»Die östliche Seite des Täterlandes«

Ein Gespräch mit anetta kahane über Rassismus und Antisemitismus in der DDR

Als Titel Ihres gerade erschienenen Buches haben Sie einen Kinderreim gewählt: »Ich sehe was, was du nicht siehst.«

Ich suchte einen Titel, der beschreibt, was in der DDR mit uns geschah. Man versuchte uns immer die Wahrnehmung der Wirklichkeit auszureden. Wie oft bekam ich zu hören: »Das siehst du falsch!« Während ich das Buch schrieb, sprach ich darüber mit einer Kollegin, und da kamen wir auf dieses Spiel, das ich als Kind – vor allem auf langen Autofahrten – sehr mochte.

Können Sie sich noch erinnern, wann Ihnen zum ersten Mal auffiel, dass Sie in der DDR um Ihre Wahrnehmung betrogen werden sollten?

Wenn man so aufwächst, ist es zunächst etwas Unbewusstes. Um es dann zu reflektieren, braucht man eine gewisse Reife. Dazwischen dachte ich eine Weile, es wäre nur mein Problem. Aber ich hatte Gegenbilder davon, wie Menschen sich anders verhalten könnten oder wie Bedingungen sein sollten. Das funktionierte wie eine innere Videokamera. Ich sah vor meinem inneren Auge ständig alternative Handlungsmöglichkeiten. Als ich dann mit der Wende in der DDR die Möglichkeit bekam, die Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule e.V. (RAA) aufzubauen, waren mir natürlich diese Ideen sehr hilfreich.

Woher hatten Sie diese Ideen von anderen Handlungsmöglichkeiten?

Vielleicht aus meinen eigenen Wünschen. Man ist ja als Mensch nicht nur ein empfangendes, sondern auch ein selbst gestaltendes Wesen. Ich wollte eine Kultur des Respekts und der Lebensfreude, statt Enge, Bevormundung und Ausgrenzung. So wie manchmal Jugendliche zusammen überlegen, was er oder sie hätte anders machen können in bestimmten Situationen, die schief gelaufen sind, hatte ich das als eine Art Komplettprogramm. Und ich habe die DDR, im Gegensatz zu vielen anderen, auch nie als »warm« empfunden. Ich fand sie eher »hart« und »kalt«.

In Ihrem Buch schreiben Sie: »Das Gegenteil von Faschismus ist nicht Antifaschismus, sondern demokratische Kultur.« Was meinen Sie damit?

Dazu muss ich eine Geschichte erzählen, die ich im Buch leider vergessen habe. Ich konnte, obwohl ich die Philosophie liebte, Marxismus-Leninismus nicht leiden, denn er hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Ein Professor dieses Fachs stellte mir während einer Prüfung die Frage: »Was ist das Gegenteil von schwarz?« Ich dachte mir, die Antwort »weiß« wäre zu einfach, und sagte deshalb: »grau?« Dafür bekam ich eine fünf. Das Gegenteil von schwarz sei – so erklärte er mir – die Vielfalt aller anderen Farben. Darüber habe ich oft nachgedacht. Das leuchtet mir bis heute ein. Das Gegenteil einer ideologischen Gesellschaft ist die Vielfalt und nicht eine neue Ideologie. Natürlich soll sich die Gesellschaft an Werten orientieren, aber die müssen auch miteinander ausgehandelt werden. Es muss zwischen dem Setzen von Werten und dem Aushandeln eine Verbindung geben. Das war mir damals nicht so klar. Doch später konnte ich das ausprobieren.

Für viele Menschen ist »Antifaschismus« bis heute ein positiver Begriff.

Man muss sich noch einmal klar machen, wie die DDR und der Antifaschismus überhaupt entstehen konnten. Mit welchen Utopien sind Menschen nach dem Nationalsozialismus da hineingegangen? Wie human waren solche Vorstellungen? Für wen war die Sowjetunion und ihre Präsenz in der DDR eine Befreiung, und für wen war das eine Besatzung? Darüber wurde bei uns zu Hause nicht gesprochen, doch für uns war die Antwort klar. Menschen wie meine Eltern z. B., die aus der Emigration zurückkamen oder Überlebende waren, dachten sich eben: »Wir wollen jetzt hier einmal etwas ganz anderes versuchen. Das ist das Täterland. Wir wollen hier nicht alle ohne Unterschiede dafür verantwortlich machen, sondern Bedingungen schaffen, dass alles anders wird.« Der Stalinismus war die eine Seite – das Ende des Nationalsozialismus und Deutschlands Neuaufbau die andere. Alle wussten spätestens nach Stalins Tod auch von den Verbrechen. In Deutschland wurden zwei Varianten des Neuaufbaus probiert. Die östliche hatte zwar möglicherweise einen humanistischen Impetus, doch gleichzeitig den großen Geburtsfehler des Stalinismus. Im Westen waren die Altnazis in wichtigen Ämtern, das wäre für meine Eltern inakzeptabel gewesen. Ich habe lange die Entscheidung meiner Eltern, in die DDR zurückzugehen, vor mir verteidigt. Hätte ich das nicht getan, dann wäre es gar nicht auszuhalten gewesen.

Wurde in den Familien der DDR über den Nationalsozialismus gesprochen?

Natürlich ganz verschieden. Der gefallene Vater in Frankreich, die Schlacht in Stalingrad etc., das war natürlich im Gespräch zwischen den Generationen ganz präsent, aber was das bedeutet und welche Schlüsse daraus zu ziehen wären, blieb unreflektiert. Es gab eben in der DDR auch keine Generation, die gefragt hat: »Wieso habt ihr zugelassen, dass …« Wir – die Kinder von jüdischen Emigranten – hatten beim Sprechen über die Vergangenheit einen Nachteil und ein Problem. Unsere Eltern hatten eine ganz andere Geschichte, über die sie, wenn überhaupt, nur vorsichtig erzählten und keineswegs unbefangen. Vielleicht haben sie es einfach nicht ausgehalten. Das ist für Kinder natürlich immer schwer. Dieses Problem hatten meine deutschen Klassenkameraden nicht.

Es gab unterschiedliche Wörter, die wir benutzten. Wir Kinder von Antifaschisten und Juden verwendeten natürlich niemals Wörter wie »gefallen« und »fürs Vaterland« etc. In unseren Sätzen gab es nur »umgekommen«, »vergast«, »deportiert«, »ermordet« und »auf der Flucht erschossen«. Und damit waren wir wenigen ziemlich allein.

Mich hat immer gewundert, dass es die Rebellion gegen die Nazi-Eltern in der DDR nicht gegeben hat.

Die DDR war ein autoritäres System, in dem es keine öffentlichen Diskurse geben durfte. Dazu kam: Man musste sich damit nicht auseinandersetzen. Die Theorie sagte ja: Die Wurzeln des Faschismus liegen im Kapitalismus, wenn wir den Kapitalismus abgeschafft haben, brauchen wir über den Faschismus nicht mehr zu reden. Das war natürlich eine gigantische Exkulpation für jeden einzelnen Menschen. Es gab also auch gar keinen Grund, die Geschichten aus der Nazizeit nicht zu erzählen. Schuld waren ja Hitler und das Großkapital. Warum sollte sich da die zweite Generation mit den unbequemen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus herumschlagen? Die Kinder von Tätern und Mitläufern rieben sich an der DDR. Die Forderung nach demokratischer Öffentlichkeit entstand in der DDR der siebziger und achtziger Jahre ja dann aus anderen Konflikten heraus, z. B. um Aufrüstung, Ökologie und andere Themen. Das war ja auch legitim und wichtig. Alles andere, wie auch der Umgang mit Minderheiten, blieb so natürlich ausgespart.

Es gab ja überhaupt keine funktionierende Zivilgesellschaft in der DDR.

Wenn man keine kritische Öffentlichkeit hat, dann gibt es keine Demokratie. Dann kann man Gefährdungen der Menschenrechte auch nicht sichtbar machen und nicht bekämpfen. Nur im Einzelfall vielleicht, wenn man jemanden beim Politbüro kannte. Doch das ist nicht Demokratie und Gerechtigkeit, sondern ein feudaler Gnadenakt, der zu Diktaturen dazugehört. Deshalb konnte man ja auch durch eigene Aktivitäten nichts bewegen, und das Gefühl für eine Selbstwirksamkeit konnte sich nie entwickeln. Heute spricht man immer über die »Lethargie« vieler Menschen im Osten. Sie rührt ja genau daher. Konfliktfähigkeit und öffentliche Auseinandersetzungen haben miteinander zu tun. Fehlt beides, ist die Folge natürlich eine unglaubliche Aggression.

Aggressionen, wie sie in den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sichtbar wurden, deuteten sich vor 1989 schon an?

Minderheiten wurden in der DDR vollkommen ausgeblendet, ausgeklammert und als nicht dazugehörig behandelt. Dass ist eine sehr aggressive Form von Nichtachtung. Wenn man Minderheiten wahrnahm, dann meist nur stereotyp oder als Gruppe – nicht als Individuen und schon gar nicht als gleichwertige. Das hat der Staat durch seine Gesetze vorgemacht. Das ist heute ja auch nicht anders. Wenn der Staat z. B. Flüchtlingen Residenzpflicht verordnet, sie eine Stadt nicht verlassen dürfen, dann braucht man sich doch nicht zu wundern, wenn Rechtsradikale sich als Vollstrecker sowohl des Volkswillens als auch des politischen Willens gleichzeitig ansehen, wenn sie Flüchtlinge durch Straßen jagen. Das war alles in der DDR auch so. Es gab überhaupt kein Asylrecht. Es gab nur die Sklavenhalterverträge mit einigen Staaten. Die Arbeiter und Arbeiterinnen aus diesen Ländern wurden auf unmenschliche Weise untergebracht und dabei ihrer Grundrechte beraubt. Frauen, die schwanger wurden, stellte man vor die Alternative Abtreibung oder Rücktransport ins Heimatland. Das ist doch Nötigung. Es gab auch Übergriffe auf sie. Kontakte zwischen Deutschen und Ausländern waren eher selten. Sie lebten abgeschottet in Wohnheimen, auf 20 Quadratmetern mindestens vier Menschen, ohne jede Intimsphäre, so war es in den Verträgen festgelegt.

Wieso gab es denn niemanden in der DDR, der sich die Anliegen der Nicht-Deutschen zu eigen machte?

Doch, vor allem im kirchlichen Umfeld gab es einige Menschen, die sich mit der Situation und den Anliegen von Ausländern beschäftigten. Aber generell galt: Wenn man die Familiengeschichte nicht aufarbeitet, wenn man die kollektive Geschichte – der Gesellschaft und des Gemeinwesens – nicht aufarbeitet, wenn man die Opfer dieser Geschichte und die eigene Täterschaft ausblendet, wenn man keinen eigenen Zugang zu Minderheiten entwickelt, wenn es keine kritische Öffentlichkeit gibt und wenn man darüber hinaus das Gefühl von Scham nicht kennt und kein Unrechtsbewusstsein entwickelt, dann sieht man natürlich auch die neuen Minderheiten nicht.

Die nachnationalsozialistische DDR pflegte ja auch deutlich einen Antisemitismus und Antiamerikanismus. Wie funktionierte das in der DDR?

Ausgangspunkt war eine Kritik am entfesselten Kapitalismus, die allerdings in vielen Fällen mehr transportierte. Darin steckten natürlich auch die Klassiker der verkürzten linken Sichtweise: Die Unterdrückten sind immer gut, und die Kapitalisten sind an allem schuld. Aber darin steckt eben auch Antisemitismus – da geht es um Finanzkapital oder auch das »raffende Kapital«, das dann auch antisemitisch personifiziert wird. Die Dämonisierung und Delegitimierung Israels, das übrigens nie von der DDR anerkannt wurde, gehörte zum publizistischen Alltag in der DDR. Und die USA waren das Böse schlechthin. In beidem zeigte sich unverhohlener Antisemitismus. Die Stimmung heute erinnert mich oft an diese Zeiten. Und es gab auch sehr heftige antisemitische Töne während des Umbruchs in der DDR. Juden sind ja immer an allem schuld, sowohl am Kapitalismus wie am Kommunismus. Auch deswegen war vielerorts die Nomenklatura so verhasst, weil es in ihr auch einige Juden gab.

Sie verwendeten vorhin Begriffe wie »Schuld« und »Scham«. Das sind Dinge, die eine demokratische Öffentlichkeit allein nicht bewirken kann.

Aber wenn überhaupt ein System das herstellen kann, dann ist es die demokratische Öffentlichkeit. In einem autokratischen System können »Schuld« und »Scham«, die ja individuelle Formen der Auseinandersetzung mit Verbrechen sind, nicht entstehen. Ein autokratisches System verlängert Haltungen wie z. B. den Autoritarismus durch sich selbst.

Und man muss ja auch bedenken, dass die DDR in der Tradition einer langen Kette undemokratischer Systeme stand. Nach dem Kaiserreich kam die kurze und halbherzige Episode der Weimarer Republik, und schon ging es weiter mit dem Nationalsozialismus und dann dem Sozialismus. Autoritäre Realität und Erziehung, verdrängter Völkermord und Obrigkeitsgesinnung – das erzeugt gesellschaftlich gewiss alles andere als menschliche Wärme.

Wenn ich mich heute gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus engagiere, dann bemühe ich mich immer, diejenigen zu unterstützen, die zur Empathie fähig sind. Ich versuche ihnen die Unterstützung zu geben, damit sie das ausdrücken können.

Es wäre wirklich wichtig, dass man ein psychologisches und soziologisches Bild von der östlichen Seite des Täterlandes entwirft. Was bedeutete das eigentlich, dass man die ganze Zeit abgeschlossen war von der Auseinandersetzung mit dem Holocaust? Wo sind eigentlich unter diesen Bedingungen die ganzen verdrängten Geschichten geblieben? Das ist bislang unbesprochen. Man weiß nicht, was das mit den Generationen, die nach 1945 im Osten groß geworden sind, gemacht hat. Als es kurze Zeit die Debatte um Rechtsextremismus im Osten gab, habe ich u. a. mit Bernd Wagner argumentiert, dass es in Deutschland eine lange antidemokratische Tradition gibt. Da geht es nicht nur um Rechtsextremismus, da geht es um die Gesellschaft insgesamt. Demokratisierung ist allein durch die Einführung der parlamentarischen Formen der Demokratie nicht zu bewirken. Parlamente sind heute noch wie der Schnittlauch auf einer ganz anderen Suppe. Die Debatte um Rechtsextremismus war ziemlich schnell vorbei; eine wirkliche demokratische Kultur steht bis heute aus.

interview: martin jander

Anetta Kahane: Ich sehe was, was du nicht siehst. Meine deutschen Geschichten, Rowohlt, Berlin 2004, 351 S., 19,90 Euro

Zentrum Demokratische Kultur, Amadeu-Antonio-Stiftung (Hrsg): Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Antisemitismus und Antiamerikanismus in Deutschland, Ernst-Klett-Schulbuch-Verlag, Leipzig 2004, , 112 S., 7,50 Euro