Wenn ein Saudi rappt

hubert ghorayeb ist Manager bei EMI in Beirut und erzählt, wie Popkultur in der arabischen Welt funktioniert

Durch das Satellitenfernsehen hat sich in der arabischen Welt politisch und kulturell einiges verändert.

Auch wenn eine Regierung einen Kanal in ihrem Network verbietet, irgendwie bekommen ihn die Leute doch zu sehen. Die traditionellen Zensurmaßnahmen funktionieren nicht mehr. Mit speziellen Satelliten-Receivern und anderen technischen Tricks kann man sie leicht umgehen. Auch das Regierungsfernsehen musste sich verändern. Wer guckt schon einen antiquierten Sender, wenn er über Satellit alle Kanäle der Welt sehen kann?

Der Libanon ist zwar eines der liberalsten und modernsten Länder des Mittleren Ostens, dennoch hinkte das Land der neuen Entwicklung in der Musikindustrie etwas hinterher.

Ja, während des Bürgerkriegs konnten wir mit den internationalen Veränderungen nicht mithalten. Ein neues Album wurde im Radio promoted, und das war es dann auch schon. Videoclips gab es damals noch nicht. Die Idee dazu entstand Ende der achtziger Jahre, als die Firmen es als ein Werkzeug des Marketings betrachteten. Nach dem Krieg ging es dann richtig los. Heute ist die Lebanese Broadcast Corporation einer der besten Fernsehsender des Mittleren Ostens und Nagam einer der größten Musikkanäle.

Welcher Musiksender war der erste im arabischen Raum?

Das war VH1, danach kam gleich MTV. ART jedoch war unter den arabischen Musiksendern der erste. ART kommt aus Saudi-Arabien.

Welche Auswirkungen haben die Musiksender auf die arabische Popmusik?

Man muss unterscheiden zwischen der Musik und den Videoclips, ganz banal zwischen dem, was man nur hört, und dem, was man sieht. Ein Song mag im Radio funktionieren, aber für einen Videoclip braucht es etwas anderes. Einen Sänger in ein Theater zu stellen oder eine Frau im Tschador zu zeigen, das zieht natürlich nicht mehr. Folglich sieht man jetzt hübsche Mädchen, Autos, Strand, Meer, Sonne und dazu ein bisschen Exotik. Mit ganz wenigen Ausnahmen gibt es in unserer Region kaum clevere Clips. Alles ist sehr kommerziell. Dagegen möchte ich auch gar nichts sagen. Aber wir können Kunst und Kommerz nicht miteinander verbinden, wie ihr es im Westen macht. Einige Dinge gehen einfach nicht. Ein anderes gutes Beispiel ist Rockmusik. Viele Bands haben es damit versucht, haben auch mit arabischen Stilmitteln gearbeitet, aber Rockmusik funktioniert in der arabischen Welt nicht.

Aus welchem Grund?

Ehrlich gesagt, weiß ich darauf keine Antwort. Es gefällt einfach nicht. Vielleicht funktioniert es in 100 Jahren.

Was am besten funktioniert, ist arabische Musik.

Ja, arabischer Stil rauf und runter. Natürlich mit Beats, Cuts, Einflüssen von HipHop, House und Dance Music. Mit all den Elementen, die wir nicht erfunden haben, sondern die von euch aus dem Westen stammen.

Aber trotzdem hört sich das wenig nach westlicher Popmusik an.

Klar, ohne arabischen Touch geht gar nichts. Nach wie vor sind traditionelle Instrumente wie Trommeln, Violinen oder auch die Oud präsent. Wenn es nicht irgendwie arabisch klingt, bleibt der Erfolg aus. Aber Mixing ist schon wichtig. Ein Beispiel dafür, wie sich die Zeiten geändert haben, ist Ilham al-Madfai, der im Irak eine Ikone ist, so wie Fairuz im Libanon. Er hat als erster Flamenco mit arabischer Musik gemischt und hatte einen riesigen Erfolg. Vor 20 Jahren spielte er in London. Damals wurde er angegriffen und gefragt, wie er das nur tun könne. Heute macht das fast jeder.

Früher gab es auch nicht die Masse von Produktionen wie heute.

Die neue Technologie macht es einfach, Musik zu produzieren. Man kann das zu Hause am Computer machen und bringt die CD zum Produzenten. Früher konnte man das nicht. Heute will jeder berühmt werden. Viele junge Mädchen träumen davon, wie Nancy Ajram zu werden: berühmt und reich.

Das Fernsehen kreiert Stars, Idole. Die Programme Star-Academy und Superstar al-Arab, arabische Versionen von American Idol und British Pop Idol tun ein Übriges. Im Jahr 2003 stürmten erzürnte Jugendliche in Beirut die Fernsehstudios, weil ihr Lieblingskandidat nicht gewonnen hatte.

Ja, die Leute sind verrückt nach diesen Programmen, sie lieben das. Da geht es natürlich nicht um Musik. Da geht es um Haltungen. Wie man gesehen hat, muss man, um an diesen Wettbewerben teilzunehmen, auch nicht unbedingt superschlank und schön sein.

Der deutsche House-DJ Hans Nieswandt war ganz verblüfft, als er durch einige arabische Länder reiste. Er nannte es ein Paralleluniversum mit eigener Popkultur und Starsystem. Wir sprechen allerdings nur über die Welt des Mainstream. Gibt es abseits davon noch andere funktionierende Subkulturen?

Ja, es gibt auch elektronische Musik, z.B. das REG Project. Das ist elektronische Musik mit allen erdenklichen Stilelementen. Eine extravagante Mischung aus Indian-, House-, Arab-, Chillout-Musik. Sie suchen nach neuen Wegen, und wir von EMI versuchen, sie bekannt zu machen. Was natürlich nicht sehr einfach ist.

Was verkaufen REG Project beispielsweise?

Die Verkaufszahlen sind im Mittleren Osten so eine Sache. Es kommt auf das jeweilige Land an, was man erfolgreich nennt. In Ägypten verkauft man weniger CDs, hauptsächlich Kassetten. Eine CD kostet 20 ägyptische Pfund, was bei einem Durchschnittsgehalt von vielleicht 150 Pfund sehr viel ist. Hinzu kommt das Problem der Piraterie. Rund 70 Prozent aller Produkte sind Raubkopien.

Da kann man von Umsatz kaum sprechen. Was tun Sie gegen die Piraterie, die hier zum Alltag gehört?

Wir bekämpfen sie, wo es möglich ist. Manchmal gehen wir sogar mit der Polizei zu Hausdurchsuchungen, um zu unterscheiden, welche CDs kopiert, welche echt sind. Aber solche Aktionen helfen wenig und erzeugen oft Probleme. Ein Ladenbesitzer wollte sich sogar gewaltsam zur Wehr setzen. Er konnte einfach nicht verstehen, warum man seine Ware beschlagnahmte. Er hatte nicht das geringste Gefühl, ein Unrecht begangen zu haben. Als ich ihm sagte, dass wir sehr viel Geld für die Produktion und den Vertrieb der CDs ausgeben und er unser Eigentum verkauft, wollte er das nicht verstehen. Er sagte, wir alle seien von den Amerikanern und Israelis bezahlt.

Wie verdienen die Künstler eigentlich ihr Geld, wenn die meisten ihrer CDs als Raubkopien verkauft werden? Es gibt im Vergleich zum Westen kaum Konzerttourneen. Viele der Sänger sollen jedoch sehr wohlhabend sein.

Mädchen haben größere Chancen als Jungs, eine Karriere zu machen. Vorausgesetzt, sie sind jung und sehen gut aus. Die Stimme ist egal, irgendwie müssen sie berühmt sein. Dann holt man sie für Partys an den Golf, für Hochzeiten nach Beirut. Da werden 50 000 Dollar oder in der obersten Klasse auch schon mal 100 000 Dollar für einen Auftritt bezahlt. Das ist ein sehr profitables Geschäft. Hinzu kommen einige Konzerte und Auftritte im Fernsehen. Mit Werbung und Fotos wird auch noch sehr gut verdient.

Kann man arabische Musik eigentlich aus dem Internet herunterladen?

Daran wird natürlich gearbeitet. Musik im Internet, das ist auch bei arabischer Musik ein Trend. Da gibt es keinen Unterschied zwischen westlichem und östlichem Publikum. Die Leute wollen Songs herunterladen, wollen das Gefühl haben, schnell und unkompliziert den neuesten Hit zu bekommen. Für uns ist das nur ein Teil des Internet-Marketings. Neben den Songs müssen Videoclips und Interviews verfügbar sein. Am besten in einem speziellen Digipack mit Merchandising-Extras. So etwas bringt die Leute auch dazu, sich anstatt einer Raubkopie die Original-CD zu kaufen.

Ein Problem, nehme ich an, ist auch der Vertrieb, der Mangel an Infrastruktur. Es gibt zwar eine Unmenge von CD-Läden, aber da werden keine Original-CDs verkauft.

Klar, das könnte viel besser sein. Aber in jeder größeren Stadt gibt es ein, zwei richtige Plattenläden. Es kommt auch auf die Sozialstruktur des jeweiligen Landes an. In reichen Ländern wie Dubai gibt es keine Probleme.

Wie sehen denn die Marktanteile von arabischer im Vergleich zu westlicher Popmusik aus?

Ich würde sagen, das Verhältnis liegt bei 60 zu 40, was die Verkaufszahlen anbelangt. Der Marktanteil hauseigener Produktionen, die in unserer Region einen subkulturellen Stellenwert haben, ist gering. Aber mit steigender Tendenz. Wir brauchen Anerkennung aus dem Westen für diese Produkte. EMI hat in aller Welt Büros, aber es ist nicht so einfach, woanders unsere Produkte zu verkaufen. Ein Release einer neuen, unbekannten Band bedeutet viel Arbeit. Marketing und Promotion kosten Geld. Und jedes Büro hat selbst unzählige neue lokale Produkte. Da brauchen wir schon etwas ganz Besonderes. Hinzu kommt, dass unsere Produkte im eigenen Land keine Hits sind. Da fehlt ein entscheidendes Argument.

Für Musik, die nicht unbedingt Arab-Pop ist, gibt es also kein Publikum. Diese Produkte wären also im Westen besser aufgehoben?

Ja, bei euch im Westen existieren unzählige verschiedene Stilrichtungen mit dazugehöriger Konzert- und Eventkultur. Ihr seid damit groß geworden. Bei uns gab es das einfach nicht, und deshalb besteht ein unheimlicher Nachholbedarf. Heute kommt man einfach nicht darum herum, sich mit arabischer Musik zu befassen. Sie ist allgegenwärtig. Das hat auch etwas mit Sprache zu tun, die Songs haben arabische Texte, die wir problemlos verstehen können und die unseren Alltag, unser Leben und unsere Kultur widerspiegeln.

Könnte das nicht auch etwas mit Identität, Selbstbewusstsein zu tun haben? Seine eigene Musik haben, nicht immer nach dem Westen schielen, wo man als Araber nicht gerade willkommen ist?

Klar, das gehört auch dazu.

Glauben Sie nicht, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich etwas Neues tut?

Ja, das hoffe ich. Tatsächlich gibt es schon Anzeichen für Veränderung. In den letzten Jahren fanden Konzerttourneen statt, die es bisher so nicht gegeben hat. Placebo spielten in Beirut, dann die Scorpions, Bryan Ferry und sogar Massive Attack, was schon ein großes Risiko war. Triphop ist eine für die Region schon sehr spezielle Musik. Auf dem Konzert wurden sogar viele CDs verkauft. Das ist wirklich ein Erfolg.

Haben die Ereignisse der letzten Monate im Libanon Einfluss auf die Musikszene? Auf Zensur muss man als Künstler keine Rücksicht mehr nehmen, man muss keine Angst mehr haben.

Für den arabischen Mainstream gab es mit der Zensur nie Probleme. In den Songs geht es immer um Liebe: Ich hab’ dich gesehen, gefunden, verloren, geküsst oder nicht geküsst. Das ist immer dasselbe. Ziemlicher Mist, würde ich sagen. Bei Rockbands oder Rappern ist das ganz anders. Die singen von politischen Dingen, erzählen von persönlichen Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft und über Tabus. Da gab es natürlich Probleme mit der Zensur. Jetzt werden wir vielleicht eine Band verpflichten, die in einem Song davon singt, dass man die Regierung bekämpft. Vorher wäre das mit Sicherheit unmöglich gewesen. Heute, denke ich, wird es damit keine Probleme geben. Hoffe ich zumindest, denn wo bliebe sonst das Recht auf freie Meinungsäußerung?

Man kann sich kaum mehr vorstellen, dass solche Texte heute im Libanon ein Problem darstellen.

Man muss noch einige Monate abwarten. Aber alles sieht sehr gut aus. Dann kann es vielleicht sogar Songs gegen das syrische Regime geben. Das hätte man sich vorher nie träumen lassen.

Aber gab es diese Sorte von kritischen Texten nicht schon bei Rappern, die gewöhnlich kein Blatt vor den Mund nehmen?

Bestimmt, aber diese Art von Musik ist öffentlich so gut wie gar nicht präsent. Rap gehört zu den Stilen in der arabischen Welt, die ebenfalls nicht funktionieren. Mir gefällt französischer Rap, auch deutscher, aber das klingt alles sehr hart für arabische Ohren. Wir sprechen auch nicht dieselbe Sprache. Für Rapper ist es wichtig, ihre Originalsprache zu verwenden, mit viel lokalem Slang, um Authentizität zu transportieren. Das ist für ein arabisches Publikum undenkbar. Wenn ein Saudi einen Rap-Song macht, dann kann ich das nicht verstehen, höchstens bruchstückhaft. Am schlimmsten ist es mit den Marokkanern, von diesem Dialekt verstehen wir hier am anderen Ende des Mittelmeers kein Wort.

Aber wie funktioniert das beim arabischen Pop? Gibt es da keine lokalen Sprachdifferenzen? Da wird doch nicht in klassischem Arabisch gesungen?

Beim Mainstream-Pop gibt es drei große Sprachen: Ägyptisch, Libanesisch und Golf. Jeder Künstler nimmt sein Album oder nur einige Songs in diesen drei Sprachen auf. Außerdem sind die meisten Songs textlich, wie schon gesagt, nicht sehr anspruchsvoll. Über die Jahre hat sich auch eine länderübergreifende Sprache entwickelt, die jeder verstehen kann. Bei Filmen ist das ganz ähnlich. In den arabischen Ländern ist jeder an die Filme aus Ägypten gewöhnt. Man versteht sie, sprechen kann man vom Ägyptischen jedoch nur sehr wenig. Aber beim Marokkanischen ist für uns alles aus.

Ist die sprachliche Barriere der Grund, warum im Mittleren Osten kaum Rai-Musik gehört wird?

Rai ist eine spezielle Musik des Maghreb, die bei uns alleine schon sprachlich nicht funktionieren kann. In Algerien, Marokko und auch Tunesien können die Menschen die Songs ohne größere Probleme verstehen. Hier in unserer Region eben nicht.

Warum hat sich eigentlich hier im Libanon und den Nachbarstaaten nicht so etwas Ähnliches entwickelt wie in den arabischen Staaten Nordafrikas? Als Rai begann, waren diese Länder alles andere als ein Musterbeispiel für Demokratie. Rai war so etwas wie eine Protestkultur, der Pop und arabische Tradition kombinierte und sehr gesellschaftskritische Texte hatte.

Man kann da nicht vergleichen. Vergessen Sie nicht, dass Rai erst in Frankreich richtig populär wurde, wo rund sechs Millionen Marokkaner und Algerier leben.

Ist Ihnen auch schon einmal islamischer Pop untergekommen? Ich habe einige CDs aus den USA und aus Großbritannien, die im Rap-Stil die Vorzüge des Islam preisen. Die Rapper nennen sich zum Beispiel »Soldiers of Islam«.

Nein, bisher noch nicht. Hier wird jeder Song verboten, der etwas mit dem Koran zu tun hat. Ausgenommen sind Produktionen für religiöse oder wohltätige Zwecke. Da gab es mal etwas aus Pakistan, das wurde ein Hit, hatte aber einen guten Zweck. Die Kombination von Pop und Koran ist ansonsten grundsätzlich verboten. Hier gibt es nicht diese Freiheit, dass man über Religion, insbesondere den Islam, sagen kann, was man möchte. Das ist nicht so wie in Europa, wo man machen kann, was man will.

Wenn man in Beirut nachts ausgeht, spiegelt sich in den Bars und Clubs der große Publikumsgeschmack wider. Entweder hört man arabischen Pop oder westliche Hitparade, man hat das Gefühl, als sei alles ein und derselbe Einheitsbrei. Ist das in anderen Großstädten der arabischen Länder auch so?

In Dubai ist das ganz anders, was wohl daran liegt, dass man dort auf europäischen Stil besonderen Wert legt. Das ist fast wie in England. Es ist cool, dort auszugehen. Musikalisch ist dort alles geboten, was man sich nur vorstellen kann. Aber das ist typisch für Dubai, ein Platz der Superlative. Dort kann man jetzt auch Skifahren. Sie sind immer auf der Suche nach dem Unmöglichen. Irgendwann werden sie den Mond vom Himmel holen.

Wie wird es Ihrer Meinung nach musikalisch weitergehen?

Es kann nur besser werden. Wir brauchen politische Veränderungen, einfach mehr Freiheit, das zu sagen, was man möchte. Nicht für den Mainstream, der funktioniert auch ohne. Aber für kreative Musik und natürlich für politische Künstler brauchen wir radikale Veränderungen. Keine Angst, dass man in zwei Monaten abgeholt wird.

interview: alfred hackensberger