem argwöhnisches Getuschel und Kopfschütteln an allen Tischen: »Pö, haste das jehört: Darf keen Rind und keen Schwein essen. Soll se doch zu Hause bleiben!« Wir erreichen den Hafen von Swinemünde. Kaum einer blickt nach draußen. Was gibt es da schon zu sehen, das Ufer sieht ja auf beiden Seiten der Grenze gleich aus. Nicht mal im Hafen von Swinemünde lässt sich viel mehr als der Rest einer abgewrackten polnischen U-Boot-Flotille ausmachen, weil unser Schiff nur in einem industriellen Seitenhafen anlegt, um die Hafengebühren zu sparen. Von der Reling aus beobachten ein paar Nikotinleichen, wie ein Mitarbeiter der Hafenverwaltung – vielleicht auch ein polnischer Zollbeamter – ins Schiff steigt. Die Lautsprecherdurchsage erklärt uns, dass bürokratische Zollformalitäten zu erledigen sind und der Shop so lange leider schließen müsse. In diesen Minuten ist die Fahrt auf ihrem traurigen Tiefpunkt angelangt: Theoretisch sind wir jetzt in Polen, praktisch sehen wir nichts, sind nur gestrandet in einem Industriehafen ohne menschliches Leben. Die Zeit steht still: Willkommen in der EU! Und der Shop ist auch geschlossen. Dann endlich: Leinen los für die Rückfahrt. Es ist 14.30 Uhr und die Gespräche im qualmenden Salon Tristesse werden lauter, die Biere und der Sauerstoffmangel lassen die Stimmung steigen. Irgendwo gibt es Ärger, weil ein Duty-Free-Kunde eine soeben gekaufte Schnapsflasche leert. Das ist natürlich verboten, Korkgeld wird fällig. »Guck mal«, sagt Werner zu seiner Begleiterin und zeigt aus dem Fenster: »Polnische Möwen.« Auch für sie wird das Überleben schwerer, wenn die Tagestouristen ausbleiben und nicht mehr mit Brot und Zigarettenstummeln nach ihnen werfen. Wenn es keine Butterfahrten mehr gibt, wollen Werner und Gerda wieder mehr mit der Bahn fahren. Wegen seines Behindertenausweises kann sie als Begleiterin mit, dann ist es bezahlbar. »Ja, ja, Holiday hat auch schon umgestellt«, krächzt er im Berliner Fistelton, »die fahren jetzt viel in den Harz, für 10 Euro nach Quedlinburg. Ich hab uns schon angemeldet.«