Warum ich die Linke gewählt habe

Er gehörte zu den Grünen der ersten Stunde und ist bis heute Anarchist. Er bezieht ALG II und Blindengeld und hat für die Linkspartei gestimmt. Seine politische Biografie schildert daniel schneider

Eigentlich wollte ich katholischer Priester werden und für eine heile Welt sorgen. Doch von der antiautoritären Bewegung mitgerissen, verweltlichte sich mein Missionswunsch. Jetzt sollte, ja musste es Politik sein. Aus Solidarität mit dem ehemaligen Exilanten Willy Brandt, den unsere Konservativen nur »Weinbrand-Willy« nannten, ging ich in die SPD. Fassungslos sah ich im Fernsehen, was die westliche Führungsmacht in Vietnam mit ihren Napalmbomben anrichtete. An der Deutschen Oper in Westberlin schlugen die Wächter des Schahs mit Stahlruten auf die Demonstranten ein. Die anwesenden Politiker und die Polizei sahen tatenlos zu. Ein Student wurde erschossen. Endlich kam auch ich in dieses Mekka der Linken. Ostern 1968, eine Woche nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, wurde ich Student der Freien Universität. Gerne ließ ich mich von den Wasserwerfern der Bullen zum Linksradikalen taufen, bewährte mich im Straßenkampf und in der Agitation vor Betrieben und Schulen. Es war eine Lust, radikal zu sein. Ich, der religiös eingefärbte Asket, lernte auch, mich mit dem Rausch anzufreunden. Im Tiergarten zog ich am ersten Joint. Aus den Transistorradios dröhnten die Doors und Santana. Ich hatte schon lange geahnt, schwul zu sein. Jetzt endlich wurde ich im Grunewald entjungfert.

Konfrontiert mit einer anderen Wirklichkeit

Es ist schön, sich selbst in einer so aufbruchfreudigen Zeit zu entdecken. Auch wenn wir die Gesellschaft radikal infrage stellten, wir waren doch ihre Wohlstandskinder. Mit wirklich bedrohlicher Armut wurde ich erst konfrontiert, als ich im Sommer 1975 in die USA flog. Nichts erinnerte in San Francisco mehr an den Sommer der Liebe. Nur noch verblassende Graffitis an den Häuserwänden erzählten von den Träumen der Hippies. Haight-Ashbury, ihr einstiges Zuhause, war zum Slum verkommen. In den Mülltonnen suchten Menschen nach Essbarem. Nicht wenige der Schwulen, die mich aufnahmen, lebten von Sozialhilfe und Lebensmittelgutscheinen. Die Not steigerte offenbar den Lebenshunger. Alles war möglich. Drogen, Sex an jeder Ecke. Ich, der ich bisher so vernünftig gelebt hatte, ließ mich von diesen Rauschwelten verführen. In diesen vier Monaten bin ich ein Anderer geworden.

Zurück in Deutschland flüchtete ich aus meiner Wohngemeinschaft. Ich konnte nur noch mit Ach und Krach meine Doktorarbeit abschließen. An eine Rückkehr an die Universität, wo ich Berufsschullehrer ausgebildet hatte, war nicht mehr zu denken. Ich wollte nur noch leben, leben, leben. Eine Augenerkrankung half mir. Ein Gehirntumor wurde vermutet. Wenn ich schon demnächst ins Grab fallen würde, wollte ich wenigstens zuvor die Sau rauslassen. Meine Zigeunerjahre begannen. Sie waren alles andere als ein Honigschlecken. Einmal wurde ich brutal zusammengeschlagen. Ab und zu wurde ich verhaftet. Sogar die Psychiatrie lernte ich von innen kennen. Trotz dieses Abstieges glaubte ich weiter an meine politische Berufung und begriff diese Erfahrungen als meine Lehrjahre.

Eine neue politische Heimat

Ich war wieder einmal mit dem Fahrrad unterwegs. Im Sommer fuhr ich am Bodensee los und kam an einem schönen warmen Herbsttag in Bonn an. Mit anderen Freaks besetzte ich ein leer stehendes Internat der Salesianer. Den Grünen war vor kurzem der Einzug in den Bundestag geglückt. Ich wollte diese neue politische Generation kennen lernen und besuchte manche ihrer Fraktionssitzungen. Petra Kelly und ihr Bundeswehrgeneral Bastian, die sich später umbrachten, waren schon außergewöhnliche Exoten. Auch mein Herbert war eine schrille Erscheinung. Er hatte in Frankfurt als Türsteher in einer schwulen Bar angefangen und löste nun als Abgeordneter mit seinem Arschwackeln im Plenum anzügliche Bemerkungen und Naserümpfen aus. Das war eine Welt, in die ich gut hineinpasste.

Nach zwei Jahren fuhr ich zurück in meine fränkische Heimat und wurde Landtagskandidat der Grünen. Als mir der Einstieg in die große Politik nicht glückte, musste ich dankbar sein, wenigstens als unqualifizierte Hilfskraft in einem Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen angestellt zu werden. Meine Wiedereingliederung in das Arbeitsleben begann. Es war schön, diese Kerle zu wickeln und zu füttern. Dabei lernte ich, auch mit mir selbst mütterlicher umzugehen. Seelisch gesundet, trieb es mich nach der Wende zurück in mein geliebtes Berlin, und diesmal gleich in den Ostsektor.

Nachsinnen über einen nicht geglückten Traum

Was wir Grünen auf keinen Fall werden wollten: Berufspolitiker. Für uns war das eine Horrorvision. Wir wollten uns nicht von der Politik auffressen lassen, sondern Mensch bleiben. Strenge Regeln sollten die Ehrgeizigen in Schach halten. Absicht war, die Gewählten bereits in der Mitte ihrer Amtszeit auszuwechseln. Aber da hatten sich doch die meisten erst eingearbeitet. Brauchten sie nicht noch eine zweite Amtszeit, um erfolgreich wirken zu können? Inzwischen wechseln auch die Grünen ihre Stars nicht mehr aus, und wir haben uns daran gewöhnt.

Auch mit den Bundestagsgehältern wollten wir anders umgehen. Kein Gewählter sollte mehr bekommen als den Durchschnittslohn eines Facharbeiters. Den Rest seines Gehaltes sollte er in eine Kasse einzahlen, aus der weitere Arbeitsplätze finanziert wurden. Schon Petra Kelly weigerte sich energisch, ihr verdientes Geld nicht für ihre eigenen Visionen ausgeben zu dürfen.

Wie das heute bei den Grünen gehandhabt wird, weiß ich nicht.

Politik aus Sicht des Arbeitslosen

Ich will hier nicht auf die Tränendrüse drücken. Seit meiner Rückkehr nach Berlin bin ich arbeitslos und seit zehn Jahren blind. Aber dank Arbeitslosengeld II und Blindengeld geht es mir als Alleinstehendem finanziell recht gut. Dass Blinde mit ihrer Behinderung Anspruch auf einen Nachteilsausgleich haben, ist so selbstverständlich nicht, wie es die Blindenverbände darstellen. Gehörlose mussten jahrzehntelang um einen solchen Ausgleich betteln und bekommen noch immer weitaus weniger als Blinde. Aber dass Angelas zukünftige Sozialministerin, Ursula von der Leyen, das Blindengeld in Niedersachsen einfach abgeschafft hat, ist kalt und rücksichtslos.

Als Anarchist habe ich nie Wohngeld beantragt. Mein Ideal war es, möglichst wenig von Staatsknete zu leben. Doch beim Hartz-IV-Antrag erfolgt automatisch eine Wohngeldberechnung. Als Schlitzohr habe ich mich natürlich dagegen nicht gewehrt. So bekomme ich jetzt mehr Arbeitslosengeld als vor dieser Reform. Auch der Vorschlag, das Renteneintrittsalter immer mehr heraufzusetzen, ist mir äußerst sympathisch. Denn aufgrund meines Zigeunerlebens habe ich mir bisher einen Rentenanspruch von weniger als 300 Euro erworben. Ich bin gerne bereit, weitere zehn Jahre bis zu meinem 70. Lebensjahr arbeitslos zu bleiben. Bei der Diskussion um das Renteneintrittsalter geht es den Politikern nicht darum, möglichst viele Menschen möglichst lange in Arbeit zu halten. Vielmehr schafft man sich eine rechtliche Grundlage, um denen, die frühzeitig in Rente gehen müssen, die Ansprüche kürzen zu können.

Trotz all dieser Fragwürdigkeiten war aus meiner Sicht eine einschneidende Reform unvermeidbar.

In der Nachkriegszeit hatte sich die Erwartung etabliert, der Staat garantiere über die Arbeitslosenversicherung den bisher erworbenen Lebensstandard. Das klappte in den Wohlstandsjahrzehnten. Wer arbeitslos wurde, bekam zuerst 80, später 60 Prozent seines bisherigen Gehaltes. In meiner Verwandtschaft kenne ich einen Banker, der wegen unredlicher Geschäfte entlassen wurde und der die letzten Jahrzehnte dank seines Arbeitslosengeldes bestimmt nicht hungern musste. Auch eine junge Ärztin ist mir bekannt, die nach drei, vier Jahren die Lust am Arbeiten verlor und finanziell ganz angenehm über die Runden kam. Es trifft also durchaus zu, dass dieses System eher Versorgungsmentalität unterstützt als Eigeninitiative gefördert hat. Aber so empörend solche Einzelfälle sind, durch die jetzige Politik der Daumenschrauben entsteht kein einziger neuer Arbeitsplatz. Aufgrund der neuen Regelung steht fest: Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, wird zum Sozialhilfeempfänger und muss zuvor einen Großteil seines angesparten Vermögens aufbrauchen. Gerecht und dem Einzelnen angemessen ist das selten.

Alles Gute von den Linksradikalen?

Bin ich deshalb zu den Empörlingen Lafontaine und Gysi geflüchtet? Auf sie trifft zu, was Lenin in seiner Schrift »Der Linksradikalismus – eine Kinderkrankheit des Kommunismus« so brillant analysiert hat. Es sind Agitatoren, die eine revolutionäre Situation herbeizwingen wollen, indem sie die Begehrlichkeiten der Menschen anstacheln und sie auf die Barrikaden treiben. Von solchen Traumtänzern hält Lenin wenig, weil die Enttäuschten anschließend meistens in die Arme der Reaktion flüchten. Zu oft wurde schon versprochen, den Reichtum von oben nach unten umzuverteilen, und das hat bisher noch nie geklappt. Deshalb sollte man schon gewissenhafter auf die Lebenssituation der Einzelnen eingehen. Wo die PDS bereits mitregiert, denkt sie nicht mehr ans Umverteilen, sondern ans Sparen.

Doch trotzdem halte ich die neue Linkspartei für eine Chance. Wenn Gysi und Lafontaine die Lust an der Selbstdarstellung verlieren und es ans Arbeiten gehen soll, werden sie sich eh wieder ins Private zurückziehen. Dann haben wir die Partei für uns und können sie in unserem Sinne subversiv unterwandern.