Hexen, Teufel, Götter

Wie die Italiener die Deutschen befreiten. Eine Fußballgeschichte. von michael ringel

Am Anfang steht die Urmutter aller Spielerfrauen: Italia Walter. Am 2. September 1948 heiratete Italia Bortoluzzi den Kapitän des 1. FC Kaiserslautern, Fritz Walter. Zunächst wurde die aus Venetien stammende, fremde Frau misstrauisch von den biederen Pfälzern beäugt: Von der »schwarz Hex mit de rote Fingernägel« wurde getuschelt, die den Pfälzer Bub in den Abgrund der Leidenschaft ziehen wolle. Auch Bundestrainer Sepp Herberger riet dem Ziehsohn von der selbstbewussten, jungen Frau ab. Die nämlich verstand sich eher als Managerin denn als treuherzige Gattin ihres Fritz. So hätten Italia und Fritz Walter als Frühform eines Beckhamschen Pop-Paares in die Fußballgeschichte eingehen können, wären der rote Teufel und die schwarze Hexe nicht beide ganz im Sinne der Adenauerzeit sehr bescheiden und provinziell aufgetreten. Brav lehnte also Italia Walter ein für damalige Verhältnisse astronomisch hohes Angebot von Atletico Madrid für ihren Weltmeister von 1954 ab: »Schätzje, mer bleibe do.« Seitdem wurde die bekannteste deutsche Italienerin nicht nur in der Pfalz geliebt und verehrt. Einige Fußballgenerationen später hätten sich der Weltmeister von 1990 Andreas Möller und seine Frau Michaela sicher anders entschieden: »Madrid oder Mailand – Hauptsache Italien.« Eine geografische Verwirrung, die offenbar weit verbreitet ist in der Fußballwelt. Kurioserweise war nämlich Italia Walter dem Pass nach Französin, allerdings mit einer italienischen Mutter.

Klein, dünn, arm und immer hungrig. So sind sie, die Italiener. Die jetzt die Wiesen und Aschenplätze unsicher machen. Und am Spielfeldrand fluchen ihre Väter: »Porco dio!« Wenn die Deutschen ein Tor schießen. Gegen die Spaghettis, die Itaker. Die trotzdem gewinnen – sogar ganz schön oft. Obwohl wir viel größer und stärker sind. Aber die Italiener sind clever, verdammt clever. Und sehen dabei auch noch gut aus!

Ab 1963 trägt die neu gegründete Fußball-Bundesliga mit ihrem republikweiten Spielbetrieb wesentlich zur Entprovinzialisierung Westdeutschlands bei und fördert zugleich das Selbstbewusstsein der unterschiedlichen Regionen. Eine Entwicklung, die die Pokalwettbewerbe der UEFA noch verstärken sollten. Europäische Spitzenmannschaften waren nun regelmäßig zu Gast in den Bundesliga-Stadien, und auf den Rängen erlebten die deutschen Fans staunend ihre ausländischen Arbeitskollegen, denen sie sonst in der Freizeit aus dem Weg gingen, die jetzt aber lautstark ihre heimischen Klubs anfeuerten. Besonders die Italiener wurden anfangs belächelt. Sie trugen exotische Namen, gestikulierten melodramatisch und spielten eine völlig andere Art des Fußballs. Doch spätestens wenn wieder einmal ein deutscher Angriff an einer traumhaft sicheren italienischen Verteidigung scheiterte, wurden die im Fußball überraschend effizienten Italiener ernst genommen.

Zwei Systeme trafen hier aufeinander. Die Italiener spielten nach der Devise: » Hinten Beton anrühren und vorne hilft der liebe Gott« ein sehr defensiv ausgerichtetes »Calcio«, bei dem vor allem in den sechziger und siebziger Jahren der »Catenaccio« die Verteidigung bestimmte. Die gesamte Mannschaft zog sich dabei vor dem eigenen Tor zu einem Abwehrriegel zurück und versuchte vehement, jede Angriffsbemühung des Gegners zu unterbinden. Die Deutschen hingegen spielten einen eher angriffsorientierten Fußball, bei dem bewusst einkalkuliert wurde, dass man im Laufe der Partie zurückliegen könnte. Diesen Rückstand würde man jedoch, so die Idee, zum Ende hin durch die körperliche und konditionelle Überlegenheit des eigenen Teams mindestens ausgleichen können. »Fußball ist, wenn 22 Mann dem Ball hinterherlaufen, und am Ende gewinnen immer die Deutschen«, beschrieb der englische Stürmer Gary Lineker das deutsche Phänomen.

Wenn dich ein Italiener fragt, sag nie, du bist für Inter oder Milan, Roma oder Lazio. Die sind total verrückt, völlig irre. Die killen dich beim falschen Verein. Am schlimmsten sind die aus dem Süden. Hinter Rom beginnt Afrika. Terroni. Erdfresser. Die haben alle ein Messer. Sag immer, du bist Juve-Fan. Der beliebteste Verein Italiens. Juventus Turin. Die ewige Jugend. Tutta la Giovinezza della mia vita ti voglio donar.

In den sechziger Jahren wird der Fußball zum Zerrspiegel der Migration. Während die italienischen Arbeiter zu tausenden nach Deutschland einwanderten, sollte niemals ein italienischer Profi in der Bundesliga spielen, daheim bekamen sie einfach mehr Geld und Anerkennung. Umgekehrt wäre es einem deutschen Arbeiter nicht einmal im Urlaub eingefallen, nach Italien auszuwandern. Dafür zog es die deutschen Fußballer immer schon nach Süden. Seit dem Jahr 1905, als ein gewisser Julius Östermann Stürmer beim Naples Football and Cricket Club, einem Vorläufer des späteren Maradona-Clubs SCC Neapel, wurde, war Italien eins der Traumländer deutscher Kicker. Die Transferliste ist lang: von Horst Szymaniak, Helmut Haller und Karl-Heinz Schnellinger bis zu den Ostdeutschen Thomas Doll und Matthias Sammer in den neunziger Jahren. Zeitweise spielten derart viele deutsche Profis in Italien, dass im DFB ernsthaft überlegt wurde, die Nationalmannschaft für die so genannten Legionäre zu sperren, um angeblich zu verhindern, dass die Bundesliga ihrer Stars beraubt werde. Dabei war es gerade die berühmte »internationale Erfahrung«, die die »Legionäre« mit zurückbrachten und von der die Bundesliga lange Jahre profitierte. Weshalb der spätere Bundestrainer Erich Ribbeck diesen nationalen Gesinnungsunfug mit einem einzigen, allerdings nicht weniger unsinnigen Satz beiseite wischte: »Es ist egal, ob ein Spieler bei Bayern München spielt oder sonstwo im Ausland.«

Wir sitzen also beim Italiener und gucken das Endspiel. Deutschland gegen Argentinien. Italia Novanta. Alle feuern die Deutschen an, auch die Italiener, weil die Argentinier die Italiener zuvor im Halbfinale rausgeworfen haben. Nur die italienische Köchin läuft die ganze Zeit herum und schüttelt missmutig den Kopf: »No! No, no! Keine Chance!« Die Deutschen würden diesmal garantiert verlieren, das spüre sie ganz genau. Die Schwester der Köchin ist auch da und schwanger und flucht ständig bei jedem Foul der beinharten Argentinier: »Vafancullo!« Und jedesmal beschimpft die Köchin ihre Schwester, sie solle gefälligst an das ungeborene Kind denken. Wenn eine Schwangere fluche, bekäme das Kind ein Feuermal im Gesicht, sagt sie. Italiener! Alle abergläubisch. Dann schießt Brehme den Elfmeter, und Deutschland ist Weltmeister. Mitten im Jubel greift die Köchin meinen Kopf, küsst mich und ruft strahlend: »Hab ich doch gesagt: Wir gewinnen!«

Das Jahr 1970 bringt den doppelten Höhepunkt des deutsch-italienischen Fußballs. Die Phase des – Fußballreporter würden sagen: – Abtastens war vorbei. Nun trafen die Mannschaften und Systeme hart aufeinander. Zunächst bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko. Am 17. Juni 1970 kam es im Azteca-Stadion von Mexiko-Stadt zur Halbfinalpartie Italien gegen Deutschland, die als »das Spiel des Jahrhunderts« oder auch als »das verrückte Spiel«, wie es in Italien heißt, in die Geschichte eingehen sollte: »Zwölf Uhr in Mexiko, in einer heißen / zerpfiffnen Schüssel: Celsius sechzig Grad. / Es kochte furchtbar, doch das Resultat / gilt als Bonbon in den Expertenkreisen«, beginnt das Versepos des Dichters Ror Wolf. Das »Bonbon« aber hinterließ in der Fußballwelt deshalb einen solch bleibenden Eindruck, weil es gleich mehrere Spiele beinhaltete, wie der Mailänder Psychologe Gianluca Bocchi analysiert: »Die Faszination dieses Spiels bestand zum guten Teil darin, dass es eine Kombination bzw. Abfolge von Einzelspielen wurde. Denn es fanden zumindest zwei Spiele statt, auch wenn nicht völlig klar ist, wann das erste aufhörte und das zweite anfing.« Schnell ging Italien durch Roberto Boninsegna in Führung und begann erwartungsgemäß zu mauern. Erst in der allerletzten und 89. Minute des bis dahin fast tristen Kicks gelang »ausgerechnet Schnellinger« (ARD-Kommentator Ernst Huberty), der seit 1965 beim AC Mailand unter Vertrag stand, der Ausgleich. Die Verlängerung begann mit einem Eigentor von Poletti, dem das 2:2 durch Burgnich folgte, das 3:2 durch Riva, das 3:3 durch Müller und das 4:3 durch Rivera. Eine der »überraschendsten, dichtesten und intensivsten Torsequenzen der gesamten Fußballgeschichte«, wie Bocchi feststellt.

Es war das einzige Spiel in der WM-Geschichte, in dem fünf Tore in der Verlängerung erzielt wurden. Faszinierend war aber vor allem das Aufeinandertreffen zweier grundverschiedener Ideen des Fußballs: Das »Nie Aufgeben« der Deutschen, die trotz einer schier ausweglosen Lage zurück ins Spiel fanden, und das »Vom Staub in den Olymp« der Italiener, die in Mexiko endgültig ihre ewig negative Grundeinstellung, der »Prototyp eines perfekten Verlierers« zu sein, überwanden. Nach diesem Kampf mit einem scheinbar unbesiegbaren Gegner, aber noch vielmehr mit sich selbst waren Riva, Rivera, Mazzola, Facchetti zu Fußballgöttern geworden. »Weiße und Azzurri sind keine Gegner, sondern Interpreten einer Oper wie Capuleti und Montecchi in einem ›Julia und Romeo‹ des Fußballs«, wie der Journalist Roberto Giardina in seiner »Anleitung, die Deutschen zu lieben« schreibt. Die Italiener hatten nicht nur das Spiel gewonnen, sondern auch die Herzen der Deutschen – und zwar für mindestens hundert Jahre, wie man in diesem pathetischen Moment glaubte. Dass eine Jahrhundertliebe allerdings nur wenige Monate dauern kann, mussten die Fußballfans kurz nach der Weltmeisterschaft erfahren, als es am 21. Oktober 1970 zum »Büchsenwurf vom Bökelberg« kam. Im Europapokal der Landesmeister spielte Borussia Mönchengladbach das Weltklasseteam von Inter Mailand an die Wand. Es war wohl Günter Netzers bestes Spiel, und die Borussia hätte mit dem 7:1 einen Jahrhundertsieg errungen, wäre nicht in der 30. Spielminute Roberto Boninsegna von einer Cola-Dose, die ein Fan angeblich von der Tribüne geworfen hatte, am Kopf getroffen worden. Boninsegna wälzte sich theatralisch am Boden und wurde ausgewechselt. Die Uefa annullierte das Spielergebnis und setzte ein Wiederholungsspiel im Berliner Olympiastadion an, das Inter 2:4 gewann – und fortan galten in Deutschland alle italienischen Fußballer als melodramatische Schau- und Schönspieler, die für den Sieg lügen und betrügen würden. Gern sahen sich die Deutschen als Opfer und vergaßen dabei, dass es ein deutscher Fan gewesen sein muss, der die ominöse Büchse warf. Für alle Beteiligten jedoch stand das dramatische Geschehen diesmal unter dem Motto: »Vom Olymp in den Staub«.

Guck dir doch die Gazetta dello Sport an. Außen dieses Hutschigutschi-Rosa, und drinnen tobt der Krieg. Es wimmelt nur so von »Canonieri«. Sowas wie Bomber der Nation. Total martialisch. Und wenn du den Fernseher einschaltest, läuft da Werbung für echte Waffen. Im Nachmittagsprogramm. Mit Zbigniew Boniek. Dem polnischen Stürmer von Inter. Lädt die Flinte durch. Nuschelt irgendwas Unverständliches in die Kamera. Und ballert los. Für Beretta. Calcio ist Krieg.

Zwei Fußballweltmeisterschaften sollten noch entscheidende Kapitel in der deutsch-italienischen Fußballgeschichte liefern. 1982 bei der WM in Spanien gewann Italien im Endspiel mit 3:1 Toren gegen Deutschland, das sich zuvor im Halbfinale gegen Frankreich verausgabt hatte. Die Szene auf der Ehrentribüne, als der steinalte und winzig kleine italienische Staatspräsident Sandro Pertini nach dem dritten Tor der Italiener vor Freude zirka drei Meter in die Luft sprang, rührte auch die deutschen Fernsehzuschauer schon sehr. Und bei der WM 1990 in Italien besiegte Deutschland im Finale Argentinien mit 1:0. Die Italiener waren im Halbfinale von den Argentiniern besiegt worden und feuerten nun im Endspiel die Deutschen an. Das bedeutete Gleichstand in der Ewigenliste: Deutschland und Italien waren nun jeweils dreimal Fußballweltmeister geworden. In der Bundesliga tauchten jetzt die ersten Einwandererkinder auf. Der wohl bekannteste ist Maurizio Gaudino, der es als Sohn eines neapolitanischen Gastarbeiters aus Mannheim-Rheinau vom Armenviertel der Stadt bis in die deutsche Nationalmannschaft brachte, später jedoch in Autoschiebereien verwickelt war und schließlich unter dem Druck der Medien ins Ausland wechselte, wohin ihm sein Ruf bereits vorauseilte. Angeblich erzählte man sich in Manchester, wohin er für einen Sommer verpflichtet wurde, Gaudino-Witze: »Nach einem Auswärtsspiel kommt das Team in die Kabine. Plötzlich ruft der Betreuer: ›Wo ist denn unser Bus?‹ Alle schauen Gaudino an, doch der strahlt: ›Ich habe ein Alibi, ich habe gespielt.‹«

Stell dir vor, es gäbe in Deutschland eine offizielle Wahl zum hübschesten Fußballer der Bundesliga. Einmal im Jahr. Und Millionen Frauen machen mit. Wie in Italien. Wo der schöne Paolo Maldini, weißt du, der Verteidiger vom AC Milan, jahrelang die Nummer eins war. Da haben es die Italiener schon besser. Wer könnte hier wohl gewinnen? Jens Jeremies? Bastian Schweinsteiger? Wer weiß das schon? Höchstens der Papst in Rom. Johannes Paul II. jedenfalls kannte sich in der Bundesliga aus. Schließlich war er seit 1988 Mitglied bei Schalke 04. Was denen aber auch nicht gerade geholfen hat.

In den neunziger Jahren schließlich werden mit Giovanni Trappatoni bei Bayern München und Nevio Scala bei Borussia Dortmund erstmals italienische Trainer in der Bundesliga verpflichtet. Besonders Trappatoni wurde sehr populär in Deutschland, nachdem er seine berühmte Brandrede zur Lage des FC Bayern München gehalten hatte, die mit ihren äußerst geflügelten Worten als eine der wichtigsten und meistzitierten Reden deutscher Zunge in die Geschichte eingeht. Die Italiener waren endgültig zu Lehrmeistern der Deutschen herangereift. Bei allen internationalen Einflüssen auf den deutschen Fußball war der italienische Einfluss der vielschichtigste und beständigste, auch wenn das Verhältnis meist von Emotionen beherrscht wurde: die anfängliche Herablassung der Deutschen gegenüber den Südländern; die spätere Verklärung des deutsch-italienischen Fußballs als vermeintlicher Antagonismus aus »Solidität« und »Intuition«; oder die Bewunderung für die italienische Effizienz, die in dem immer wieder kolportierten Spruch mündete: »Wenn es darauf ankommt, gewinnen die Italiener.« Letztlich hat gerade die Dominanz des Irrationalen die angeblich so rationalen Deutschen entscheidend beeinflusst. Wenn die Italiener mit verblüffender Leidenschaft eine komplett unwichtige Angelegenheit wie das Fußballspiel betrieben, dann lernten die Deutschen daraus eins: Erst im Spiel und damit in der unernsten Seite des Lebens gewinnt der Mensch seine Humanität. Durch die italienische Lebensart wurden die Deutschen also auch ein wenig humanisiert. Genau so lässt sich dann die ironische Aussage des legendären Managers vom FC Liverpool, Bill Shankley, verstehen, die den Sinn des Fußballs zusammenfasst: »Manche Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es weit ernster ist!«