Der Voyeur hatte es nicht schwör

raucherecke

»Wir machen uns nackt für die Kunst«, berichtete der Berliner Kurier. Jroße Aufregung, die amerikanische Künstlerin Vanessa Beecroft kommt nach Berlin, und ihre Performances bestehen aus dem Arrangement nackter Frauen. Berlin wurde durchkämmt nach Freiwilligen. »Leicht verdientes Geld«, meint meine Freundin Angela. Geld ist knapp dieser Tage, Versicherungen und die Telefonrechnung müssen bezahlt werden, da klingen 350 Euro nicht schlecht. Gesagt, getan und auch schon beworben: Angela macht mit bei »VB55«, der 55. Performance von Vanessa Beecroft.

Vor dem Glaskasten der Neuen Nationalgalerie warten die Journalisten, während drinnen hundert nackte Berlinerinnen aufgereiht werden. Ein älterer Öffentlich-Rechtlicher, der seinen Bauch geradezu brutal mit einem Gürtel zweigeteilt hat, beklagt die lieblose Anordnung der »Mädchen«. Seine Kollegin hält die Aufreihung der Nackten für eine Anspielung auf den Holocaust, während die Praktikantin, die die Kamera tragen muss, etwas von »Gender« murmelt .

Endlich wird Einlass gewährt, und die Pressekonferenz beginnt. Beecroft verteilt Komplimente, die Deutschen hätten das intellektuelle Potenzial, auch anspruchsvolle Kunst wie ihre zu begreifen. Von einer monoton sprechenden Frau erhalten die Frauen im Hintergrund Anweisungen: »Rede nicht! Mach ein abweisendes Gesicht! Tritt auf keinen Fall sexy auf!« Angela steht in zweiter Reihe und tritt von einem Fuß auf den anderen. Ja, meint Vanessa Beecroft, das mit der Haarfarbe sei eine Anspielung auf die Nationalfahne. Ach so. Angela geht in die Hocke. Mir ist unwohl: Erst war da Scham, jetzt ist da das unangenehme Gefühl, anderen bei der Arbeit zuzusehen. Schüchtern winke ich Angela zu, sie macht ein abweisendes Gesicht. Dafür wird sie bezahlt.

Freitags nach Feierabend treffe ich Angela in der Kneipe. »Angesichts der langen Dauer ihrer Performances sind die Betrachter einer weitgehenden Ereignislosigkeit ausgesetzt«, hieß es, völlig zu Recht, in der Presseerklärung. Nur zogen die Besucher es vor, sich nach einiger Zeit zurückzuziehen, während »die Mädchen« noch bis 11 Uhr nachts vor einer Gruppe von fünf Betrunkenen posieren mussten. 350 Euro für zweimal 15 Stunden Arbeit, und die Kunst, natürlich, immerhin. Am Montag wird die Telefonrechnung bezahlt. Beecroft dagegen hat ein Konzept gefunden, das den Voyeurismus thematisiert, indem es ihn bedient. Das hat noch Potenzial.

matthias becker