Ein Jude, der keiner ist

platte buch

Ein Russe, dessen Vater nicht, wie er lange Zeit annahm, ein Jude ist, ist die Hauptperson in dem autobiographischen Roman »Die Finsternis am Ende des Tunnels«. In seinem letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Buch rechnet der bekannte russische Autor Jurij Nagibin (1920 bis 1994) mit dem Antisemitismus in der russischen Gesellschaft ab. Die Erfahrungen, die er auf Moskauer Hinterhöfen, in der Schule und später mit Schriftstellerkollegen macht, sind gekennzeichnet von mehr oder weniger offener Judenfeindschaft.

»Den Antisemitismus bringen sie von zu Hause mit wie ein Butterbrot mit Wurst oder einen Apfel. In der Schule stopften sie uns bis zum Gehtnichtmehr mit der Völkerfreundschaft voll«, schreibt Nagibin über Erlebnisse während der Schulzeit. Ende der fünfziger Jahre erfährt der Ich-Erzähler von seiner Mutter, dass er kein Jude ist. Zur Zeit seiner Geburt schien es der Mutter sicherer, einen Juden als Vater anzugeben, als den eigentlichen Erzeuger zu nennen, einen Sohn von Gutsbesitzern und Anführer eines Bauernaufstandes. »Ich bin also ein Sohn Russlands und kein unerwünschter Gast«, kommentiert Nagibin bitter die Eröffnung. Nun beginnen die Probleme mit seiner »echten« russischen Identität. Prügelnd und provozierend zieht er von einer Party zur nächsten. »Ich rechnete für jenen unglücklichen Knaben ab, der klaglos so viele Schläge und Erniedrigungen hatte hinnehmen müssen.« Nagibins pessimistisches Fazit lautet auch für die Zeit nach dem Realsozialismus, dass das einzige, was die russische Gesellschaft zusammenhält, der Antisemitismus sei.

kerstin eschrich

Jurij Nagibin: »Die Finsternis am Ende des Tunnels«, Hrsg. u. übers. von Wolfgang Eismann, Verlag Czernin, Wien 2004, 235 S., 18,40 Euro