Keine Ehrfurcht vor der heiligen Schrift

Die Literatur braucht endlich so viel Montage, wie Hip Hop und Cut-up versprochen haben. von daniel kulla

»To condition your condition we’re gonna do a song that you never heard before – Make you all swing along to the education.«Public Enemy, »Brothers Gonna Work It Out«

Cut-up gibt es heute angeblich in der Medienkunst. Dort wird uninspiriert Zusammengemischtes, oft mit Hilfe moderner Technik zustande gekommen, zumindest gerne als Cut-Up apostrophiert. Die Literatur dagegen sieht immer noch so aus wie früher: neue Inhalte, aber keine neue Form. Popliteratur erscheint so wie der der Versuch, Hip Hop mit einem Streichquartett zu erzeugen.

Die unangenehme Wahrheit ist die, dass der revolutionäre Impuls, der vor mehr als 40 Jahren von Cut-up ausging, praktisch verpufft ist.

Einführung in den Prozess

Was macht die Sprache und vor allem das gedruckte Wort so unantastbar? Betrachten wir die Evolution der technischen Reproduzierbarkeit von Text, Musik und bildlicher Darstellung, fallen Unterschiede in der Entwicklung auf. Während Text bereits vor über 500 Jahren in Buchform im Grunde massenhaft herstellbar war, gilt das für Musik erst seit der Verbreitung des Phonographen vor etwa 120 Jahren. Bilder wiederum, die seit etwa 1850 als Fotos technisch erzeugt werden können, werden schon früh zum Ausgangspunkt der modernen Montage. Vor allem im Film. Getragen vom Enthusiasmus der Oktoberrevolution, verknüpfen Eisenstein und Pudowkin durch die Montage widersprüchliche Aufnahmen zu assoziativen Aussagen.

Dieses Prinzip wird bald auf sämtlichen Gebieten der Kunst aufgegriffen. Assoziative Montagen werden für die Collage (Heartfield) und die Zitatlyrik (T. S. Eliots »The Waste Land«) zum grundlegenden Prinzip.

Spätestens mit dem Erscheinen des Hip-Hop-DJ findet die Montage auch in der Musik ab Anfang der achtziger Jahre massenhafte Verbreitung. James Di Salvio von der Band Bran Van 3 000 meint dazu: »Für mich ist das sehr normal, denn wenn man mit Musikanlagen aufwächst, kann auf der einen Pantera und auf der anderen Kool Moe Dee laufen, und man kann es an- und wieder ausmachen … Ich werde gefragt, was ist dein größter musikalischer Einfluss? Und ich sage, John Cassavetes, ein Filmregisseur.«

Prosa bleibt von diesen Entwicklungen bis auf wenige Ausnahmen unberührt. Warum? Der gedruckte Text, die Erzählung, l’histoire – das ist nicht »nur« Kunst, das ist unsere Geschichte. Tatsächlich sind unsere heiligen Gebote nicht als Bilder verordnet worden, wurden unsere Verfassungen nicht gesungen und neuere Gesetzestexte nicht als Flashanimation gebaut. Wenn sie überhaupt in die Kunst einfließen, dann ausdrücklich in zweiter Instanz. Die Festschreibung der Geschichte – schwarz auf weiß – war spätestens seit dem Aufkommen des Buchdrucks das wichtigste Mittel, die konkrete Herrschaft in Gestalt von Herrschern, Staaten und Gesetzen zu zementieren. Sie ist bis zum Aufkommen der Montage Hunderte von Jahren wirksam gewesen – und scheint nicht aufzuhören. Statt des assoziativen Geistes, der die übrige Kunst zu bestimmen begann, bleibt Text bis heute eine Sache von Glauben und Ausschließung. Schnitt.

Trennen der Stoffe

Das 20. Jahrhundert: »Ersma’ ein’ bau’n.« Zunächst wurde der Text zerkleinert. Zerkleinern bedeutet, das Feststoffgefüge unter Wirkung mechanischer Kräfte zerteilen und die Dispersität des Feststoffs ändern: Dada machte die Worthülsen hörbar und trennte zur Beobachtung den Klang von den Worten.

1959 demonstrierte Brion Gysin, dass es für die Montage von Text lediglich einer Schere bedurfte. William S. Burroughs griff den Impuls sofort auf und begann, Texte zu falten und zu beschießen. Cut-up wird von Burroughs sofort auf seine Tauglichkeit als Waffe gegen Herrschaft und Kontrolle abgeklopft. »Cut-up bedeutet nichts anderes, als Teile oder Ausschnitte von Texten oder Bildern anderer Urheber unter den eigenen literarischen Text zu mischen. Durch den Zusammenstoß von zwei verschiedenen Textsorten und Mitteilungssträngen ergeben sich merkwürdige Effekte. Der so entstandene neue Kontext mag dem ungeübten Leser ›dunkel‹ erscheinen, aber die beiden Cut-up-Erfinder würden ihn als ›erhellend‹ oder ›befreiend‹ bezeichnen«, schreibt der Beatliteraturkenner Hans-Christian Kirsch.

Die sechziger Jahre haben noch nicht begonnen, und Burroughs wird ihren Optimismus nie teilen: »Er denkt einen Schritt weiter als (Timothy) Leary. Er fürchtet, psychedelische Drogen könnten zur Kontrolle sich nach Visionen sehnender Massen benutzt werden, statt ihnen zur Emanzipation zu verhelfen«, meint Kirsch. Burroughs selbst gibt an: »Auf die Gefahr hin, dass man mich prompt zur unpopulärsten Figur der gesamten Fiction erklärt – und Geschichte ist Fiction –, muss ich folgendes sagen: Macht euch ein Bild von der Lage – und dann fragt euch, wer sie verursacht hat. Wer hat das kosmische Bewusstsein monopolisiert? Wer hat Liebe, Sex und Träume monopolisiert? Wer hat das Time-Life-Fortune-Monopol? Wer hat euch genommen, was euch gehört? Und die wollen jetzt plötzlich alles wieder hergeben? Haben sie euch je etwas umsonst gegeben? Haben sie euch auch nur ein einziges Mal mehr gegeben, als sie unbedingt mussten?«

Vereinen der Stoffe

Cut-up ging der Heiligkeit an die Wäsche. Die Sprache wurde als dominantes Kontrollmittel enttarnt und frontal angegriffen. Getrennte Texte prallten aufeinander: Staatliche Herrlichkeit wurde mit staatlicher Willkür kontrastiert, medizinische Ethik mit therapeutischer Gewalt. Das Gedankengewebe, in dem die meisten Menschen bewusstlos umherirren, wurde sichtbar, und sogleich machte sich Burroughs daran, es aufzutrennen.

Obwohl sich die Mehrzahl der Teilnehmer der Sixties und ihrer Folgen lieber an weniger Grunderschütterndes wagte oder sich zumindest auf vergleichsweise Überschaubares wie die eigene Regierung oder die eigenen Neurosen stürzte, beeinflusste Burroughs auch dank der unermüdlichen Propaganda von Gegenkulturgrößen wie Timothy Leary und Jack Kerouac eine Reihe von Künstlern. Schon hier fällt auf, dass erheblich mehr Musiker, Lyriker und Filmer sich für Cut-up interessierten als Prosaschriftsteller, und die in jeder Hinsicht bemerkenswerteste unter den Cut-Up-Literaten, Kathy Acker, sollte bereits am Ende der siebziger Jahre resigniert haben.

Vorher jedoch schrieb sie über ihre bevorzugte Arbeitstechnik: »In dem Abschnitt über Toulouse Lautrec (1975) gibt es vier Seiten, die ich einem Roman von Harold Robbins entnommen habe, einem Bestseller mit dem Titel ›Der Pirat‹, der einige Jahre zuvor veröffentlicht worden war … Ein Journalist rief meine Verlegerin an, und sie rief Harold Robbins’ Verleger an, und ihre Reaktion war: Mein Gott, wir haben eine Plagiatorin unter uns. Also trafen sie eine Abmachung, dass mein Buch sofort aus dem Verkehr gezogen werden würde und dass ich eine öffentliche Entschuldigung an Harold Robbins für das, was ich getan hatte, unterzeichnen sollte. Das ist keineswegs eine normale literarische Praxis…

Zu plagiieren, im Sinne des Gesetzes, heißt, das Material von jemand anderem als dein eigenes Material zu präsentieren. Das habe ich nicht getan. Ich sage ganz klar, dass ich das Material von anderen verwende. Ich habe immer darüber gesprochen, als literarische Theorie und als literarische Methode. Ich habe bestimmt nichts verheimlicht.«

Die Parallelen zu den nicht viel später virulenten Diskussionen um die rechtliche Behandlung des Samplens in der populären Musik sind offensichtlich. Dabei ist für Kathy Acker die Montage mit dem Zitat untrennbar verbunden. Methodebewusstes Schreiben muss mit dem Urheberrecht kollidieren und die eigentliche Struktur von Sprache und ihrer Verwertung in Frage stellen. »Die meisten Dichter haben sich damals nicht überlegt, warum sie so schrieben, wie sie schrieben. Insgeheim gab und gibt es immer noch die Vorstellung, gute Dichtung sei das perfekte Wort in der perfekten Zeile. Ich wollte immer Prosa schreiben. Ich suchte also nach Vorbildern für eine Prosa, die poetisch vorgeht, und so arbeiten Prosaschriftsteller einfach nicht. Sie umreißen die Dinge, bevor sie sie schreiben. Sie schreiben nicht prozesshaft. Das einzige Vorbild, das ich in meiner Umgebung fand, war William Burroughs … weil er sich damit befasste, wie Politik und Sprache aufeinandertreffen, mit der Beschaffenheit von Sprache«, schreibt Acker.

Während Foucault und der »Anti-Ödipus« von Deleuze/Guattari Kathy Acker als Offenbarungen erscheinen und sie die moderne Sprachtheorie und Intertextualität als Verbündete begrüßt, ahnt sie doch die Sonderrolle, in der sie sich als Literatin befindet: »Die Aneignung ist offensichtlich in der Kunst schon seit Jahren eine Art postmoderner Technik, sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur, aber da ist es anders. Meins ist ein Präzedenzfall.«

Da Cut-up für sie vor allem ein Aufklärungswerkzeug war, hält sie es nach dem Scheitern des allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs für wenig fruchtbar und zieht sich in die Welt der positiven Mythen zurück: »Zu einem bestimmten Zeitpunkt dachte ich, dass es wirklich notwendig sei, gewisse Dinge aufzudecken, weil soviel Heuchelei existierte. Aber das ist zusammengebrochen, besonders nach Watergate. Heute weiß jeder, was passiert. Es ist ihm bloß scheißegal. Wir suhlen uns in unserem eigenen beschissenen Nihilismus, und so wirkt auch Baudrillard auf mich, er suhlt sich in seinem Nihilismus. Wir irren in der Gegend herum und wissen nicht, was wir tun sollen in dieser Art von Hölle mit Aids und Crack und dem ganzen Mist.«

Die Intensität, mit der Burroughs missverstanden und im Kern seiner Idee übergangen wurde, und die Intensität des Zusammenpralls von Kathy Acker und dem Literaturbetrieb zeigen, dass das gedruckte Wort tabu blieb. Die Ansätze, die sich für eine radikale Aneignung von Texten bis in die siebziger Jahre gebildet hatten, verschwanden aus der Praxis in die universitäre Diskurstheorie und in endlose Untersuchungen über Intertextualität.

Sichtung und Sortieren

Die heutige Lage ist entsprechend paradox. Während sich etwa im Hip Hop Sampling etabliert hat, wirken öffentliche Cut-up-Sessions weiterhin wie eine Art Gruppentherapie. Alle kriegen eine Broschüre oder ein ausgelesenes Buch und werden ermuntert, es zu zerschnippeln oder zu zerreißen oder zu lochen. Loch. Loch doch. Loch doch schon. Ihre Gesichter sagen: Darf ich das? Und das nicht wegen den Bücherverbrennungen.

Sie haben einfach mehr Ehrfurcht vor Druckwerk als vor allen Göttern und Autoritäten zusammen.

Ansätze zur Textaneignung gleiten immer wieder ab in das World Wide Web. Im Internet finden sich mit dem Assoziationsblaster, der Lesemaschine und den zahllosen Cut-up-Wikis längst all die Herangehensweisen, die dem Offline-Text weiterhin fehlen.

Dem Autor, der sich heute daran macht, das Unteilbare zu teilen, stehen zwar weiterhin Mauern der Ignoranz und der Ehrfurcht gegenüber, er kann sich jedoch eines enormen Zitatenschatzes auf technisch bislang beispiellose Weise bedienen. Die Geschichtsschreibung könnte so in ihren Redundanzen und propagandistischen Absichten kenntlich gemacht werden. Die neuen aufgeschnittenen Erzählungen könnten versuchen, die Komplexität einer Simpsons-Folge wiederzugeben.

Wenn das Denken bisher, wie der Medientheoretiker Friedrich Kittler schreibt, nur Kybernetik war, kann angenommen werden, dass auch die Literatur bislang nur unbewusstes Verfahren, unmethodisches Erzählen war, dargeboten von kleinlichen Spurensuchern. Schon die Erkenntnis des Spurensuchens, seine Bewusstmachung durch Sigmund Freud oder Carlo Ginsburg führt aus dem Prämissengefängnis in die Gegenwart, ins Multitasking, hinter die geputzte Brille, in absichtliche Schamlosigkeit. Ganz sicher führt sie jedenfalls nicht in Joachim Fests antiutopische Gegenwart, die ja eine Herrschaft der Vergangenheit restituieren soll und damit via Guido-Knopp-Kanal beim Volksempfänger beängstigend erfolgreich ist.