Das Imperium der Schlange

War das 20. Jahrhundert deleuzianisch? Ein Gespräch mit dem Philosophen olaf sanders anlässlich des zehnten Todestages von Gilles Deleuze

Deleuzes Denken gilt als schwer zugänglich und dicht; zugleich sind viele seiner Begriffe zu Schlagwörtern geworden, die teilweise inflationär Diskurse zu bestimmen scheinen: das Nomadische, die Rhizome, die Kontrollgesellschaft, die Kraftlinien, die Differenz, die kleine Literatur und so weiter. Deleuze scheint sich bewusst in dieser Ambivalenz von einerseits Unzugänglichkeit und andererseits zur Assoziation einladender Sprache zu bewegen. Ist das nicht schon die Bewegung der Schlange, mit der Deleuze einmal das aktuelle Denken in Abgrenzung zum Marxschen Maulwurf der Geschichte bezeichnet hat?

Wenn man über die Rezeption von Deleuze spricht, dann stellt sich rasch heraus, dass er mehrere war, wie er und Guattari gleich zu Beginn von »Tausend Plateaus« – für sich beide übrigens – feststellen. Da gibt es einen Deleuze, der beispielsweise für »Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie« fachphilosophische Anerkennung findet, mit »Differenz und Wiederholung« aber bis vor kurzem kaum wahrgenommen wurde.

Deleuzes eigenständiger Versuch »auf dem vordersten Posten seines eigenen Wissens« zu schreiben, strengt an. Ganz anders wirken die Koproduktionen mit Guattari. Die »Tausend Plateaus« laden zum Stöbern und Weiterdenken ein. Die meisten der genannten Begriffe prägen sie dort. Leider ist die deutsche Übersetzung sehr fehlerhaft. Mit der tollen, übrigens von »Testcard #3« zitierten Umschlaggestaltung sind wir bei einem vor allem für die Poplinke bedeutsamen Deleuze, auch bei einem kaum gelesenen Deleuze. Hier spielen kurze Texte eine Rolle: Das sind vor allem »Rhizom«, die Vorfassung der Einleitung in die »Tausend Plateaus«, und das »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« aus den »Unterhandlungen«, die beide große Interpretationsspielräume eröffnen, weil es sich um eher programmatische Texte handelt. Aus »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« stammt auch das Bild von Schlange und Maulwurf. Verständlich wird dieses Bild erst im Kontext der in der »Abhandlung über Nomadologie«, 12. Plateau, entfalteten Differenz des glatten und des gekerbten Raums. Die Schlange schafft den Raum ihrer Bewegung erst durch die Bewegung, mit der er auch wieder vergeht. Dieser Raum entspricht dem nomadischen Raum, dem Deleuze und Guattari den Staat entgegenstellen, den der Maulwurf zwar unterwandern kann, allerdings nur innerhalb derselben Raumordnung, innerhalb derselben Spielregeln. Mit anderen Worten: Ein Maulwurf spielt weiterhin Schach, eine Schlange hingegen das komplexere Go.

Bleiben wir noch eine Weile bei »Schlange gegen Maulwurf«. Die Bewegung der Schlange ist ja nicht bloß formal, sondern verrät einiges über den Inhalt und Ansatz von Deleuzes Denken. Der Maulwurf gräbt sich durch die Tiefen der Entzweiung: Subjekt – Objekt, Wesen – Erscheinung, Dialektik; er wühlt sich blind durch die Geschichte, zerstört die Oberfläche, arbeitet in einem labyrinthischen Tunnelsystem: Das ist die Moderne. Die Schlange hingegen, teuflisch wie in der »Genesis«, verführt, bewegt sich, schwer zu fassen, auf der Oberfläche, in Wellen; sie ist elegant, aber gefährlich; sie verschlingt den Gegner – den Maulwurf vielleicht – in einem Stück: die Postmoderne. In diesem Bild finden sich die Grundmotive der Philosophie von Deleuze, die dieser bereits 1968 in seinem Hauptwerk »Differenz und Wiederholung« entfaltet hat.

Deleuze versucht mit seiner Philosophie Weichen, die vor sehr langer Zeit in einflussreichen Schriften gestellt wurden, umzustellen. Nur zwei Beispiele: Im »Timaios« lässt Platon Timaios sagen, dass das Werdende nicht wie das Seiende mit Vernunft durch Denken zu erfassen sei, sondern nur durch vernunftlose Sinneswahrnehmung vorstellbar. So kickt er das Werden ins philosophische Abseits. Als zweites Beispiel eignet sich eine Bibelpassage: Markus schildert die »Heilung des besessenen Geraseners«. Auf Jesus’ Frage nach seinem Namen antwortet er: »Legion heiße ich; denn wir sind viele.« Jesus erlaubt den »unsauberen Geistern« – was sollen die Vielen auch anderes sein? – schließlich in 2 000 Säue zu fahren, die sich einen Abhang hinab ins Meer stürzen und ertrinken. Du sollst eins sein, identisch und identifizierbar.

Dagegen schreiben Deleuze und Guattari in »Tausend Plateaus« an: Vervielfältige dich und werde anders. In diesem und in Spinozas Sinn handelt es sich also um eine Ethik: Man darf es sich mit der Erkenntnis nicht zu leicht machen. »Differenz und Wiederholung« verhält sich zu »Tausend Plateaus« – und das sind meines Erachtens Deleuzes wichtigste Bücher – wie die Kritik zur Doktrin bei Kant: In »Differenz und Wiederholung« arbeitet Deleuze an Begriffsblockierungen, die das Denken repräsentational werden lassen und still stellen. Dagegen setzt er eine Philosophie der Zeit, die Überlegungen Humes, Bergsons und Nietzsches eigensinnig verdichtet und sich der Verräumlichung nicht nur in ihren einfachsten Formen als Pfeil oder Dimension sperrt. Schon in der Einleitung zu »Differenz und Wiederholung« unterscheidet Deleuze »die metrische und die rhythmische Wiederholung« und kennzeichnet jene als »Erscheinung und abstrakte Wirkung« dieser.

Von dieser Unterscheidung lebt noch das 11. Plateau »1837 – Zum Ritornell«. Dort charakterisieren Deleuze und Guattari den Rhythmus als das Ungleiche. Der Rhythmus sei kritisch, das Maß dogmatisch. »Tausend Plateaus« sind maßlos. Das Neue kommt uns aus der Zukunft zu – und zwar als »Anomal«. Die Möglichkeitsbedingungen von Abweichungen untersucht Deleuze in »Differenz und Wiederholung«.

»Differenz und Wiederholung« ist auch ein Buch über Hegel, wobei Hegelianer damit wenig anfangen können. Deleuzes Kritik an Hegel, an der bisherigen Philosophie, die ja mit Hegel zum Ende kommt, erscheint ziemlich verworren, wenn nicht falsch, gerade weil ohne jeden Geschichtsbezug Hegel, Leibniz, Heidegger, Kierkegaard, Nietzsche durcheinander die Bühne betreten, um sich gegenseitig auszuschalten.

Dass Deleuze Anti-Hegelianer sei, geistert vor allem durch die anglo-amerikanische Rezeption. Mir fällt dazu immer Foucaults Warnung aus »Die Ordnung des Diskurses« ein, dass man wissen müsse, wieweit Hegel einem insgeheim nachgeschlichen sei. Die Wendung »anti-hegelianisch« verrät: ziemlich weit. Deleuze hingegen wirkt ziemlich wenig anti-irgendwas. Vielleicht entgeht die Affirmation den Fallstricken einer Logik, die als Logik der doppelten Negation noch immer auf den drei Grundsätzen der Identität, der Negation und des ausgeschlossenen Dritten basiert. Das ausgeschlossene Dritte zieht bei Deleuze und Guattari Fluchtlinien.

In einer grandiosen Besprechung von »Differenz und Wiederholung« prognostizierte Michel Foucault, dass das Jahrhundert eines Tages »deleuzianisch« sein werde; ist damit das 20. Jahrhundert im Rückblick gemeint, also werden wir irgendwann das 20. Jahrhundert mit Deleuzes Theorie verstehen, oder werden wir eine von Deleuze inspirierte Praxis entwickeln und das 21. Jahrhundert damit deleuzianisch machen?

Deleuze selbst hat Foucaults Bemerkung zu einem Scherz erklärt, der Leute, die ihn und Foucault mögen, zum Lachen und andere auf die Palme bringen solle. Daher lässt sich das 20. Jahrhundert mit Hilfe der Begriffe, die Deleuze während seines philosophischen Lebens erfunden und entfaltet hat, besser verstehen – schon, weil sie neue Lesarten eröffnen. Eine deleuzianische Praxis kann ich mir insofern schlecht vorstellen, weil Theorie und Praxis eben zu jenen Dichotomien zählen, die die dicken Äste des Denkbaumes bilden, den Deleuze und Guattari durch Rhizome – das sind mannigfaltige Gefüge und keine Strukturen binärer Logik – ersetzen wollen. Insofern wird Foucaults Prognose wohl auch in Bezug auf das 21. Jahrhundert ein kleiner Witz bleiben.

Seit Mitte der Neunziger hat sich eine regelrechte Deleuze-Mode entwickelt und zwar innerhalb der Linken bzw. im Zuge der Etablierung der so genannten Poplinken. »Rhizomatik = Popanalyse« heißt es in »Tausend Plateaus«; mit Deleuze wurde die Kritik von der politischen Ökonomie auf die Kultur umgeleitet. Die kritische Theorie, der historische Materialismus und die Dialektik wurden durch zahlreiche schillernde Begriffe aus dem Theorieuniversum von Deleuze, Guattari und Foucault vollständig ersetzt. Man könnte sagen, die Linke ist deleuzianisch geworden – und ich möchte bezweifeln, dass sie dadurch ihre Radikalität bewahrt hat.

Vollständige Ersetzung kritischen Vokabulars durch deleuzianisches kann es nicht geben, weil Deleuzes Begriffe selbst kritisch sind – und zwar nicht nur in dem kantischen Verständnis. Seine Philosophie ist materialistisch. Bewusstsein erscheint als andere Seite des Materiestroms. Die beiden Seiten gehen allerdings wie auf einem Möbius-Band ineinander über. Außen ist eine Falte. Was Radikalität in diesem Zusammenhang noch bedeuten soll, weiß ich nicht; vielleicht Konnexionen, die Produktion von Mannigfaltigkeiten oder Minoritär-Werden. Diese Begriffe greifen in Ökonomien ein. In die Lücke seines nachgelassenen Marx-Buches haben sich Michael Hardt und Toni Negri eingeschrieben. Beide sind exzellente Kenner der Arbeiten Deleuzes. Dass sie seine Philosophie in »Empire« und »Multitude« – zwei ansonsten anregungsreiche Bücher – bisweilen bis zur Unkenntlichkeit übervereinfachen, verstehe ich deshalb umso weniger.

Mit Toni Negri teilt Gilles Deleuze die Vorliebe für das Barocke, insbesondere Spinoza, Leibniz, Hume. Beide konnten sich für die barocke Idee der Kraft begeistern. Im »Anti-Ödipus« haben Deleuze und Guattari diese für den Barock typische Verbindung von Leben und Mechanik hervorgehoben und den Menschen eine lachende Maschine genannt. Damit wenden sie sich gegen die moderne Pädagogisierung, nämlich Ödipalisierung des Kindes.

Zizek hält den »Anti-Ödipus« für den letzten großen Versuch, marxistische und psychoanalytische Theorie subversiv miteinander zu verbinden und – ein oder zwei Bücher später – für Deleuzes schlechtestes Buch. Dem kann ich mich nur anschließen, sicher ist es sein zeitgebundenstes Buch. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive interessanter sind die beiden Pädagogiken , die Deleuze in »Das Zeit-Bild« und gemeinsam mit Guattari in »Was ist Philosophie?« entwickelt. Sie können helfen, Bildungsprozesse als Prozesse zu begreifen, statt als immer an anderem Ort unbewegliche Pfeile, wie in Zenons bekanntem Paradox. Die Kino-Bücher enthalten eine Pädagogik der Wahrnehmung, die die zerfallene Enzyklopädie der Welt ersetzt und einer professionellen Bildung des Auges für die Kontrollgesellschaft Widerstand leisten soll. Der Kinofilm erprobt und erforscht gewagte Formen singulären Denkens. Die Pädagogik des Begriffs kämpft gegen das Marketing, das Kritik durch Promotion zu ersetzen droht.

Die philosophische und politische Kritik von Deleuze läuft hier meines Erachtens auf eine Zurückweisung des Subjekts hinaus. Das Subjekt – und ich halte das im Sinne der kritischen Theorie für einen der radikalsten Konzepte der Neuzeit – wird bei Deleuze verabschiedet, annulliert. Ich halte das philosophisch für verkehrt, politisch sogar für gefährlich und zynisch.

Das Subjekt spielt keine entscheidende Rolle für Deleuze, weil für Subjekt und Objekt dasselbe gilt wie für Theorie und Praxis. In »Tausend Plateaus« ist von larvenhaften Subjekten die Rede. Larvenhaft heißt im Werden. Auch hier geht es wieder um Vervielfältigungen und nicht um Vereinheitlichungen. Deleuze und Guattaris Kritik an der Psychoanalyse lässt sich am Beispiel der Heilung des Geraseners verdeutlichen. In gewisser Hinsicht nehmen sie Freuds und Lacans Beschreibungen des Unbewussten als einer kollektiven Produktionsmaschine ernst, so dass sie den Imperativ aus Freuds 31. Vorlesung umkehren: Wo Ich war, soll Es werden: Legion.

Was ich meine ist, dass in dieser Theorie der planmäßige und systematische Massenmord, Auschwitz, nicht vorkommt. Und wenn doch, dann in einer verharmlosenden und ungenauen Abstraktifizierung, etwa in Agambens Position, dass die gegenwärtige Welt vom Lager bestimmt sei, oder im Rückfall auf kruden Befreiungsnationalismus, etwa in der blinden Verteidigung des palästinensischen Widerstands, die sich bei Deleuze, aber auch bei Hardt und Negri findet.

Deleuze formuliert – anders als Adorno – zwar keine Sätze wie: »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.« Seine Filmpädagogik beginnt aber interessanter Weise mit Rossellini und dem italienischen Neorealismus als »absolut unerlässliche Grundschule«, also auch Filmen wie »Roma« oder »Germania anno zero«, die Widerstand gegen die Nazis oder die Folgen von Krieg und Massenvernichtung thematisieren und das Zerreißen des sensomotorischen Bandes, was erst nötigt, anders sehen, hören und lesen zu lernen. Hinsichtlich der Zurückweisung des Führerprizips sind Deleuze und Guattari antifaschistisch. Ihre Formel dafür lautet n–1. Für gute Marxisten folgt daraus, dass Sie auch antikapitalistisch wirken. Schließlich geht es ihnen um die Befreiung der Produktion und des Lebens, auch des Lebens von Dämonen und Säuen.

Relativ spät führt Deleuze den Begriff der Kontrollgesellschaft ein; die Kontrollgesellschaften lösen Mitte des 20. Jahrhunderts die Disziplinargesellschaften ab, die Foucault beschrieben hat. Deleuze beschreibt hier den Menschen, der sich permanent selbst erziehen muss, immer im Sinne der freiwilligen Selbstkontrolle lernen muss.

Ganz am Ende des kurzen Textes über die Kontrollgesellschaft beschreibt Deleuze junge Menschen, die motiviert werden wollen, aus- und permanent weitergebildet. Solche jungen Menschen begegnen uns tagtäglich in Universitäten, die sich – wie Deleuze bemerkt – Unternehmen annähern wie in der Disziplinargesellschaft zuvor Schule und Fabrik. Viel Neues bietet der Text nicht. Die Verinnerlichung der Disziplin, ihre Ablösung von Architekturen – das findet sich alles schon bei Foucault.

Deleuze schließt hier an Foucault an, aber nachdem beide nicht mehr in Kontakt zueinander standen. Bezeichnender Weise ging es um unterschiedliche Einschätzungen terroristischer Gruppen Ende der Siebziger. Foucault entwickelt seinen Ansatz der Disziplinarität selbst weiter zu einer Theorie des Regierens, der Gouvernementalität.

Deleuze war – anders als Foucault – Philosophieprofessor und ist es auch geblieben. Er begann mit der Arbeit am Begriff und endete damit. In über vier Jahrzehnten hat er Spuren gelegt für eine Philosophiegeschichte abseits des Mainstreams. Er macht Lust zu lesen, seine Bücher und die, an denen er sich womöglich manchmal auch produktiv verlesen hat: Seine Begriffspersonen, die Stoiker, Lukrez, Spinoza, Leibniz, Hume, Kant – verkehrt –, Salomon Maimon, der frühe Marx, Kierkegaard, Gabriel de Tarde, Nietzsche, Bergson, Peirce, Foucault geraten in Bewegung und reiben sich mit der Nicht-Philosophie, mit ästhetischen Figuren, Filmen, Bildern, Musiken, Politiken und und und.

interview: roger behrens