Astreiner Klassenkampf

raucherecke

Es schüttet wie aus Kübeln. Am Berliner Ostbahnhof versammeln sich nur wenige Hartgesottene, um gegen die neue Regierung und Hartz IV zu demonstrieren. Angesichts des »Horrorkatalogs« der großen Koalition hat man in der ganzen Republik zum Sternmarsch in die Hauptstadt gerufen.

Die Ost- und Norddeutschen am Ostbahnhof haben sich gut vorbereitet und sind sorgfältig sortiert. In Kleingruppen drängen sie sich um ein Mikrofon, in das sie unter Jubel ihren Herkunftsort brüllen: »Wir sind die Montagsdemonstration aus Gera.« Yeah!

Ein rüstiger Rentner aus Hannover ist nach Berlin gekommen, weil er sauer ist. »Alles, was ich mit Mühe erarbeitet habe, geht zum Teufel«, schimpft er. »Außerdem gibt es keinen Zusammenhalt mehr. Niemand will sich heute noch mit dem Volk identifizieren. Die sind alle zu egoistisch.« Doch schon bald mündet der skurrile Lokalpluralismus in die altbekannte Parole: »Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir.«

Matze aus Magdeburg, Anfang zwanzig, hofft, dass der MLPD nicht wieder die Unterwanderung der Veranstaltung vorgeworfen wird. Natürlich stecke die MLPD überall mit drin, sagt er, er selber sei Mitglied ihrer Jugendorganisation »Rebell«. Aber »das soll hier ja eine demokratische Veranstaltung sein«. Er deutet hinter sich. War da nicht auch irgendwo ein PDS-Stand? Immerhin haben etliche Gewerkschafter und das Erwerbslosenforum Deutschland ebenfalls zur Demonstration aufgerufen.

Am Kottbusser Tor treffen sich die süddeutschen Demonstranten. Vergeblich suchen sie nach Passanten. Die sonst so belebte Kreuzberger Adalbertstraße ist menschenleer. Eine fähnchenschwenkende Kleingruppe ruft trotzdem: »Unsere Agenda heißt Klassenkampf.« Im Demonstrationszug gibt es gleich mehrere offene Mikrofone, die auch fleißig genutzt werden. Man stellt die Bezugsgruppe vor, präsentiert die lokalen Demohits oder macht Vorschläge für das gemeinsame Auftreten. »Ich hab’ viele Wochen an den Gelsenkirchener Montagsdemos teilgenommen«, berichtet ein Schnurrbartträger, »da laufen die immer astrein in Viererreihen. Das zeigt eine Geschlossenheit nach außen, die ich hier vermisse.«

4 000 Menschen versammeln sich nach Angaben der Polizei am Ende vor dem Brandenburger Tor. Die Veranstalter sprechen von 15 000. Hartz IV dürften sie dennoch nicht mehr verhindern.

janin hartmann