Die schmutzige Wäsche

Im bulgarischen Kotschan werden Billigtextilien produziert. Wie die Arbeit in einem Sweatshop das Dorfleben verändert. von peter pirker und jutta sommerbauer

Der Termin mit dem Bürgermeister ist geplatzt. Aus der Besichtigung der Textilfabrik wird nichts. Die Sekretärin kann da wirklich nichts machen. Im Nachbardorf habe es etwas sehr Dringendes gegeben, und die neue Handynummer ihres Chefs habe sie leider nicht. So stehen wir etwas ratlos auf dem Dorfplatz von Kotschan herum, einer 4 000-Einwohner-Gemeinde im gebirgigen Süden Bulgariens. Die Sonne scheint, es herrscht emsige Betriebsamkeit. Autos und Pferdekarren fahren vorbei, Schüler des Gymnasiums vertreiben sich die Mittagspause im Ortszentrum, Frauen kaufen in den kleinen Läden ein, hin und wieder schreit ein Esel inmitten der Dorfidylle.

Doch wozu auf den Bürgermeister warten? Wir fragen eine der Frauen, die in der Fabrik arbeiten. Maria ist gerade auf dem Weg in den Betrieb. »Klar könnt ihr euch die Fabrik ansehen«, meint sie und bedeutet uns mitzukommen. Sie arbeitet dort als Übersetzerin für Griechisch. Wir folgen ihr auf einem Trampelpfad, der von der Dorfstraße abzweigt und an Gemüsegärten vorbei auf eine Anhöhe führt. Wo soll hier eine Fabrik sein? Maria geht auf ein Gebäude zu, das aussieht wie eines der größeren Wohnhäuser im Ort: unverputzt, zweistöckig, am Vorbau wurde eine riesige Satellitenschüssel befestigt. Ein Firmenschild ist nicht zu sehen, dafür klebt an der Eingangstür ein handgeschriebener Zettel: Betriebsfremden Personen ist der Zutritt strengstens untersagt.

Hinter der Tür verbirgt sich eine Produktionshalle, im grellen Neonlicht sitzen etwa 35 Frauen in drei Reihen an Nähmaschinen; zu deren immer wieder einsetzendem Rattern tönt Schlagermusik aus mehreren Boxen. Von der Beschaulichkeit des Dorfes ist hier drinnen nichts mehr zu spüren. Neben den Arbeitsplätzen liegen Berge von zugeschnittenen Stoffen, mit wenigen Handgriffen verarbeiten die Frauen die Teile zu Textilien. Sie holen die Stücke unter den Nähfuß, ziehen sie an zwei oder drei Stellen durch, und fertig ist die Bluse. Im hinteren Bereich der Halle bedienen einige Männer große Bügelmaschinen. In der Halle ist es heiß, einige Ventilatoren können da nicht viel ausrichten.

70 Frauen arbeiten hier in zwei Schichten, erklärt Maria und zeigt uns die Glanzstücke der aktuellen Sommerkollektion: Konfektionsbekleidung für Damen, Röcke und Blusen in schreienden Farben, für den Export nach Westeuropa, Marke Billigsdorfer. Der griechische Besitzer habe in den umliegenden Dörfern noch einige weitere Produktionsstätten. Aufträge werden aber auch von dieser Fabrik an andere, noch kleinere Fabriken weitergegeben, vor allem für T-Shirts oder Unterhemden. »Big Sell« laute der Name der Firma in Griechenland, erzählt Maria. Sonst weiß sie wenig über die Firma zu berichten. Eine Arbeiterin schimpft über das, was sie hier tun muss: Kragen annähen. Seit vier Jahren sitzt sie an dieser Nähmaschine. »Bulgarien ist schön, aber arm, das ist die größte Wahrheit.«

Kotschan ist einer jener Orte, wo die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« den Rhythmus des Lebens bestimmt. Da liegen Sweatshops unmittelbar neben kleinen Feldern, wo in mühsamer Handarbeit Tabak gezogen und Subsistenzwirtschaft betrieben wird; Autos und Eselkarren bewegen sich gleichermaßen über die holprigen, bei Regen in tiefem Schlamm versinkenden Dorfwege, und ältere Frauen, bekleidet mit Kopftuch und traditionellen Gewändern, laufen neben Mädchen in knappen Miniröcken über den Platz. Mit dem Nachbarn wird via Handy telefoniert, und seit etwa zwei Jahren haben in Kotschan auch die virtuellen Welten Einzug gehalten. Im Internetcafé, das rund um die Uhr geöffnet und für die Jugendlichen überhaupt the place to be ist, chattet man am liebsten mit Freunden aus dem Nachbardorf oder verschickt SMS an eine Bekannte um die Ecke.

Kotschan, eine Autostunde von der nächsten größeren Stadt entfernt und nur über eine stetig ansteigende, schlecht asphaltierte Landstraße zu erreichen, hat einen Standortvorteil zu bieten: billige, jederzeit abrufbare Arbeitskräfte mit wenig Aussicht auf attraktivere Beschäftigung. Das Dorf, das von Pomaken, muslimischen Bulgaren, bewohnt wird, liegt in einer industriell nur gering entwickelten Region. In der Zeit des Staatssozialismus bot vor allem die Tabak-Genossenschaft Arbeit. Seit der Wende werden Tabak und Kartoffeln privat und auf Kleinstflächen angebaut. Die Tabakernte kauft ein Großhändler, der zu diesem Zweck alljährlich ins Dorf kommt. Das Gemüse deckt den Eigenbedarf. Arbeit ist Mangelware, und deshalb funktionieren die Nähereien wie ein Schwamm. Mittlerweile arbeitet der Großteil der weiblichen Dorfbevölkerung, etwa 700 Frauen, in einer der zahlreichen Produktionsstätten. Viele männliche Dorfbewohner jobben im Ausland.

Kotschan ist typisch für die Region. Seit etwa zehn Jahren boomt in den westlichen Rhodopen die kleinstrukturierte Textilarbeit. Die Produzenten investieren nicht mehr Geld als unbedingt notwendig in die Betriebe. Viele Fabriken gleichen Baracken oder werden in bereits vorhandenen Räumlichkeiten, etwa der ehemaligen landwirtschaftlichen Genossenschaften, in leer stehenden Häusern oder größeren Garagen untergebracht. Anfangs waren es vor allem Unternehmer aus Griechenland, die von der Abgeschiedenheit und der ökonomischen Rückständigkeit auf der bulgarischen Seite der Grenze profitierten. Bald versuchten sich auch Bulgaren in dem Geschäft, es begann ein Wettbewerb mit Dumpingpreisen, die etliche der neuen Unternehmer schnell in den Ruin trieben.

Kurzfristig hat sich das Gedränge um billige Arbeitskräfte in der Region positiv auf die Löhne ausgewirkt, doch diese Phase ist vorbei, seit sich ähnliche Produktionszonen im restlichen Bulgarien etabliert haben. Der Lohn, der einer Näherin hier gezahlt wird, ist etwa sieben Mal niedriger als in Griechenland; von Deutschland, wo es de facto keine Textilproduktion mehr gibt, gar nicht zu reden. Die Sweatshops sind in Produktionsketten eingebaut, deren einzelne Glieder größtenteils auf Abruf produzieren und zeitlich gebundene Aufträge für die Stammunternehmen jenseits der Grenze erledigen.

Achmed und Kadifeja Paschalievi haben nie in einer Fabrik gearbeitet. Im Dorf sei immer nur Tabak angebaut worden, bekräftigen die Alten. Eine Kuh, ein Esel und fünf Schafe zählen zum Besitz der beiden. Achmed Paschaliev hat schon als Kind Schafe gehütet. Die umliegenden Dörfer hat er zwar von den Weiden aus gesehen, dort gewesen ist er aber nie. Er berichtet von den Mühen des Tabakanbaus und erkundigt sich nach dem Klima und der Qualität der Böden in Mitteleuropa. Borjana Uscheva, eine seiner Töchter, ist zu Besuch im elterlichen Haus. Die 29jährige arbeitet in einem kleinen Textil-Sweatshop, in dem insgesamt 20 Arbeiterinnen in zwei Schichten tätig sind. Vor allem Unterhemden und T-Shirts werden in der unscheinbaren Baracke mitten im Dorf genäht. Ihre Schwester hat ihr die Arbeit vermittelt. Mittlerweile laufe die Maschine wie von allein, meint sie und lacht. Zu Beginn war das freilich noch ganz anders: »Ich arbeitete eine Woche lang, kam krank nach Hause, mein Kopf tat mir schrecklich weh, und ich sagte zu meiner Schwester: ›Ich gebe auf, ich kann so etwas nicht nähen.‹ Sie antwortete mir: ›Du musst dich zusammennehmen! Schau nur, welche Frauen nähen gelernt haben, und du sollst es nicht können?‹ Und so habe ich mich an die Sache gewöhnt. Eine Woche, zwei Wochen – ich nähe, meine Schwester trennt es auf, ich nähe, sie trennt es auf!«

Die ersten drei Monate, erzählt Uscheva, bekämen die Näherinnen nur ein Lehrlingsgeld von 140 Leva, knapp 70 Euro. Das entspricht in etwa dem Mindestlohn. Später, wenn die Hände flink geworden sind, besteht Aussicht auf eine Lohnerhöhung. Sobald ein bestimmtes Niveau an Fertigkeit erreicht ist, folgt die Bezahlung den Stückzahlen. Wird die Mindestzahl nicht erreicht, droht über kurz oder lang der Rausschmiss. Manchmal wird auch in drei Schichten gearbeitet: »Es kann passieren, dass wir auch eine Nachtschicht machen, wenn es eine große Bestellung gibt«, erklärt Uscheva. »Du warst in der ersten Schicht von 5 bis 13 Uhr, während der zweiten Schicht ruhst du dich aus und dann gehst du noch mal von 22 bis 5 Uhr früh hin.« Extra Bezahlung dafür: keine. Gewerkschaften? Gibt es nicht.

Mit einer Industrialisierung, die nach einer gewissen Phase traditionelle Erwerbsquellen ablöst, ist in der Gegend nicht zu rechnen. Die Lohnarbeit in den Fabriken führt keineswegs zu einer Verdrängung des Tabakanbaus. Der Grund dafür ist simpel: Ohne das eine oder das andere ginge es nicht. »Mit dem Lohn können wir nur die laufenden Kosten decken. Den Tabak bauen wir das ganze Jahr an. Am Ende des Jahres kauft man ihn dir ab, und du bekommst auf einmal das ganze Geld. Damit kaufst du dir dann etwas Größeres, was du im Haus so brauchst«, sagt Uscheva. Die Tage nehmen ihren Lauf: Kühe, Tabak, Arbeit, Kinder, Kühe, Tabak …

Überall in der bulgarischen Industrie wurden in den neunziger Jahren Arbeitsplätze abgebaut, einzig in der Textilbranche gab es einen Zuwachs. Heute sind dort die meisten Menschen beschäftigt, offiziell sollen es etwa 200 000 sein. Die Sofioter NGO »Bepa«, die zur Clean-Clothes-Kampagne gehört, schätzt die reale Zahl der ArbeiterInnen auf das Doppelte, da der Anteil der so genannten Schattenwirtschaft extrem hoch ist. In der Branche, in der vor allem weibliche Beschäftigte arbeiten, dominieren vor allem Klein- und Mittelbetriebe, die zu 90 Prozent für den europäischen Markt produzieren. In den bulgarischen Läden findet man die im Land hergestellten Textilien nur selten. Der heimische Markt wird von Produkten aus der Türkei und aus China dominiert.

Illusionen über Nachhaltigkeit der Textilproduktion macht sich in Kotschan ohnehin niemand. Der Regionalpolitiker Stefan Hadschiev von der wirtschaftsliberalen Partei SDS betont, dass der Tabakanbau auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird. Die Arbeit in den Textilbetrieben sei prekär, man verdiene einfach nichts. »Wir sind unter Druck, es gibt keine Arbeit, die Leute werden ausgenutzt, gleichzeitig haben wir einfach keine Wahl«, meint Hadschiev achselzuckend und erläutert das ABC des Kapitalismus. »Das sind halt Unternehmer. Sie kommen, um Profit zu machen. Wofür sollten sie sonst nach Bulgarien kommen?« Vorübergehend hat auch er sein Glück als Subunternehmer versucht, doch wie viele andere ist er damit gescheitert. Nun ist er Angestellter einer Bank und probiert neben dem Tabakanbau etwas Neues. Zwischen einigen Tabakfeldern pflanzt er Apfelbäumchen an. »Mal sehen, ob es funktioniert.« Auch das örtliche Internet-Café geht auf seine Initiative zurück, und der Laden läuft. Um die Ausbildungszeiten in den Fabriken abzukürzen, haben die Unternehmen mit dem örtlichen Gymnasium eine Vereinbarung getroffen. Eigene Kurse bereiten überwiegend Mädchen auf die Textil- und Schuhproduktion vor. Ab dem 15. Lebensjahr lernen sie hier das Einmaleins des Nähens und arbeiten nebenbei stundenweise in den Fabriken, selbstverständlich unbezahlt. Der Andrang hält sich in Grenzen. Vor allem schlechte Schülerinnen besuchten diese Klassen, erklärt Galap Tschauschev, der Direktor des Gymnasiums.

Die Textilproduktion hat jedenfalls nicht dazu beigetragen, den Leuten eine Perspektive zu geben. Der Trend zur Abwanderung, vor allem der Jungen, die in der Stadt oder im Ausland nach Arbeit suchen, ist ungebrochen. »Im Jahr 1988 wurden in Kotschan noch 40 Häuser gebaut. Heute können die Leute die Häuser kaum noch erhalten. Man lebt einfach von einem Tag auf den anderen«, meint er. Seine 18jährige Tochter Radostina, die eine weiterführende Schule in Blagoevgrad besucht, findet, dass die Dorfbevölkerung an der wirtschaftlichen Misere eine Mitschuld habe. Sie ärgert sich über deren Ignoranz. »Sie haben nicht einmal den Wunsch, etwas Neues zu lernen, sich der Welt zu öffnen, statt sich dauernd zu beschweren. Immer brauchen sie jemand, der ihnen sagt, was zu tun ist.« Woher das kommt, ist für sie sonnenklar. Der Kommunismus habe die Leute verdorben.

Seit sie ein Schuljahr in Amerika verbracht hat, ist sie der ganze Stolz der Familie. Dort werde niemand so unterdrückt wie hier die muslimischen Frauen. »Sie müssen zehn, zwölf Stunden in den Fabriken arbeiten, dann noch zu Hause und auf den Feldern. Von der Regierung erhalten sie nichts.« In Amerika arbeiteten die Leute auf Bio-Farmen, um gesunde Lebensmittel anzubauen, in Kotschan habe man gerade genug zu essen. Auch die Religion werde in Amerika respektiert, hier verliere sie immer mehr an Bedeutung, statt dessen nähmen Alkohol, Drogen und andres Teufelszeug überhand. »Die Religion aber hält doch die Gesellschaft zusammen, sie gibt uns eine Richtung!« Radostinas Lieblingsthema ist aber der Jugendschutz. Politikerin zu werden, könne sie sich durchaus vorstellen. Oder vielleicht doch in die USA? Das Problem, sagt sie, ist die schwierige Einreise.

Mehr als 200 Bewohner von Kotschan haben es bereits gelöst. Sie haben in der Green-Card-Lotterie den begehrten Einreisescheck gewonnen. In der Umgebung ist Kotschan deshalb als das »amerikanische Dorf« bekannt; die Spenden der glücklichen Emigranten sollen bereits in die Renovierung des Kindergartens, der Schule und der Moschee geflossen sein. Wer weniger Glück im Spiel hat, den zieht es in den Sommermonaten über die Grenze zu den Tabakplantagen in Griechenland. Auch Borjana Uscheva verlässt von Juli bis September die Textilfabrik. »Nicht dass es angenehm wäre, nach Griechenland zu gehen, aber sie bezahlen besser.«

Die Arbeit ist nicht weniger mühsam. Während der Erntezeit wird um zwei Uhr früh im Lampenlicht mit dem Pflücken der Tabakblätter begonnen. Die Textilproduzenten lassen die Arbeiterinnen nur ungern gehen. »Sie werden böse auf uns. Aber was soll’s, sie zahlen zu wenig.« Wenn sie im Herbst zurückkommt, wird Uscheva keine Schwierigkeiten haben, in derselben Fabrik wieder eingestellt zu werden. »Sie brauchen uns einfach«, sagt sie. Dies führt freilich nicht dazu, dass die Löhne steigen. Auch Überstunden bezahlen die Unternehmer nicht. Manche Arbeiterinnen weigern sich deshalb, welche zu leisten, auch wenn es für die termingerechte Lieferung einer Bestellung notwendig wäre. Probleme mit den Chefs gebe es deswegen nicht, meint Borjana Uscheva. »Es gibt eben keinen Anreiz, länger zu bleiben.« So dringend werden die Arbeiterinnen dann offenbar doch wieder nicht gebraucht. Es gibt noch andere Garagen, in denen Nähmaschinen rattern. Mehr als einen bescheidenen Beitrag zur gesamten Reproduktion der Arbeitskraft muss die vierzig- bis fünfzigstündige Lohnarbeit pro Woche hier gar nicht leisten.