Kontrasexuelle Therapie

Die Gender-Theoretikerin beatriz preciado fordert eine internationale kontrasexuelle Multitude. Zweiter Teil

Neben deiner theoretischen Arbeit als Dozentin an der Uni veranstaltest du auch Drag King-Workshops. Welche Erfahrungen hast du in diesen Workshops gemacht?

Ich begann 2001 mit meinen Studenten an der Université Paris Drag King-Workshops zu veranstalten. Diese Workshops waren ein Weg, Gender-Performance von innen heraus zu verstehen. Viele meiner StudentInnen kommen aus den Bereichen Performance, Tanz und Kunst. Mir war gar nicht wirklich klar, dass dies der erste Drag King-Workshop in Frankreich überhaupt war. Es war für uns alle eine besondere Erfahrung. Doch meine Workshops sind nicht nur performativ oder theatral orientiert. Gerade außerhalb des universitären Raumes will ich Räume für politisches Experimentieren öffnen. Für mich ist der Drag King-Workshop eine Möglichkeit, den Feminismus ohne das weibliche Subjekt wieder zu erfinden.

Kannst du die genderpolitischen Ziele der Drag Queen-Praxis genauer umreißen? Wie lässt sich männlicher Drag verstehen und nutzen?

Der Drag King-Workshop soll durch kollektive Praxis – feministisch, postfeministisch und queer – die performative Konstruktion von Männlichkeit, ihre sozialen und körperlichen Vorteile und Möglichkeiten politischer Praxis erforschen. Teilnehmerinnen lernen, Männlichkeit zu performen, und erfahren einen anderen Zugang zu öffentlichem Raum und öffentlichem Sprechen. Diese performative Praxis hat drei primäre Ziele: Erstens soll aus einer kritischen Position der konstruierte Charakter von Männlichkeit kenntlich gemacht werden. Zweitens wird versucht, eine alternative Form politischer Aktion und Sichtbarkeit für Frauen zu generieren, abseits traditioneller, essenzialistisch-feministischer Konzepte. Drag Kinging ist eine Form subversiver Rezitation bestimmter kultureller Männlichkeitscodes. Außerdem ist der Drag King-Workshop eine Erfahrung kollektiver Machtaneignung, ein politischer und performativer Genuss für Bio-Frauen und Dykes, weiblicher Transgenders und Transsexueller. Für mich ist diese Praxis, um Felix Guattari zu zitieren, eine »zellulare Mikropolitik«, in der wir kollektiv die performativen Technologien der Einschreibung von Gender-Codes innerhalb der Körper-Erinnerung und -Aktion umarbeiten.

Hat sich Drag Kinging seitdem in Frankreich weiter verbreitet?

Auf jeden Fall. Heute existiert in Frankreich ein Netzwerk mit mehr als 90 Drag Kings, die lesbische Sichtbarkeit verstärken, Clubs organisieren und Kollektive formen. Es gibt gerade eine neue Gruppe namens Kings Of Berry. Sie sind phantastisch. Sie sind die weltweit erste Drag King HipHop-Crew, schreiben ihre eigenen Texte und Tracks und sind großartig. Diesen Sommer habe ich auch in Chile einen Monat lang einen Workshop mit 30 Frauen aus Santiago veranstaltet. Es war wundervoll. Diese Praxis soll zu einer deutlich größeren Sichtbarkeit lesbischer Frauen auf dem dortigen Gay & Lesbian-Pride-March geführt haben.

Kritisch könnte man bei deiner engagierten Arbeit immer wieder einwerfen, dass du mit deiner intensiven Auseinandersetzung mit Sexualität nur einen typischen Effekt der von Michel Foucault analysierten Dispositive und ihrer »installierten Perversionen« weiterschreibst, anstatt ihm zu entkommen. Wie reagierst du darauf?

Drag Kinging zeigt, dass auch Männlichkeit nicht mehr als ein kultureller Code ist, der auch außerhalb eines Bio-Männer-Körpers zitiert werden kann. Ich denke, einer der Nebeneffekte der dominanten Dialektik zeigt sich in den frühen Auseinandersetzungen des Feminismus mit dem Thema »Weiblichkeit als Maskerade, Artefakt und Theater«, in dem der weibliche Körper als Effekt patriarchaler Macht verstanden wurde. Das geschah schon Ende der zwanziger Jahre in der Arbeit der Psychoanalytikerin Joan Rivière. Männlichkeit blieb indessen von diesem Diskurs unberührt und wurde nur als vordiskursive Kondition zu eben dieser Machtstruktur verstanden.

In diesem Sinne empfinde ich die Drag King-Kultur als bereichernd und zum Schreien komisch. Viele Frauen, die an den Workshops teilnehmen, sprechen nachher von einer Art Entmystifizierung von Männlichkeit in ihrer Wahrnehmung, wenn sie ein Kondom mit einer Socke bestücken und in die Hose stecken oder ihren Körper mit künstlichen Haaren bekleben.

Du arbeitest jedoch auch an praktischen Projekten, die noch weiter gehen als deine Drag King-Workshops.

Ja, ich nenne sie »Post-Porno-Workshops«. Dort geht es um eine alternative Praxis zur Psychoanalyse, entstanden aus einer Verbindung afrofeministischer Aufklärung und der Institutionen-Analyse, wie sie Felix Guattari entwickelt hat. Ich nenne sie »queerpolitische Therapie«. Das alles ist aber noch zu unausgereift, um weiter darüber zu sprechen. Dazu mache ich Seminare im Museum für zeitgenössische Kunst in Barcelona, indem ich versuche, Post-Porno-Filme zu produzieren. Ungefähr 35 Leute nehmen daran teil: bi, schwul, lesbisch, transsexuell, transgender und Sexarbeiter.

Um eine Frage der Partizipation anzusprechen: Inwieweit siehst du für heterosexuell lebende Männer die Möglichkeit, an politischer Praxis queerer und postfeministischer Communities teilzunehmen?

Ich denke, dass wir langsam in eine neue Epoche der Identitätspolitik eintreten. Wir können nicht mehr einfach über »Hetero« und »Homo« sprechen und dabei der Homosexualität eine moralische und politische Außenstellung, eine Form von Reinheit zusprechen. Wir müssen deutlich stärker über das globale Sex-Rassen-Kapital-System als ein Feld der Mächte sprechen, in dem eben gar nichts außerhalb existiert. In einer Zeit »progressiver« Normalisierung und Assimilation sexueller Minoritäten (Schwulenehe, gesetzliche Gleichheit, erhöhte Sichtbarkeit einiger queerer Kulturen) empfinde ich es als politisch inkongruent, weiterhin Lesben und Schwule per se als radikalpolitische Gruppe zu verstehen.

Wir müssen im deleuzianischen Sinne zugeben, also nicht statistisch, sondern im Sinne eines Reservoirs für Revolution und politischer Veränderung, dass Schwule und Lesben im Westen nicht mehr länger eine Minorität sind. Sie sind vom globalen Markt der sexuellen Identitäten wieder angeeignet und geschluckt worden. Seien wir ehrlich: Sexuelle Identitäten sind schon länger ein Marktsegment, eine Offenbarung der Medien neben anderen. Wir müssen mehr als je zuvor von einer Identitätspolitik der Repräsentation zu politischen Formen des Experiments übergehen. Dafür müssen wir vielleicht wieder unwahrnehmbar werden, quasi verschwinden, nach all diesen Jahren des lustigen Identitätsblablas. So scheint es.

Im Moment ist ein revolutionäres Denken des »queeren Lebens an sich« wirklich nicht mehr auszumachen.

Ja, genau. In der westlichen Welt ist Schwulsein heute fast so, wie Hetero zu sein. So lange du keine kritische Selbstreflexion leistest und deine Sprecherposition in Sachen Klasse und Rasse infrage stellst, sehe ich kaum einen Unterschied. Ein Hetero-Mann, der bereit dazu ist, den biopolitischen Charakter seiner Identität infrage zu stellen, wird irgendwann sowohl als Mann als auch als Hetero fehlidentifiziert.

Sicher sind heute Sex- und Gender-Fehlidentifikationen schwer auszuführende politische Operationen, viel schwerer als sexuelle Identifikation. Ich träume von einer neuen Allianz dissidenter post-hetero/post-schwuler/post-lesbischer und post-queerer Subjekte, die sich zusammenschließen, um Strategien zur Bildung neuer kollektiver Körper und Affekte zu erarbeiten. Dies muss aber erst noch eintreten: ein Traum.

Woran arbeitest du im Moment?

Während sich die Gender Studies zumeist auf Weiblichkeit konzentrieren, beschäftigt sich meine Arbeit primär mit der Konstruktion von Männlichkeit in der Moderne, mit den Technologien des männlichen Körpers: von Le Corbusier bis zum Playboy, von Houdini bis Tarzan, von Lesben zu Butches und Female-To-Male-Körpern in den jetzigen Gesellschaften. Besonders interessiere ich mich für die Privatisierung von Körpern und die Privatisierung von Räumen, insbesondere innerhalb eines Studiums der Beziehungen zwischen Pornografie und Architektur. Mein neues Buch »The Seize of the Fetish« ist noch nicht abgeschlossen, ich habe große Probleme, eine Veröffentlichung mit pornografischen Bebilderungen durchzusetzen. Außerdem forsche ich an einer politischen Geschichte queerer Performances. In diesem Zusammenhang arbeite ich auch an einer Kartografie der Technologien zur Produktion und Normalisierung von Sex, Gender und Rasse innerhalb des derzeitigen Regimes. Ich bemühe mich darum, eine Einladung für einen neuen Aktivismus zu formulieren, der »Gender-Copyleft« genannt werden könnte. Eine zellulare Mikropolitik, die über Repräsentationspolitiken hinausgeht und nach Fluchtlinien und Lücken innerhalb des Netzes von Staatskontrolle und Medizin, Pharmaindustrie und Medien-Merchandise sucht.

Du warst auch Mitglied des Pariser Zoo-Kollektivs, das in Deutschland wenig bekannt ist. Kannst du uns etwas darüber erzählen?

Das Zoo-Kollektiv war eine kleine Gruppe intellektueller Schwuler, Lesben und Transen, die sich 1996 gebildet hatte, um das Fach Queer Studies in der französischen Universität zu entwickeln. Eine Herausforderung. Doch die Geschichte der Gruppe symbolisiert auch ein Scheitern derzeitiger Repräsentationspolitiken der sexuellen Minderheiten. Zoo wurde irgendwann fast zu einer Werbefirma, um ein paar der Mitglieder zu promoten. Ich glaube, ich habe diese Publicity eine Zeit lang auch selbst sehr genossen, ohne zu merken, dass es das Ende unserer politischen Visionen bedeutete. Zoo existiert nicht mehr, ein paar der Mitglieder nehmen jetzt am konservativsten schwulen und lesbischen Projekt teil, das es in Frankreich je gab, dem neuen, »schwulenfreundlichen« Fernsehsender Pink. Damit wurde Queer zu einem neuen Label, einem Fernsehprogramm, einer Eintrittskarte in die Modeszene und zum Erfolg. Genau deswegen sollten wir genau jetzt über Queer Politics hinausgehen.

Und wie sollte das deiner Meinung nach aussehen?

Frag mich nicht, ich weiß es nicht. Das einzige, was ich weiß – das haben wir bei »Big Brother« gelernt –, ist, dass Sichtbarkeit alles, nur nicht genug ist. Und dass sie manchmal noch nicht mal politisch begehrenswert ist. Es ist offensichtlich, dass queere Politik die Logiken des Marktes und der Medien mitspielen, um Sichtbarkeit zu erlangen. In diesem Sinne empfinde ich sie als höchst riskante Politik. Nach meinem Empfinden waren Queer Studies ein gutes Mittel, um aus einem Engpass des traditionellen Feminismus und konservativer schwuler Identitätspolitik herauszukommen. Allerdings kann ich mir keine politische Errungenschaft ohne enge Zusammenarbeit mit antikolonialistischen und globalisierungskritischen Praxen vorstellen. Für mich wäre eine queere Politik der Multitude eine internationale, kontrasexuelle, globale Kraft. Sie entsteht in verschiedenen Formen – von Transgender- und Intersexuellen-Bewegungen bis zu schwulen Muslims und Lesben – und in verschiedenen Disziplinen – Medizin, Jura, Bildung, Pornografie, Kunst – und benutzt verschiedene Widerstandsstrategien gegen die globale Kontrolle fruchtbarer Körper und gegen die Reproduktion heterosexuellen Begehrens. Dagegen kreieren wir neue Ästhetiken des Sexes, neue Lüste und Körper, die sich der Kontrolle des Gesetzes und der Medizin entziehen.

Konservative Linke werden bestimmt weiter selbst den radikalsten Konzepten der Identitätspolitik vorwerfen, dass sie sich nur um sich selbst drehen.

Es ist nichts Bourgeoises oder Individualistisches an dieser neuen Form des Aktivismus. Queere und postkoloniale Politik ist für mich eine Praxis der Erschaffung von Gemeinschaften, nicht ontologischen oder natürlichen Gemeinschaften, sondern politischen Gemeinschaften. Sie sind adäquate Widerstandsformen gegen die Individualisierung und Entpolitisierung der Massen im Spätkapitalismus.

interview: tim stüttgen