»Tun Sie etwas Bizarres!«

Das Lufthansa-Seminar »Entspannt fliegen« verspricht Heilung von der Flugangst an einem Wochenende. von oliver numrich

Das entspannte Fliegen beginnt im Raum »Lindbergh«. Der ist mit orange-braunem Teppich ausgeschlagen und befindet sich im ersten Stock des Airports Tegel. Die getönten Panoramafenster bieten beste Sicht auf die wenige hundert Meter entfernt startenden Flugzeuge. Doch die anwesenden neun Frauen und vier Männer ignorieren diese Aussicht; sie haben sich im Halbkreis um Clipboard und Psychotherapeutin Andrea Kropf samt jugendlicher Assistentin Julia Röttger versammelt, um ihre Flugangst zu überwinden. Denn die passt nicht in Zeiten gestiegener Mobilitätsanforderungen und verlockender Billigtickets in alle Welt.

Die bekennenden Flugangsthasen sind nicht allein mit ihrer Furcht: Rund 60 Prozent der Passagiere fühlen sich unwohl an Bord, schätzt die Lufthansa, davon leiden zehn bis 15 Prozent unter Panikattacken. Ein lukrativer Markt für Anbieter wie die Agentur Texter-Millott, die in Zusammenarbeit mit der Kranich-Linie exklusive Entspannungsseminare anbietet: Für 780 Euro wird eine Erfolgsquote von über 90 Prozent versprochen. Doch wie funktioniert der Psycho-Quickie, die vollständige Heilung in zwei mal zehn Stunden?

In der Vorstellungsrunde äußern die Teilnehmer, warum Fliegen für sie zur Qual wird, warum sie schon froh wären, ohne Nervenzusammenbruch zu landen, geschweige denn entspannt. »Heute dürfen Sie alles sagen, wovor Sie Angst haben«, ermuntert Psychologin Andrea Kropf, »ab morgen müssen Sie die Ängste bekämpfen.« »Ich habe ein Problem mit dem Abstürzen«, beginnt eine Teilnehmerin. Sie ist Hausfrau und nicht mehr geflogen, seit sie eine TV-Dokumentation über Flugzeugabstürze gesehen hat. Ein anderer Teilnehmer, Koch von Beruf, beklagt die Enge im Flugzeug, eine Studentin das beklemmende Gefühl, wenn die Tür verriegelt wird und jeder Ausgang verschlossen ist. Eine Richterin leidet seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unter Flugangst, eine Freiberuflerin sagt: »Ich gucke während des ganzen Flugs nur auf den Monitor mit der Landkarte und sehe im Geiste schon die Nachrichtensendung: Dort ist das Flugzeug abgestürzt.«

Ein Geschäftsführer stöhnt über die vielen, unerklärlichen Geräusche und Vibrationen, die seine Furcht vor dem Abstürzen nähren. Als draußen auf der Rollbahn eine startende Maschine aufheult, fährt er zusammen. Alle wenden die Köpfe zum Fenster und beäugen sorgenvoll, wie das Luftschiff von Air Malta im Himmel über Berlin verschwindet. Eine Lehrerin bekennt, große Furcht vor der Startphase zu haben. Doch jetzt ist ein Gran-Canaria-Urlaub mit der Familie gebucht, und das Seminar muss Erfolg bringen. Bei einigen stellt sich ein traumatisches Erlebnis – ein turbulenter Flug, eine holprige Landung – als Auslöser der Phobie heraus. Bei anderen war es ein schleichender Prozess der Angstvermehrung: Nach und nach kamen immer mehr Sorgen, bis das Fliegen und die Zeit davor zur Qual wurden. Eine Angstpatientin, selbst Ärztin von Beruf, ist noch nie geflogen. Ihre Phobie ist theoretisch, aber stark genug, um sie bis heute vom Fliegen abzuhalten.

»Vermeidung ist keine Lösung«, sagt die Psychotherapeutin, »dann dehnt sich die Angst aus und schränkt immer mehr Lebensbereiche ein.« Schnell wiederholen sich die Motive der Teilnehmer, aber es tut gut, wenn sich einer nach dem anderen offenbart und jeder feststellen kann: Es geht anderen ähnlich. Doch dann kommen schon die Zweifel zurück: Wenn so viele Menschen Angst beim Fliegen empfinden, muss doch da was dran sein. Denn für den Phobiker ist seine Angst vernünftig, sind vielmehr die anderen, die sorglos die Gangway in den Tod hinauf tänzeln, heilungsbedürftig.

Psychologin Kropf wiegelt ab: Allein in Deutschland gibt es jedes Jahr mehr Tote im Straßenverkehr als weltweit im Flugverkehr. Aber wer denkt jedes Mal an die tödliche Gefahr, wenn er ins Auto steigt? Es gehe darum, die Angst zu definieren und ihr gezielt zu begegnen. Flugangst hat viele Facetten: Angst vor Kontrollverlust, Klaustrophobie, Höhenangst, Angst vor der Unausweichlichkeit des Schicksals oder des Sitznachbarn, vor Terroristen, technischem Versagen und dem Tod.

Im Seminar sollen zunächst die Grundlagen vieler Ängste beseitigt werden: die Unwissenheit über das, was beim Fliegen passiert. Dann folgt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper: Wie reagiert er auf Bedrohung, und wie können kognitive Fehleinschätzungen umstrukturiert werden? Es geht nicht um die Aufdeckung frühkindlicher Störungen, sondern um Verhaltenstherapie. Dazu üben die Teilnehmer Verfahren ein, um sich geistig und körperlich zu lockern. Wenn der Mensch Gefahr empfindet, erklärt Kropf, will er weglaufen oder kämpfen. Weil er beides im Flugzeug nicht kann, muss er eine Art gymnastisches Training machen, möglichst viele Muskeln anspannen und wieder entlasten, um den Energieüberschuss abzubauen. Für den Geist gelte dasselbe: »Konzentrieren Sie sich nicht auf die Angst, sondern lenken sie die Gedanken auf etwas Positives.« Assistentin Röttger ergänzt: »Tun Sie etwas Bizarres, um Ihre Selbstbestimmung zu fühlen.« Gemeinsam übt man den »Gedankenstopp« und träumt zu Musik eine Phantasiereise zu einer Südseeinsel. Letztlich ist Fliegen doch nichts anderes als eine Entspannungsübung. Wie die Liebe.

Als nächstes steht Senior First Officer Hans Schramm, 42, auf dem Programm. Der schnieke Lufthansa-Copilot erklärt, warum ein Flugzeug oben bleibt und warum der Gast sich nicht zu beunruhigen braucht. »In der Luft kann dem Flugzeug nichts passieren, dafür ist es gebaut«, sagt Hans Schramm mit fester Stimme und erntet dafür dankbares Nicken. Es könne nicht nach hinten umfallen, sondern wegen Auftrieb hier und Unterdruck da und Aerodynamik und so weiter lege es sich automatisch immer in die optimale Gleitposition: geradeaus, die Nase leicht nach oben. Das ist doch sehr beruhigend. Und Vogelschlag? Kleinere Vögel würden in der Turbine filettiert und geröstet, im Flugzeug rieche es dann nach Brathühnchen. Wieder eine Sorge weniger, denn nach größeren Vögeln fragt keiner. Und warum dieser furchtbar schnelle Start, fragt die Lehrerin nach. »Das ist doch wie mit dem Porsche an der Ampel, da gibt man Vollgas, der schönste Moment!« entgegnet ihr Schramm. »Aber es gibt doch Abstürze!« Die Unerschrockenen konfrontieren den Kapitän, der 14 Jahre Berufserfahrung hat, mit den Katastrophen der Vergangenheit. Es seien immer Verkettungen von unglücklichen Umständen gewesen, beruhigt er sie. Oft sei unzureichend ausgebildetes Personal mitverantwortlich. Aber nach jedem Unfall würden die Sicherheitsstandards verbessert. Selbst wenn zum Beispiel beide Turbinen ausfielen, könne das Flugzeug noch rund 150 Kilometer weit bis zum nächsten Flughafen segeln, es stürze nicht einfach kometengleich zu Boden. Wovor er als Pilot Angst habe, will der Koch wissen. Feuer an Bord sei eine große Gefahr, und schwere Gewitter.

Im Anschluss an die Theorie führt der blonde Hans die Flugschüler auf den Hangar zu einer wartenden Boing 737. Alle dürfen das stehende Flugzeug außen und innen betatschen, sogar auf dem Pilotensitz Platz nehmen. Hans Schramm erklärt so geduldig, wie es einem deutschen Offizier gegeben ist, das Prinzip der Redundanz, wonach alle wichtigen Instrumente wenigstens zweifach vorhanden sind. Das Cockpit ist viel enger als man denkt, spartanisch eingerichtet. Keine Plastikverkleidung mit Getränkehaltern, wie sie in jedem Neuwagen zum Standard gehören, sondern graublau lackiertes Metall wie in einem Militärjet: »Piloten lieben das so, die pure Technik«, schwärmt Hans Schramm. Nach der exklusiven Führung hat keiner mehr Angst davor, von ihm in einer Lufthansa-Maschine geflogen zu werden. Aber um so mehr vor dem Flug mit einem anderen Piloten oder einer anderen Airline. Die Teilnehmer werden schmählich enttäuscht, als sie erfahren, dass der Konfrontationsflug nach Stuttgart am nächsten Tag nicht von Schramm gesteuert wird.

Am zweiten Tag ist die Stimmung anders. Die Frauen sind ruhiger, konzentriert, die Männer aufgekratzt. Jeder hat seine eigene Art, mit der Angst umzugehen. Aber alle sind gekommen. Jetzt werden die Tickets ausgeteilt, die Sitzplätze sind schon festgelegt; das Seminar fliegt Business Class. Als die Richterin nur ein Hinflug-Ticket erhält, weil sie von Stuttgart aus gleich in den Urlaub weiterfährt, stöhnt ihre Sitznachbarin auf: »Wenn sie nicht mit zurückkommt, passiert ein Unglück!« Vorwurfsvoll schaut sie die Richterin an: »Das ist doch ein Zeichen.« Eine andere pflichtet ihr bei: »Ich fliege grundsätzlich nur zusammen mit meinem Mann und den Kindern, damit wir alle tot sind.« Psychologin Kropf wird streng: Verknüpfen Sie nicht Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Das sei Aberglaube, und dafür sei kein Platz an Bord. Aber warum gibt es dann keine Reihe 13 in der Boing 737?

Doch es ist der zweite Tag, und heute sind negative Gefühle unzulässig. Vor dem wirklichen Flug gibt es einen akustischen: Dazu stellen alle ihre Stühle wie im Flugzeug in Reihen hintereinander, so wie es die Tickets vorgeben. Per CD hören die Teilnehmer die Geräusche eines Fluges von Frankfurt nach London: Das Anwerfen der Turbinen, die Beschleunigung, das Einklappen der Fahrwerke – alles wird von einer sonoren Stimme erläutert. Die Flugzeug-Gucker auf der Besucherplattform gleich neben Raum »Lindbergh« zeigen herüber: Was machen die denn da? Nach der fiktiven Landung in London wird es ernst. Kurze Stärkung – »Aber vermeiden Sie Kaffee« –, und das Trüppchen marschiert zum Gate 14. Zusammen mit gewöhnlichen Fluggästen trottet das Angstseminar durch die fensterlose Gangway in das Flugzeug, die Stewardessen grüßen mit aufgesetztem Sekundenlächeln. So weit ist alles normal.

Alle nehmen die vorgesehenen Plätze ein, die Psychologinnen gehen durch die Reihen, beruhigen, erinnern an das Gelernte. Einige outen sich und machen den »Körperpanzer«, eine der gymnastischen Entspannungsübungen. Beim Start hält der Journalist die Hand der Lehrerin, ihre Knöchel treten weiß hervor, sie weint. Auch weiter hinten schluchzt jemand, alle anderen halten sich tapfer. Die Fluggeräusche von der CD sind noch so präsent, die Worte des Piloten Schramm über Technik und den Porsche noch so lebendig, und der Wille, die Flugangst zu besiegen, ist so groß, dass der erste Start von den meisten gut ertragen wird. Sofort mit Erreichen der Reiseflughöhe setzt lautes Geschnatter ein. Das Grüppchen ist aufgeregt und glücklich. Jemand bekleckert sich mit Tomatensaft und ist den ganzen Flug über damit beschäftigt, den Fleck zu bekämpfen, andere unterhalten sich angeregt, genießen die Bordverpflegung, den Ausblick auf die Wolken. Die Landung wird geradezu routiniert hingenommen. In Stuttgart alle raus, Fotos gemacht als Beweis, noch ein Souvenir-Teddy gekauft, dann gleich wieder in dieselbe Maschine, wieder arrogante Begrüßung, wieder starten, essen, landen, Vielflieger-Miene auf den meisten Gesichtern beim Aussteigen. Danach lädt die Lufthansa zum Sektumtrunk bei »Lindbergs«. Es gibt eine Urkunde und eine Brosche »Entspannt fliegen« zum Anclipsen. Man beglückwünscht sich gegenseitig, stößt an auf die erfolgreiche Eroberung des Luftraums.

»Was für ein Vergnügen, ein Genuss über den Wolken! Schade um die zwölf Jahre, die ich nicht geflogen bin«, sagt der Koch. »Ich hätte nicht geglaubt, dass ich das in zwei Tagen bewältigen kann«, meint die Angestellte, »aber die intensive Beschäftigung mit der eigenen Angst hat es gebracht.« Die Hausfrau sagt, es hätte ruhig noch länger gehen können, sie konnte sich zum ersten Mal während eines Fluges richtig entspannen. Auch die Unsicherheit des Geschäftsführers hat sich in Berliner Luft aufgelöst. Er fachsimpelt über die Landung in einem Tonfall, als hätte er niemals gelitten. In der Abschlussrunde versprechen zwölf Teilnehmer, in Zukunft wieder zu fliegen – auch die Lehrerin. Nur die Kinderärztin hebt nicht die Hand. Sie saß die ganze Zeit stumm auf dem Platz, erduldete ihren allerersten Flug klaglos, aber leidend. Ob die Teilnehmer tatsächlich dauerhaft geheilt sind, wird sich auf den nächsten Flügen zeigen: allein, in der Touristenklasse, ohne Leidensgefährten und Psycho-Coaching.