Der bessere Dylan

Maxim Biller singt jetzt auch. Und siehe da: Der Mann ist ein Popgott. von joachim lottmann

Ich habe Maxim Biller getroffen! Das ist der Mann, der die gleichnamigen »Maxim Biller Tapes« veröffentlicht hat, jene schnoddrig hingeknallten Lieder zu Klampfe und Wackelmikro, die zurzeit den Kulturbetrieb erschüttern (was heißt Wackelmikro – zahllose Werkproben hat er in den eigenen Anrufbeantworter geschmettert und von da aus auf CD gebrannt). Und was heißt erschüttern? Die Leute reagieren, als seien nicht Bin Ladens Flugzeuge, sondern Maxim Billers Privatparty-Songs in die Türme des WTC eingeschlagen und hätten sie zerstört.

Der Spiegel spricht von der »Selbstdemontage des Jahres«. Willi Winkler von der SZ erzählt hinter vorgehaltener Hand, der Hund seiner Frau, ein Mischling namens Meller, sei beim Abspielen der Biller Tapes vom Balkon gesprungen. Namhafte Kollegen von der FAZ und anderen seriösen Zeitungen weigern sich, sich die CD auch nur zuschicken zu lassen. Zu schlimm war offensichtlich das, was sie darüber bereits zugeflüstert bekamen.

Unter ihnen sind ausgewiesene Biller-Freunde wie Claudius Seidl, Thomas Meinecke und Holm Friebe. Wohlgemerkt Freunde des Schriftstellers Biller. Und selbst der sonst so klarsichtige Tagesspiegel reagierte erst mal unter Schock und druckte letzte Woche einen Verriss des vermeintlichen Dilettanten: kann nicht singen, kann nicht Gitarre spielen, Texte scheiße, und vor allem: ist doch gar kein Popsänger, sondern Maxim Biller.

Verständlich also, dass ich wirklich gespannt auf denselben war! Maxim hatte mir am Telefon versprochen, bei meinem Besuch eigenhändig zur alten Nussbaum-Gitarre zu greifen und fröhlich aufzuspielen. Ich nahm meine Freundin mit, die April. Die CD hatten wir schon zu Hause. April mochte sie sehr, ich bald darauf auch. Erst gefiel mir das Fehlerhafte. Dann dachte ich, diese Karaoke-Scheibe mache allen Menschen Mut zum Selbersingen. Ich sagte sogar zu April (gesprochen »eyprill«): »Biller klagt ein neues UN-Menschenrecht auf Singen ein, recht so!«

Ein Recht, das bald so gültig sein werde wie das Recht auf Küssen oder Schmusen; schließlich sei klar, dass auch ein Schlechtküsser und Tolpatsch seine Frau busseln und streicheln dürfe.

Doch dann, schon beim zweiten Hören, merkte ich, dass er gar nicht schlecht, sondern einfach authentisch singt. Die Stimme ist vollkommen unverstellt, ohne Schliff, ohne Vorbild, ohne Vergleich. Erst denkt man noch: Das soll jetzt Bob Dylan sein. Oder Paolo Conte. Oder Adriano Celentano. Oder wer auch immer. Und dann: Da singen genau alle die nicht. Hier singt kein Sänger, sondern ein Mensch.

Der Effekt ist der, den ich tags zuvor beim Film »American Splendor« hatte. Das war ein Spielfilm, der in den Berliner Hackeschen Höfen lief, dem eine reale Geschichte zugrunde lag. Gegen Ende des Films werden die (hervorragenden) Schauspieler gegen die realen People der Geschichte ausgetauscht. Mit einem Mal kommen einem die Schauspieler unendlich reduziert und uninteressant vor. Nie wieder will man einen Film mit Schauspielern sehen, nur noch echte Menschen sollen in Filmen vorkommen!

Nach den Biller Tapes wird selbst der eingefleischteste Sing-a-song-writer-Fan seinen Dylanscheiß verschämt im Trödelladen um die Ecke zu verhökern versuchen.

Wir trafen uns im »103«, welches eine Bar in Berlin-Mitte ist. Man gab uns den schönsten Platz hinten rechts im Winkel. April stellte sich selbst vor, weil ich das immer vergesse. Eine Pelzmütze bedeckte ihren ganzen Kopf, nur das hübsche Eskimogesicht blieb frei. Maxim fragte nach ihrem Beruf, und sie guckte zu Boden, weil sie darüber nicht spricht, wie wir ja alle.

Wir alle mögen ja keine Interviews, und so fragte ich den Barden, wie er bisher in seinem Leben mit Interviews umgegangen sei. Als er sich vor Ekel nur so schüttelte, schlug ich folgendes vor: Ich wollte ihm vorlesen, was ich mir bereits beim Hören aufgeschrieben hatte, und er sollte es kommentieren. Eine gute Idee.

Ich: »Biller plärrt sich völlig hemmungslos die Seele aus dem Leib. Brachiales Falschspielen. Courage pur! Die Schönsingerei überlässt er Whitney Houston. Selbst Helge Schneider dürfte sich über so viel Geschmacksverletzung empören … hm, warte mal, das waren eigentlich nur die ersten Eindrücke, später wird es besser …«

»Dann lies doch gleich die späteren vor!«

»Nein, warte, hier steht was Nettes: Gleich kommt die gute Laune auf in der Küche. Die Freundin pfeift mit, was sie sonst nie tut, sie mag einen wieder.«

»Hattet ihr Streit?«

»Wir sind seit 16 Jahren zusammen.«

»Und plötzlich pfeift sie?!«

»Ja. Komm, ich mach’ weiter. Hier steht: Auf Englisch der bessere Dylan – warum soll man es nicht sagen, wenn es so ist?«

»Ich dachte, ich singe brachial falsch!«

»Tut Dylan auch. Nein, ich meine, er singt nicht schön. Also nicht künstlich schön, sondern authentisch, und du singst nochmal um eine Dimension authentischer. Hier steht: ›Singt wie ein sehnsüchtiger Kater. Eher ein Miauen als ein Singen. Miau, miau, wo seid ihr?‹«

»Ich singe seit meinem fünften Lebensjahr. Ich singe zehn Jahre länger als ich schreibe. Ich habe 700 Stücke im Repertoire.«

»Ja, das meine ich ja … also dass man das merkt: Hier singt jemand, der das Leben schon gelebt hat, also nicht hinter sich hat, aber sehr viele Erfahrungen schon sehr oft gemacht hat und der jetzt mal dieses ›Wie ist es denn jetzt wirklich‹ auf den Punkt bringen will, den ganzen Bogen, das ganze Leben als unsichtbare Grundlage für das Einzelne.«

»Für mich bedeutet diese CD viel mehr als mein Schreiben. Ich gehe demnächst sogar ins Studio und mache noch eine. Obwohl mich das wieder ein halbes Jahr kosten wird.«

»Ich weiß. Schreiben ist toll, aber am Ende sind es immer nur schwarze Buchstaben auf einem weißen Blatt Papier. Musik ist eben körperlicher. Sogar noch mehr als das. Obwohl ich ›Esra‹ für den besten Roman der letzten zehn Jahre halte, bist du mir durch die ›Tapes‹ noch näher gekommen als durch das Buch. Und das innerhalb von 20 Minuten. Das bist einfach du. Unvergleichlich Maxim Biller.«

April meldete sich zu Wort und meinte, für sie sei er der Beck des Anti-Folk. Das verstand ich nicht, auch nicht die nachgereichte Erklärung: Biller mache deutlich, dass Anti-Folk immer schon Folk war, da Folk selbst a priori ›anti‹ sei. Später im Bett gestand sie mir, Frauen würden die Platte auf gar keinen Fall peinlich finden, im Gegenteil: Frauen liebten polemische coole Typen mit Sonnenbrille und die Sexyness des »dunklen Typus«, und außerdem sei frau total geflashed von seinen englischen Songs. Darauf wäre ich nicht gekommen, mir gefielen gerade die deutschen. April sprach noch stundenlang über den »Gestus der Wildheit und des Abenteuerlichen« bei Billers CD, seine stürmischen Regelverletzungen, seinen Mut, sich selbst zu zeigen, sich selbst »rauszulassen«. Frauen seien davon einfach hingerissen. So wie sich Männer immer wieder Janis Joplin als starke Frau vorstellten.

»Die sich dabei dann so verletzte, dass sie starb. Hoffentlich wird nicht auch Maxim wehgetan, wenn er sich so aus jeglicher Deckung wagt…«, murmelte ich. Aber das war eben der Preis des Mutes. Die Tapes konnten nur gelingen durch diesen Vorgang.

Zurück zum Interview. Als ich sagte, es gebe außerordentlich tolle Sätze in den Liedern, zum Beispiel »Was man sich nicht vorstellen kann, ist wahr« in dem wunderbaren Lied »Torstraße«, schlug Maxim Biller erfreut vor, in seine Wohnung zu wechseln und dort ein Konzert für sechs Ohren zu geben. Er zahlte für uns alle und lief glücklich vorneweg.

Ich hatte ehrlich gesagt immer schon gedacht, das sei Musik für den privaten Rahmen, für die Intimität zutiefst erwachsener Menschen, für Wesen, die eben nachdrücklich nicht mehr dumme, bedröhnte, angstgesteuerte Pubertanten waren. Für Leute, die sich lange in die Augen schauten, anstatt sich aufs Handy geladene Klingeltöne glucksend vorzuführen. Individuen, die sich in ihren Wohnungen angeregt unterhielten, anstatt in öffentlichen Räumen gegen Mainstream-Hochglanz-Chartmusik anzuschreien.

Und so erklärte sich auch die reflexhafte Abwehr der deutschen Zeitungsrezensenten gegen die Tapes: In den zuständigen Musik-Redaktionen saßen altgewordene Berufsjugendliche, die nichts so sehr ängstigte wie Ernsthaftigkeit. Hier sang und spielte ein Mann, der auf das Jungsein gar keinen Wert legte, und auf die entsprechenden Attitüden und Regeln schon gar nicht. Der im Regelwerk des medialen Jungseins alles »falsch« machte. Der keine hysterische Stimme hatte wie Grönemeyer und keine Teenie-Kiekser wie Wir sind Helden, sondern eine männliche, unverballhornte Erwachsenenstimme. Eine tiefe, wirklich sehr schöne übrigens, die nur nicht »schön« klingen will und es gerade deswegen tut …

Wir waren in Billers Wohnung und hatten zwei Freundinnen aus der Bar »103« gleich mitgenommen, die Grether-Zwillinge Sandra und Kerstin, die zufällig aufgetaucht waren. Da sie, die superblond-sexy-hippen ehemaligen Spex-Ikonen, die CD gut kannten und als sensationell gut einstuften, durften sie mit.

Und ich hatte Recht: Die Musik war nochmal um eine volle Dimension wahrer und besser. Alle drei Mädchen schmolzen dahin. Mehrmals war ich kurz davor, Maxim die Gitarre aus der Hand zu reißen und auf mich selbst aufmerksam zu machen; was nicht ging, da ich spielen kann. Uns allen war klar, dass Biller in zehn Jahren nur noch als Sänger bekannt sein wird und keiner mehr ahnt, dass er auch einmal geschrieben hat.

Der erste Eindruck vom Anfang war nun vollständig vernichtet, und ich konnte mir beim besten Willen nicht mehr erklären, warum ich fast so bescheuert reagiert hatte wie die Spiegel-Leute samt Mischling Meller. Beim wiederholten Hören achtete ich nun mehr auf die Texte und war hingerissen. Die waren ja alle richtig klasse. Maxim haute in die Saiten. »Deine Muschi mag ich sehr… sehr, se-e-ehr!« Keiner fand die obzönen Stellen noch ulkig, nein, die Frauen und sicher auch ich hatten diesen leeren, nachdenklichen, existenzialistischen Blick bei allen intimen Passagen. Wer das jetzt nicht versteht, muss die CD selbst kaufen.

Es war so befreiend kunstlos, gerade die musikalischen Fehler befreiten so; der Mann sollte nie ein Studio betreten, dachte ich und sagte es später auch, woraufhin die Grether-Zwillinge heftig widersprachen. Sie erkannten gerade ein enormes Potenzial darin und ärgerten sich, dass keine Band hinzugezogen worden war, die aus jedem zweiten Lied einen absoluten Hit gemacht hätte. »I love my Leid / Ich könnt kotzen und heulen / Und schreien und onanieren / I love my Leid …«

Während er weiter das Holzinstrument traktierte und sang, sehr bestimmt und diszipliniert übrigens, eher Herzchirurg als Straßensänger, blätterte ich in dem kleinen Heftchen, das der CD beigelegt war. Auch hier erkannte ich schlagartig das ganze Lebensprinzip wieder. Sich nicht verstellen, sich nicht zum Affen machen, nicht die kostbare Wahrheit und Erkenntnisfähigkeit gegen Ziererei und Posertum (und Gewöhnlichkeit) eintauschen.

Wir sehen da diesen unseren Mitmenschen Maxim Biller – Bürger Biller sozusagen, demokratisch ausgedrückt – in seiner ganzen Hilflosigkeit, Begrenztheit, Courage und Liebenswürdigkeit: Er gibt uns, was er uns geben kann, er belügt uns nicht und trägt nicht zu unserer Verblödung bei. Anders als die alten Hiphop-Männer, die sich wie Kinder anziehen und wie Kleinkinder gebärden, sitzt er misanthropisch wie Larry David auf einer Holzbank und mustert uns durch eine abgetragene Kassengestellbrille.

Er hat seine Cassetten und CDs fotografiert, mit Blitz. Auf einem Bildchen zeigt er seine Gitarrensammlung und lacht vor Glück. Er sitzt am Klavier, er zeigt seine Wohnung, Dinge, die er mag: den Berliner Fernsehturm, eine Zimmerpflanze mit roten Johannisbeerblüten. Und ein Foto, als er 17 war. Sodass wir uns ein Bild machen können, wir CD-Käufer.

Die Texte sind abgedruckt, aber nicht alle, nur die deutschen. Wer den Sänger noch nicht mochte, muss es tun, wenn er das rührend hübsche und persönliche Beiheftchen versunken durchblättert. Ein kleines Gesamtkunstwerk mit dem Titel: »ICH«. »… wenn du mich fickst / Bin ich ganz still …«

Auch wir Zuhörer werden ganz still und nachdenklich, jeder sieht im Geiste seine eigenen letzten Betterlebnisse vorüberziehen. Klar, sie ficken einen, sie ficken einem das Gehirn aus dem Kopf, so ist es heute, nicht umgekehrt, und wir sind zufrieden damit, warum es nicht einmal aussprechen. Nichts ist mehr wie im Kino, und das ist gut so. Maxim singt über alles, was wichtig ist. Ruhig bestellt er sein Feld. Er ist nun ganz bei sich, hat die Welt vergessen: »Mein Schwanz tut mir weh / Und schreib einen Roman / Über mich und michmichmichmich …«

Er schluchzt. Er stürzt ins Selbst hinein wie in ein Schwert. Es ist fast schon freestyle. Und doch täuscht es; es gibt nämlich jede Menge Reverenzen. Wer es nicht glaubt, kann sogar kenntlich gemachte Texthinweise auf Bob Dylan, Nirvana, Adam Green und andere finden. Vor allem Green. Den verehrt er, den liebt er. Die Grethers wiesen gut 20 verschiedene Reverenzen nach (und meinten dennoch, der Act erinnere an nichts davon, da er vor allem eines vermittle: das Gegenteil von Verbrauchtheit, nämlich Luftigkeit, Jugendlichkeit, Lockerheit).

Besonders die englischen Songs sind geradezu klassisch und lassen ganz die charmante Unprofessionalität der deutschen Kratzlieder vergessen. Wer also denkt, hier greift ein branchenfremder Schriftsteller zum ersten Mal zum Musikinstrument, um den Platz Stefan Raabs in den Medien einzunehmen, blamiert sich total. Und wer sich nur an die Texte ranwirft in seiner Rezension und dabei gerade die beispiellose Text-Klang-Einheit verschweigt, hat die Lacher, aber nicht die Sache auf seiner Seite: »Du dicke fette jüdische Kröte / Ich habe deiner Mutter auf den Arsch geschaut / Nimm endlich den gottverdammten Telefonhörer ab …«

Solche Zeilen schreibt natürlich niemand sonst. Das ist definitiv jenseits alles Bekannten. Oder jene Zeile über George Tabori, wo man die Luft anhält und denkt, man hat sich verhört: »Hey, Mr. George Tabori / Ich fühl mich für dich sorry / Du bist ein alter Jude / Und machst mich ganz schön mude …«

Schwer wiederzugeben, warum man schon wieder so ergriffen wird. Es geht um den uralten Theatermann Tabori, der unermüdlich neue Ideen hat, auch mit 80 Jahren noch, und das alles auch noch ernst meint, ein Mann zum Heulen. Nähme man nur die Worte, wäre es eine Abrechnung: »… überlegst dir tausend Sachen / Damit die Hunde lachen / Weinen sollen sie auch noch / Vergiss es doch …«

Aber die Stimme ist dabei so zärtlich und fürsorglich! Und es ist plötzlich ganz unwichtig, ob es »mude« oder »müde« heißt oder der Akkord nicht getroffen ist …

Da versteht man schon, warum Mischling Meller vom Balkon sprang. Nicht, weil er es schlecht fand, wie ich zuerst dachte. Nein! Weil das Tier sensibler war als wir Menschen und nicht gefasst auf so viel Fragilität und Leidenschaftlichkeit. Es war einfach überwältigt. Inzwischen jault Meller jeden Refrain mit.