Odyssee im Archiv

Der Nachlass von Stanley Kubrick im Berliner Martin-Gropius-Bau. von petra henninger

Fast nüchtern wirkt sie auf den ersten Blick, die Ausstellung zum Gesamtwerk Stanley Kubricks, die bis zum 11. April im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen ist. Anlässlich einer Schau des 1928 geborenen und in der New Yorker Bronx aufgewachsenen Regisseurs, der es verstand, in seinen Filmen großartige Räume zu inszenieren, hätte man sich vorstellen können, dass die Kuratoren den Lichthof mit einer monumentalen Rauminstallation bestücken. Doch nichts dergleichen. Zurückhaltend ist sie, um den »Werkstattcharakter zu wahren«, wie Hans-Peter Reichmann vom Filmmuseum Frankfurt sagt, auf dessen Initiative und Engagement für das Projekt die Ausstellung zurückgeht. Anfang letzten Jahres wurde sie zunächst an zwei Orten in Frankfurt gezeigt, im Filmmuseum und zugleich im Architekturmuseum.

Das Deutsche Filmmuseum fungiert auch als Veranstalter der nun auf die Reise geschickten Ausstellung, von der sich Jan Harlan, der Schwager Kubricks, wünscht, dass sie vielleicht auch noch im MoMA in New York Station macht. Die Idee hinter dieser nun in Berlin präsentierten Gesamtschau zum Werk Stanley Kubricks ist es, einen ganz und gar unverstellten Zugang zum Werk des großen Regisseurs zu ermöglichen. Der Erschließung des ausufernden persönlichen Nachlasses hat sich zunächst ein Archivar aus dem Museum Frankfurt gewidmet, der die vielen Details mit sachlichem Blick sortiert und in logische Abfolgen und Zusammenhänge gebracht hat. Damit greift das Kuratorium jedoch auch Kubricks eigenes Herangehen und Umgehen mit dem Stoff für seine Filme auf, der als »wissenschaftlicher Blick, der das Material zunächst ordnet und einteilt«, zu verstehen ist, um dann »einen neugierigen Gang durch die Schaukästen der Träume« zu ermöglichen (Georg Seeßlen).

Die Art der Präsentation macht die Herangehensweise der Museumsleute an das umfangreiche Konvolut an Material transparent. So sind innerhalb des Ausstellungsrundgangs nacheinander verschiedene Räume konzipiert, die jeweils verschiedene Phasen des Kubrickschen Schaffens mit Text- und Bildmaterial darstellen und Hintergrundinformationen zu den einzelnen Filmen, aber auch zu den unrealisiert gebliebenen Projekten liefern. In Form von Originalrequisiten, Fotografien von möglichen Drehorten, Kostümen, Musik, Kamera-Equipment und einem Raum, der dem Inneren des Computers HAL 9 000 aus »2001: A Space Odyssey« nachempfunden ist, nähert man sich dem Schaffen des Regisseurs. Das Material stammt größtenteils aus seinem persönlichen Nachlass, wurde aber mit Leihgaben aus internationalen Museen und Privatsammlungen angereichert. Und auch der Fotograf Stanley Kubrick – er war 16 Jahre alt, als er das erste Mal eine Aufnahme an das Magazin Look verkaufte – wird in einem Raum vorgestellt.

Die Idee zu dieser Ausstellung reicht in das Jahr 2002 zurück, als Kubricks Ehefrau Christiane, die zusammen mit ihrem Bruder Jan Harlan (dem ausführenden Produzenten Stanley Kubricks seit »A Clockwork Orange«) anlässlich einer Ausstellung zum Werk des Filmarchitekten Ken Adam ins Deutsche Filmmuseum Frankfurt reiste. Sie und Jan Harlan kamen mit Hans-Peter Reichmann ins Gespräch, der sich sofort für das Projekt begeistern ließ und wenig später nach England fuhr, um auf dem Landsitz der Kubricks »den Heuhaufen« zu sichten. Er berichtet beispielsweise, dass der Tisch aus dem Horrorklassiker »The Shining« in der Kubrickschen Küche steht, gesessen wird um ihn herum auf den Stühlen aus »Eyes Wide Shut«, Kubricks letztem Film. Und das findet Frau Kubrick ganz normal, denn schließlich hatte die Arbeit ihres Mannes nichts mit seinem ganz privaten Leben zu tun.

Die wohltuende Zurückhaltung, mit der bei der Aufarbeitung des Materials vorgegangen wurde, könnte sehr im Sinne Stanley Kubricks gewesen sein, meint sie und äußerte auf der Pressekonferenz auch, dass die Ausstellung, so wie sie nun ist, für sie die Chance birgt, sich gegen die Anfeindungen zu positionieren, denen ihr Mann immer wieder ausgesetzt war. Weil sich besonders die amerikanische Filmkritik von Kubricks letztem Film »Eyes Wide Shut«, der auf Arthur Schnitzlers Erzählung »Traumnovelle« basiert, in ihren Erwartungen betrogen sah, wurde allerlei Unerfreuliches über Kubrick in Umlauf gebracht. Drohungen waren Kubrick und seine Familie ausgesetzt, als 1971 »A Clockwork Orange« in die Kinos kam, was Kubrick dazu veranlasste, den Film in Großbritannien wieder aus dem Verleih nehmen zu lassen. Die öffentliche Empörung richtete sich damals besonders gegen die ästhetisierte Form von Gewalt, die als Verherrlichung missverstanden wurde und vielleicht Phantasien wie aus dem Roman »American Psycho« von Bret Easton Ellis vorwegnahm.

Ein im eigentlichen Sinne politischer Mensch war Stanley Kubrick nicht, wie Michael Herr berichtet, der gemeinsam mit ihm das Drehbuch zum Anti-Kriegsfilm »Full Metal Jacket« schrieb und seine Arbeit über viele Jahre unterstützt und begleitet hat. Er hält Kubrick für einen Kapitalisten und erzählt, dass in einem der zahllosen Telefonate – Kubrick hielt besonders gern per Telefon Kontakt zur Außenwelt – davon die Rede war, dass Kubrick, hätte er die Wahl gehabt, sich für ein Leben unter einem freundlichen Despoten entschieden hätte. Allerdings sei es auch ihm sonnenklar gewesen, dass so einer nicht leicht zu finden wäre.

Eines der großen, nie realisierten Projekte ist ein Film über Napoleon. An diesem umfangreichen Stoff war Abel Gance 1926 bereits gescheitert, dessen Film trotz einer Länge von neun Stunden bloß einen Teil von Napoleons Leben erzählt. Zum Napoleon-Projekt gibt es in der Ausstellung einen als Passage gestalteten Bereich, in dem unter anderem ein Karteikastenschrank, vollgestopft mit zirka 25 000 Karten, aufzeigt, wie akribisch und zugleich umfassend Kubrick seine Vorbereitungen traf. Im Auftrag des Regisseurs erforschten zirka zwei Dutzend Mitarbeiter sowie etliche Historiker die Persönlichkeit und das Leben des französischen Usurpators. Einen ausführlichen Bericht über das Projekt liefert auch der Dokumentarfilm »Stanley Kubrick: A Life in Pictures« von Jan Harlan. Dass der Napoleon-Film, zu dem es bereits Drehpläne gegeben hat, nicht realisiert werden konnte, lag jedoch weniger an Kubrick als an einer Entscheidung, die in Hollywood zu Gunsten eines Konkurrenzprojekts fiel.

Da Kubrick sehr langsam arbeitete, wurde er bisweilen einfach von anderen überholt. Aus diesem Grund blieb auch ein Film über den Holocaust, zu dem es im Nachlass ebenfalls umfangreiches Material gibt, unrealisiert. »Aryan Papers«, so der Arbeitstitel, war 1991 ebenfalls schon bis hin zu den Drehplänen vorbereitet. In »Wartime Lies« von Louis Begley glaubte Kubrick die geeignete Romanvorlage für einen Film über den Holocaust gefunden zu haben, doch lag ihm eigentlich eine Bearbeitung von Raul Hilbergs Standardwerk »Die Vernichtung der Europäischen Juden« am Herzen. Als sich abzeichnet, dass Steven Spielberg mit »Schindler’s List« vor der Fertigstellung von »Aryan Papers« in die Kinos kommen wird, bricht Kubrick die Produktionsvorbereitungen in Absprache mit Warner Brothers ab. Kubrick wird in der Ausstellung dazu mit folgenden Worten zitiert: »Es ging um Erfolg, nicht wahr? Beim Holocaust geht es um etwa sechs Millionen Menschen, die umgebracht wurden. Bei ›Schindler’s List‹ geht es um etwa 600, die überleben.«

Ruhig bewegt man sich durch die Ausstellung, die eher in der Ebene angelegt ist, als dass sie die Höhen und Tiefen des Schaffens durchleuchtet. Sie agiert weitab der sonst schon zum Alltag gewordenen Event-Maschinerien und ermöglicht dem Betrachter einen sachlichen Blick auf das filigrane, aber durch und durch solide Gerüst, das Stanley Kubrick für seine Filme konstruierte und auf dessen festen Fundament die »Raum-Opern« seines Filmschaffens fußen. Sichtbar wird die Denkfabrik, die hinter den Projekten arbeitete und deren unumstößliches Zentrum allein aus der Person Stanley Kubrick bestand.

Die interessanten Einblicke, die die Ausstellung in das Schaffen Kubricks vermittelt, können demnächst schon durch den Besuch der Filme erweitert werden. Dazu ist Gelegenheit während der Berlinale, denn die Filme laufen in der Retrospektive. Und wenig später auch noch einmal im Zeughaus-Kino. Am 23. Februar beginnt hier mit Jan Harlans Dokumentarfilm »Stanley Kubrick: A life in Pictures« (GB 2000) eine Filmreihe, die das Werk Kubricks in chronologischer Reihenfolge zeigt.

»Stanley Kubrick«. Martin-Gropius-Bau, Berlin. Bis 11. April